An neuen Orten. Rainer Bucher. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rainer Bucher
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783429061623
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es ist auch ziemlich irrelevant. Sie wird vielmehr gefragt, wie sie sich darin bewährt, oder besser und genauer: wie sie in dieser Situation das Evangelium in Wort und Tat präsentiert. Denn dafür ist sie da – und nicht umgekehrt das Evangelium für sie oder gar für eine ihrer sicherlich spannendsten und wichtigsten Sozialformen, die Gemeinde.

       3 Pastoral: Die „Summe und Pointe der Kirche“

      Es ist nicht selbstverständlich, wozu es Kirche gibt. Sonst müsste man es nicht immer wieder neu definieren. Das letzte Konzil hat es wieder getan, mit eindringlichen Formulierungen. Für das Konzil ist die Kirche „das Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit“ (Lumen gentium 1) und darin ein „allumfassende(s) Sakrament des Heiles, welches das Geheimnis der Liebe Gottes zu den Menschen zugleich offenbart und verwirklicht“ (Gaudium et spes 45).

      Diese Bindung der Kirche an ihre sakramentale Sendung dezentriert Kirche aus dem Sog ihrer institutionellen Selbsterhaltung und verweist sie auf ihre existenzlegitimierende Aufgabe: die Verkündigung des Evangeliums in Wort und Tat. Der quasi immanenten Häresie einer jeden religiösen Institution, der Selbstverwechslung mit dem, dem sie zu dienen hat, wird hier zielgerichtet ein aufgabenbezogenes Verständnis von Kirche entgegengesetzt. Kirche hat die Zusage, das Evangelium, also das Geheimnis der Liebe Gottes zu den Menschen authentisch zu verkündigen, sie hat aber auch diese Aufgabe tatsächlich zu verwirklichen.

      Pastoral ist nun aber genau das, was geschieht, wenn die Kirche ihre Aufgabe wirklich in Angriff nimmt, das Geheimnis der Liebe Gottes zu den Menschen zugleich zu offenbaren und zu verwirklichen. Pastoral genau so und nicht enger, weder nur als (Individual-)Seelsorge noch gar als rein priesterliches Tun, definiert zu haben ist einer der (vielen) Fortschritte des II. Vatikanischen Konzils und eines seiner großen Verdienste. Das Evangelium dieser Welt zu erschließen, indem sie es von den Menschen dieser Welt her entdeckt, dieses Entdeckungsgeschehen ist der Kern der Pastoral und das Kerngeschäft der Kirche. Alle Sozialformen in der Kirche sind dazu da. Die Kirche ist damit aber vor allem eines: Pastoralgemeinschaft.262

      Nicht die Gemeinde ist also die Summe und Pointe der Pastoral, und selbst die Kirche ist es nicht. Sondern die Pastoral ist die Summe und Pointe aller kirchlicher Sozialformen, auch der Gemeinde. Wer das umdreht, mit welchen guten Absichten auch immer, begibt sich auf den schiefen Weg des Institutionalismus und nimmt zugleich der Kirche den institutionellen Möglichkeitssinn, den sie heute so dringend braucht. Er arbeitet an der Rettung des Alten, wo es doch um die Möglichkeitsbedingungen von Pastoral heute ginge.

       4 Das Territorialprinzip und die Liturgie: Wo die Pfarrei Gott präsentiert

      Was bleibt dann aber der Pfarrei? Potentiell: alle Pastoral, die sie tun kann und gut tun kann. Also alles, was jenen Männern und Frauen, die sich in ihr versammeln, an Erschließung des Evangeliums aus dem Leben und des Lebens aus dem Evangelium möglich ist. Das kann an verschiedenen Orten ganz Verschiedenes sein – aber die Gläubigen vor Ort müssen es auch wirklich können. Dies könnte man die potentielle charismatische Omnipotenz der Gemeinde nennen: Was ihr geschenkt ist, soll sie verwirklichen – und auch verwirklichen dürfen. Aber was ihr nicht geschenkt ist, soll sie nicht machen müssen – mit zwei Ausnahmen, und beide sind gnadentheologisch begründet: Liturgie und Territorialpräsenz.

      Soziologisch gesehen ist die Liturgie enorm pluralitätsfähig. Gerade als relativ normiertes und auch formalisiertes Geschehen, bei dem der individuelle Partizipationsgrad zwischen tiefster Teilhabe und diffuser „Abwesenheit in der Anwesenheit“ offen bleiben kann, hat die Liturgie die Chance, der zentrale Ort der Integration von Gemeinde im Angesicht Gottes zu werden. Damit ist aber auch schon der zweite, wichtigere Grund benannt: Die Liturgie ist der zentrale gnadentheologische Vollzug der Kirche, sie ist Ort der diskreten Öffnung der Menschen zueinander angesichts der unendlichen Offenheit Gottes für uns.

      Zum anderen aber muss sich die Pfarrei als Angebotsstruktur des Evangeliums in der Fläche bewähren. Wieder legt dies die Dopplung von soziologischen Eigenschaften und gnadentheologischem Auftrag nahe. Denn als Angebotsstruktur präsentiert das Territorialprinzip eine einfache, überschaubare Organisationsstruktur, die identifizierbare Orte und damit erreichbare Nähe für Erst- oder Dauerkontakte zur Botschaft des Evangeliums angibt.

      Theologisch kann das Territorialprinzip als ein Signal diakonischer Selbstanbietung der Kirche an und für alle verstanden werden. Es steht für die Ungeschuldetheit und Offenheit der Gnade Gottes an alle, wo immer sie leben und wer immer sie sind. Das Territorialprinzip zwingt die Kirche hinein in die Gesellschaft, zwingt Kirche, alle Menschen wahrzunehmen, sich mit ihren Sorgen und Nöten zu identifizieren, sie in sich aufzunehmen, ihnen gerecht zu werden. Das Territorialprinzip ist damit – ganz gegen den ersten Anschein – ein großer Anspruch.

       5 Und ansonsten: Vertrauen in den institutionellen Möglichkeitssinn des Volkes Gottes

      Das Neue ist in seinem Wesen Überraschung. Deswegen ist wenig von dem, was kommen wird, heute noch oder schon planbar. Die Statik der Unveränderlichkeit war das Signum des Selbstverständnisses vormoderner Zeiten, die Planbarkeit der Zukunft die Ideologie der klassischen Moderne. Die Gegenwart aber ahnt die Brüchigkeit aller Logik der Projekte: Die Zukunft wird nicht das sein, was wir heute planen. Was wir heute planen, wird die Zukunft bestimmen, natürlich, aber wie, das wissen wir nicht.

      In der katholischen Kirche scheint – gerade was ihre Basisorganisation betrifft – noch der Kampf zwischen den Statikern der Unveränderlichkeit und den Technokraten der Zukunft zu toben. Das macht es nicht eben einfach, Vorschläge, die auf der Basis der Unplanbarkeit der Zukunft oder – theologisch gesprochen – auf dem Gnadenwirken Gottes, dem Glaubenssinn des Volkes Gottes und der prophetischen Autorität seiner Hierarchie beruhen, vorzulegen. Solche Vorschläge wären:

       Die „Zeichen der Zeit“ erkennen: Das Ende der unterstellten Selbstverständlichkeit

      Pastoral entsteht aus der kreativen Konfrontation von Evangelium und Existenz. Es ist nicht selbstverständlich, dass wir den Sinn, und schon gar nicht, dass wir die Bedeutung des Evangeliums heute wirklich kennen. Dazu, sagt das Konzil (Gaudium et spes 4), ist zum Beispiel die Kenntnis der „Zeichen der Zeit“ notwendig, also die Wahrnehmung der Herausforderungen, die dem Evangelium heute gestellt sind. Diese Wahrnehmung ist daher das erste Thema der Pastoral und also auch der Pastoraltheologie. Mit ihr hat alle Pastoral zu beginnen – nicht mit der Apologetik von kirchlichen Sozialformen.

       Pastorale Prozessorientierung statt Sozialformorientierung

      Natürlich braucht pastorales Handeln Strukturen und stiftet Pastoral Gemeinschaft. Aber das sachlich Primäre ist der pastorale Prozess und er ist es gegenwärtig immer mehr auch zeitlich. Pastorale Erfahrungen stiften Gemeinschaft und geben ihr Dauer und Stabilität, ohne sie verdunsten kirchliche Gemeinschaften oder sklerotisieren sich in Autoritarismus und Bürokratismus. Pastoral und Pastoraltheologie sollten sich Orten gelingender pastoraler Prozesse, ihren Bedingungen und Möglichkeiten mehr widmen als der Rettung alter pastoraler Orte. Sie sollten schauen, was warum an Pastoral wo gelingt, und das analysieren und weitergeben. Das wäre die notwendige „materiale Wende“ in der katholischen Pastoral(-theologie).

       Tendenzielle Aufhebung der Trennung von Pfarr- und Kategorialpastoral

      Die alte Trennung von Pfarr- und Kategorialpastoral scheint immer weniger funktional zu sein für die Organisation pastoraler Prozesse.263 Sie separiert, was gerade in seiner Differenzierung sich wahrnehmen, kennen und bereichern müsste. Daher scheint eine differenzierte Struktur „dichter pastoraler Orte“ das Naheliegendste zu sein: ausstrahlungsstarke, erkennbare, niederschwellige Orte pastoraler Intensität, zu denen man kommen, zu denen man hin verwiesen werden, von denen man aber auch wieder gehen kann. Das einschlägige Stichwort heißt bekanntlich