An neuen Orten. Rainer Bucher. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rainer Bucher
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783429061623
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Bildung von Pfarreien unter dem Leitbild der Pfarrfamilie“ entgegengewirkt werden. Daraus entstand etwa im Bistum Essen „die Option, im Umkreis von maximal 750 Metern immer wieder eine Kirche mit der entsprechenden Infrastruktur (Pfarrhaus, Kaplanei, Kindergarten, Pfarrheim, Jugendheim, Küsterwohnung) zu bauen.“203

      Der gemeindetheologische Diskurs knüpft zudem an die Tradition des genuin antiliberalen, demokratiekritischen „Organismusgedankens“ der Zwischenkriegszeit an,204 wie ihn etwa Romano Guardini innerkirchlich exemplarisch – und am reflektiertesten – vertreten hat und den man in der Maxime zusammenfassen kann: „Nicht mehr das subjektiv-individualistische Denken herrsche vor, sondern eine organisch geprägte Form, in der die Kirche als Gemeinschaft der Vielen entdeckt wird, geeint in Gott“205. Alois Baumgartner hat bereits in seiner 1977 erschienenen Studie zu den „Ideen und Strömungen um Sozialkatholizismus der Weimarer Republik“206 entsprechende Tendenzen unter dem Titel „Sehnsucht nach Gemeinschaft“ analysiert.

      Diese innerkirchliche „Sehnsucht nach Gemeinschaft“ war ihrerseits bereits die Konsequenz aus den (zumindest so gedeuteten) Defiziterfahrungen an religiöser Intensität und Konsequenz einer rein volkskirchlichen Formation von Kirche. Deren Charakteristikum war das als selbstverständlich empfundene Mit- und Zueinander der drei Größen kirchliche Sozialform, religiöses Sinnsystem und gesellschaftliche Wirklichkeit. Im katholischen Milieu der Pianischen Epoche gelang das zwar nur noch auf der geschmälerten Basis eines gesellschaftlichen Submilieus und also auf defensiv-triumphalistischer Basis, aber es gelang doch noch recht weitgehend.207 Spätestens mit der Perforierung dieses Milieus (für sensible Geister aber aben auch schon vorher) zerfiel diese Einheitsimagination von kirchlicher Sozialform, religiösem Sinnsystem und gesellschaftlicher Wirklichkeit.208

      Im gemeindetheologischen Konzept Klostermanns werden nun zwei dieser drei Parameter in ein erneuertes Nahverhältnis gebracht: die kirchliche Sozialform und das religiöse Sinnsystem. Die „Gemeindetheologie“ reintegriert beide subjekt- und (klein-) gruppenorientiert. Der grundlegende Wandel des Verhältnisses zur dritten Größe, der umgebenden gesellschaftlichen Realität, wurde dabei eher begrüßt. An die Stelle wechselseitiger Stützung traten der Gesamtgesellschaft gegenüber nun Kategorien wie „Kontrast“, „Eigenständigkeit“ und „Unabhängigkeit“. Oder noch einmal in den Worten Klostermanns: Im gemeindekirchlichen Konzept werde

      das volkskirchliche Denken überwunden; ein Denken, das zu falschen Identifizierungen von Kirche und Volk, Kirche und Staat, Kirche und Partei, Kirche und Klassen, Kirche und irgendwelchen Systemen anderer Ebenen neigt.209

      „Gemeindetheologie“, das zeigt sich als wirkmächtiger pastoraltheologischer Transformationsdiskurs, der in der Mitte der 1960er Jahre tatsächlich enorm praxisrelevant wurde. Er projektierte die Umformatierung der kirchlichen Basisstruktur hin zu „überschaubaren Gemeinschaften mündiger Christen“, wie es dann hieß. „Gemeinde“, das war konzipiert als Nachfolgestruktur der als anonym, bindungs- und entscheidungsschwach wahrgenommenen volkskirchlichen Pfarrstruktur. Man kann diesen Diskurs tatsächlich Gemeindetheologie nennen, denn eines seiner charakteristischen Merkmale war und ist bis heute die dezidiert theologische Selbstbegründung.210 Das unterschied ihn signifikant von dem bis dahin für Organisation und Legitimation kirchlicher Basisstrukturen primär zuständigen kirchenrechtlichen Diskurs. Ein weiteres Merkmal des gemeindetheologischen Diskurses und vielleicht Folge seiner theologieintensiven Begründung war es, zumindest konzeptionell alle kirchlichen Handlungsstrategien auf diesen Umbauprozess zu zentrieren. Es galt eben tatsächlich das „Prinzip Gemeinde“211, es galt die Maxime „Kirche als Gemeinde“212, um Klostermann-Titel aus den frühen 70er Jahren zu zitieren.

      Dieser Umformatierungsprozess hatte zugleich extensiven wie intensivierenden Charakter. Klostermann nennt als Ziel des Gemeindebildungsprozesses, „dass in (einer) Pfarrei möglichst viele Menschen eine möglichst genuine Gemeinde Jesu, des Christus, erleben können“, „dass die Pfarrei ein konkreter Ort wird, an dem möglichst vielen Pfarrangehörigen, aber auch anderen im Pfarrgebiet wohnenden Menschen die Glaubenserfahrungen Jesu weitervermittelt werden können.“ Dazu sollen „möglichst viele in christliche Gruppen und Gemeinden“213 eingebunden werden. Intensivierung und extensive Erfassung gleichzeitig also waren angezielt. Das Ergebnis sollte die „menschliche, brüderliche, offene und plurale Pfarrei“214 sein, so die Formulierung Klostermanns.

      Die Gemeindetheologie startet als Diskurs. Konzeptionell war dieser Diskurs zumindest im deutschsprachigen Raum bis vor kurzem praktisch alternativlos. Die Realität freilich war komplexer. Einerseits wurde tatsächlich die alte volkskirchliche und rein kirchenrechtlich definierte Territorialpfarrei mit gemeindetheologischen Kategorien aufgeladen. Um dem gemeindetheologischen Ideal näher zu kommen, wurden etwa die bereits von Klostermann geforderten „lebendigen Zellen“215 gegründet, also Familien-, Bibel- und andere religiöse Kreise als Orte verdichteter Kommunikation, möglichst auch verdichteter religiöser Kommunikation. Dazu wurden Pfarrheime gebaut, vor allem aber wurde eine neue Rhetorik und durchaus auch eine neue Wirklichkeit kommunikativer Gemeinsamkeit und Partnerschaft eingeübt. Gleichzeitig jedoch verlor die Gemeinde immer mehr ihrer realen Funktionen. Als nämlich die alte Pfarrerrolle im Professionalisierungsprozess der Pastoral in den 70er und 80er Jahren in ein Set von Hauptamtlichenberufen ausdifferenziert wurde, wanderten die sich professionalisierenden Handlungsfelder stets auch aus der Gemeinde aus, was zwar einen Differenzierungsfortschritt bedeutete, aber angesichts der unterkomplexen Gemeindetheologie ein reales, bis heute ungelöstes Integrationsproblem kirchlichen Handelns schuf,216 andererseits neo-integralistischen, klerikalistischen Reintegrationskonzeptionen zumindest partiell und vor allem in der Diskussion über „priesterliche Identität“ eine gewisse Schwungkraft verlieh.

       3 Die Ursprünge: Gemeindetheologie 1935

      Erfolgreich im Sinne realer, wenn auch ambivalenter Praxisrelevanz wurde die Gemeindetheologie im katholischen Bereich erst nach dem II. Vatikanischen Konzil, das übrigens selbst auf diesem Feld ausgesprochen zurückhaltend geblieben war, mit seiner Volk-Gottes-Theologie und seiner Betonung des gemeinsamen Priestertums aller Gläubigen aber zumindest partiell konvergent zu Intentionen der Gemeindetheologie ist. Die Ursprünge der Gemeindetheologie liegen aber auch im katholischen Bereich deutlich früher.

      In seinem 1979 erschienenen Buch „Wie wird unsere Pfarrei eine Gemeinde?“ hatte Ferdinand Klostermann die Bildung „lebendiger Zellen“ innerhalb der Pfarrei gefordert. Der Zusammenschluss dieser „lebendigen Zellen“ sollte dann die „Lebendige Gemeinde“ bilden. Diese Forderung findet sich praktisch wortgleich bereits in den „Richtlinien für die Katholische Aktion“, die der Wiener Kardinal Theodor Innitzer (1875-1955) 1934 ausgegeben hatte. Dort heißt es:

      Um die Gesamtheit der Gläubigen zu erreichen, soll in jeder Pfarre die Zellenarbeit durchgeführt werden. Sie besteht darin, daß in planmäßiger Auswahl der Laienapostel die ganze Pfarre durchorganisiert wird. Durch diese Laienapostel ergibt sich die lebendige Verbindung zu allen Familien und Gliedern der Pfarre. Die einzelnen Laienapostel, die den Kern einer Zelle bilden, sind durch ständige Schulung und Anregung in eifriger Tätigkeit zu erhalten.217

      Zeitlich befinden wir uns zu Beginn des Österreichischen Ständestaates.218 Das ist mehr als eine zeitliche Koinzidenz. Den Beteiligten ist der Zusammenhang durchaus bewusst. Der Wiener Prälat Dr. Karl Rudolf (1886-1964), erster Leiter des 1931 geschaffenen „Wiener Seelsorge-Instituts“, reflektiert im „Jahrbuch der katholischen Aktion Österreichs“ des Jahres 1935 ausdrücklich auf diese Zusammenhänge von staatlichen und kirchlichen Entwicklungen, innerhalb derer insbesondere die IV. Wiener Seelsorgertagung vom 2. bis 4. Januar 1935 eine zentrale Rolle gespielt hatte. Die von Dollfuß am 1. Mai verkündete neue Verfassung stelle, so Rudolf,

      den durchaus ernsten Versuch dar, mitten im Herzen des entchristlichten, um nicht zu sagen entgotteten Abendlandes auf der Grundlage der in der Enzyklika Quadragesimo anno gegebenen kirchlichen Lehrweisungen einen christlichen Staat, eine wesentlich christliche Volksgemeinschaft aufzubauen. Dieses … säkulare Wagnis kann nur gelingen, wenn