Was real geschah, war freilich etwas ganz anderes. Zwar wurde die alte volkskirchliche und rein kirchenrechtlich definierte Territorialpfarrei mit gemeindetheologischen Kategorien aufgeladen, andererseits kam es ganz gegenläufig zu einem realen Funktionsverlust der Gemeinden im Zuge der pastoralen Professionalisierungs- und Ausdifferenzierungsprozesse der 1970er und 1980er Jahre.
Die Gemeindetheologie der 1960er Jahre zeigt sich als Versuch, in Zeiten der beginnenden Freisetzung zu religiöser Selbstbestimmung auch von Katholikinnen und Katholiken die katholische Kirche von einer amtszentrierten Heilsinstitution zu einer quasi-familiären Lebensgemeinschaft umzuformatieren. Durch Aufbau, Ausbau und theologische Unterfütterung einer spezifischen Sozialform von Kirche sollten die freiheitsbedingten Erosionsprozesse kirchlicher Konstitution gestoppt werden.
Das offenkundige Scheitern dieser Konzeption318 wird gegenwärtig vor allem im Zusammenhang mit der Bildung immer größerer pastoraler Räume diskutiert. Es stimmt ja tatsächlich: Alle aktuellen pastoralplanerischen Initiativen lösen das klassische „Normalbild“ einer um den Pfarrpriester gescharten, überschaubaren, lokal umschriebenen, kommunikativ verdichteten Glaubens- und Lebensgemeinschaft auf.
Unter den gegenwärtigen kirchenrechtlichen Bedingungen können die Pastoralämter gar nicht anders. Denn wenn man immer weniger zur Leitung privilegiertes Personal in einer hierarchischen Organisation hat, dann muss man es logischerweise auf einer höheren Organisationsebene ansiedeln. Wie man dann diese Ebene nennt, das ist demgegenüber relativ gleichgültig. Wichtiger scheint schon, wie man die Beziehung dieser ersten priesterlichen Ebene zur zunehmend entklerikalisierten und zudem zunehmend von professionell ausgebildeten pastoralen Laien dominierten Basis dann organisiert und konzipiert. In diesem Kontext wird ja dann auch der c. 517 § 2 relevant.
Für die Kirchenleitungen ergibt sich daraus jenes „Gemeindeleitungsdilemma“, entweder die Zulassungsbedingungen zum Priesteramt unverändert zu lassen, dann aber den Umbau der gewohnten priesterlichen Rolle zu akzeptieren, oder aber die Zulassungsbedingungen zum Weihepriestertum zu ändern, was zwar wohl ermöglichen würde, die gegenwärtige pastorale Struktur aufrechtzuerhalten, aber natürlich ein massiver Wandel in der bisherigen Tradition und vor allem der Selbst- und Fremdwahrnehmung der katholischen Kirche wäre, ein Wandel, der vor allem in seinen sozialpsychologischen Konsequenzen nicht zu unterschätzen wäre. Wofür sich die Kirchenleitung gegenwärtig entscheidet, trotz vieler Appelle, doch die Zulassungsbedingungen zum Weihepriestertum zu ändern, etwa von pastoraltheologischen319 und systematisch-theologischen Kollegen,320 Gemeindemitgliedern,321 Priestern322 und sogar Bischöfen,323 ist offenkundig.
Die Zulassungsbedingungen zum Weihepriestertum werden der katholischen Kirche ohne Zweifel noch viele Probleme bereiten, zumindest dann, wenn sie Wert darauf legt, weiterhin in den Gesellschaften des Westens inkulturiert zu bleiben. Die Gemeindetheologie wäre aber auch ohne die Verknappung der Priesterzahlen gescheitert, zuletzt vor allem an ihrem Charakter als halbierte, ja selbstwidersprüchliche Modernisierung und auch schon an ihrer systemwidrigen Verbindung mit der eigentlich volkskirchlichen und gerade nicht Partizipationsintensität voraussetzenden Territorialstruktur.324
Die Gemeindetheologie steht in der neuzeitlichen Tradition katholischer Kirchenbildung: Sie denkt Kirche über eine spezifische Sozialform, also von ihrem institutionellen Pol her, nicht aber über pastorale Inhalte, also von ihrem Handlungs- und Aufgabenpol her. Dieser wird in ihr immer noch mit einer gewissen Selbstverständlichkeitsaura umgeben. Es hat gute Gründe, dass gerade zu den Hochzeiten der Gemeindetheologie die nicht-gemeindlichen, nicht-familiaristisch vergemeinschafteten Handlungssektoren der Kirche, also etwa Diakonie, Kategorialpastoral, so massiv ausgebaut wurden. Offenkundig war schon damals klar, dass der Slogan „Kirche ist Gemeinde“ schlicht nicht funktioniert und, würde man ihn konsequent realisieren, zu einer massiven Reichweitenbegrenzung kirchlichen Handelns führen würde. Wie stark diese im gemeindlichen Bereich ausfällt, das wurde spätestens seit der Sinus-Milieustudie und ihrem Befund der kirchlichen, genauer: gemeindlichen „Milieuverengung“ (Ebertz)325 deutlich.
In der Perspektive der bis vor kurzem gültigen gemeindetheologischen Ideale und im Rahmen des durch die Zulassungsbedingungen zum Weihepriestertum verursachten Gemeindeleitungsdilemmas erscheint der c. 517 § 2 nun aber als etwas verschämter Ausweg, die gemeindetheologischen Ideale aufrecht zu erhalten, ohne die Zulassungsbedingungen zum Weihepriestertum ändern zu müssen. In dieser Perspektive ist der c. 517 § 2, wie etwa Johannes Panhofer schreibt, „ ‚heilsamer Unsinn‘ “ als „Not- und Übergangslösung zu einer neuen Gestalt von Gemeinde“.326 Panhofer geht gar so weit, dem Kirchenrecht hier die „Rolle einer Geburtshelferin“ zuzugestehen, die es ermögliche, „in einem geregelten Rahmen etwas Neues (also Ungeregeltes) entstehen“327 zu lassen.
Nicht zu übersehen ist zudem, dass der c. 517 § 2 im gemeindlichen Bereich in reduzierter Form nachvollzieht, was an anderen pastoralen Orten, etwa der Caritas, dem Bildungsbereich oder selbst der Kategorialpastoral, schon seit längerem passiert ist: den Prozess der Entklerikalisierung, meist auch der Professionalisierung pastoraler Berufe in einer ressourcenreichen Ortskirche. Während dieser Prozess etwa im Schulbereich oder bei der Caritas relativ friktionsfrei lief, wachsen jetzt, bei der Gemeindeleitung, bei der letzten verbleibenden Bastion priesterlichen Berufsmonopols auf Basisebene, die Sorgen um die priesterliche Identiät, fürchtet man „Ersatzpfarrer“.328 Das dürfte, wenn nicht alles täuscht, auch der Hauptgrund sein, warum im deutschsprachigen Bereich die Experimente mit dem c. 517 § 2 seitens der Kirchenleitungen trotz zunehmenden Priestermangels zugunsten der Bildung größerer pastoraler Räume zurückgefahren wurden.
Dass alle Laien abwertenden Initiativen zur priesterlichen Identitätssicherung organisationspsychologisch eher fatal wirken, insofern sie eine höchst ambivalente Doppelbotschaft senden, sei hier nur am Rande vermerkt. Denn wer so gestärkt werden muss, wird als schwach identifizierbar. Überhaupt gilt ja: Wer Identitätsprobleme als zu lösende Anormalität behandelt, macht sie unter postmodernen, also fluiden Bedingungen unlösbar.
4 Die Gemeindeleitungsproblematik im Kontext der konziliaren Neudefinition von Kirche
Wie aber zeigt sich der c. 517 § 2 im Kontext der Ekklesiologie des II. Vatikanums? Nun gibt es Kirchenrechtler, die der Ansicht sind, „der CIC sei das letzte Buch des Konzils, vom Papst promulgiert und deshalb der hermeneutische Schlüssel zur Auslegung der Konzilstexte“329. Manche systematische Theologen wiederum sprechen von einer zwiespältigen Ekklesiologie des Konzils330 und es gibt auch Anstrengungen, unter dem grundsätzlich bedenkenswerten Stichwort einer „Hermeneutik der Kontinuität“ – schließlich knüpft das Konzil bekanntlich an biblische und patristische Traditionen an – dieses in seiner Eigenständigkeit zu minimieren, sein innovatives Potential zu schmälern331 und seinen „dogmatischen Fortschritt“332 zu leugnen.
Demgegenüber möchte ich meine Position hier klar markieren: Sie geht von der Priorität des Konzils vor dem Kirchenrecht, von der grundsätzlichen Konsistenz und Einheit seiner Ekklesiologie und von der Eigenständigkeit, dem innovativen Potential und dem dogmatischen Fortschritt seiner Positionen aus.
All dies betrifft unsere Fragestellung unmittelbar. Denn das Konzil etabliert in zentralen Bereichen unserer Fragestellung neue Zuordnungen. Ich möchte sie als dreifachen Horizontwechsel beschreiben. Diese Wechsel betreffen die Stellung der Kirche in der Welt, die Stellung des Priesters in der Kirche und die Stellung der Kirche zu ihrem Handeln.
Hinsichtlich der Stellung der Kirche in der Welt gilt: Die katholische Kirche definiert sich auf dem II. Vatikanum nicht mehr im Horizont der feindlichen Welt, sondern die Welt im Horizont des universalen kirchlichen Heilsauftrags. Sehr schön zugespitzt findet sich das in Gaudium et spes 44, wo es heißt: „Ja selbst die Feindschaft ihrer Gegner und Verfolger, so gesteht die Kirche, war für sie sehr nützlich und wird