Trotz aller Unwahrscheinlichkeit des Strebens in der Praxis bleiben die Einsicht in den Konstruktcharakter der Geschichte, in Standortgebundenheit und Perspektivität der historischen Narration, die Anerkennung von Multiperspektivität und Vorläufigkeit, das Abwägen von Gütekriterien innerhalb einer argumentierenden Erzählung wichtige Ziele von Geschichtsunterricht und historischem Lernen über die gesamte Schulzeit hinweg. Die Suche nach dem single best narrative ist schon um dieser Prinzipien willen zu verwerfen. Das Set an gemäß Shemilt unermüdlich erhobenen und in empirischen Studien getesteten Forderungen – nicht aufhören zu denken, nachzufragen, zu zweifeln, wieder von vorn zu beginnen – behält jedoch (lediglich?) idealen bzw. regulativen, jedenfalls nicht realistischen Wert. Denn so funktioniert die Lebenswelt der jungen Lernenden einfach nicht, nicht die sie umgebende Geschichtskultur oder Vergangenheitspolitik – dies zu bezeugen, muss man derzeit nicht erst nach Polen oder Ungarn schauen – und, man sei ehrlich, schon gar nicht die Produktion von aktuell gültigem Wissen zum Beispiel auf Historikertagen. Auf eine zumindest auf den ersten Blick widersprüchliche Art schafft unsere angeblich so diverse Gegenwart nämlich eine Pflicht zu Zuordnung und Bekenntnis. Dabei geht es freilich nicht, wie noch zu Zeiten einer nationalapologetischen Geschichtsschreibung, um Einheitlichkeit, sondern um Eindeutigkeit: Ich wähle einen Standpunkt, wofür ich Gründe benennen soll und den zu verteidigen ich bereit bin. Die Position mag im Laufe der Zeit wechseln; sie muss jedoch, zum Beispiel, im Augenblick des Stimmzetteleinwurfs in der Wahlkabine, beim Einkauf von mithilfe von Kinderarbeit erstellten Kleidungsstücken oder wenn jemand in der U-Bahn fordert, bestimmte Fahrgäste sollten dahin zurückgehen, woher sie kommen, klar sein. Dies sind fürwahr sämtlich kompetenzbasierte Aktionen bzw. Reaktionen.
Bodo von Borries hat wiederholt darüber nachgedacht, was genau eigentlich das Aus der Lernzielorientierung zugunsten des neuen, noch gewaltiger scheinenden Kompetenzparadigmas bewirkt hat (von Borries, 2004). Gewiss war dafür die nicht zu kontrollierende Beliebigkeit der taxonomisch obersten Lernzielebenen ein Grund. Die umfassenden sogenannten Fern- und Richtziele waren einfach auf Dauer nicht konsensfähig zu formulieren. Sehr ähnlich hielt von Borries seit jeher »Geschichtsbewusstsein« für ein viel zu komplexes mentales Konstrukt, um es als Ganzes oder auch nur in seinen wesentlichen Teilen empirisch regelrecht zu erforschen. Es hat ein wenig gedauert, bis die Geschichtsdidaktik daraus den richtigen Schluss zog, dass es mithin vielversprechender sei, statt, einer typisch deutschen Tradition folgend, in die Blackbox des Bewusstseins schauen zu wollen, sich, sozusagen im Sinne eines amerikanischen Pragmatismus, auf das zu beziehen, was als Äußerung und Handeln tatsächlich beobachtbar und damit zu messen, wägen und beschreiben ist. In die Theorie von den Kompetenzen immerhin wurde dieser empirische Zugriff durch das Konstrukt der »Performanz« von vornherein eingebaut. Nur gibt es eben bisher nicht den geringsten Konsens darüber, was eigentlich einen geschichtsbewussten Menschen praktisch ausmacht, wodurch er als solcher handelnd in Erscheinung tritt. Durchaus vermag man einen umwelt- oder gesundheitsbewussten Zeitgenossen erkennen – aber was prägt das Bild eines Jugendlichen, der Geschichtsbewusstsein besitzt? Jeder Geschichtsdidaktiker und jede Geschichtsdidaktikerin dürfte hier recht eigene Vorstellungen besitzen: Ist damit die Nachhaltigkeit von memorierbarem und in sensiblen Momenten vorzeigbarem Wissen, die entwickelte Urteilskraft, die reflektierte Haltung gemeint? Die Fähigkeit, andere mit seinen Geschichten über die Vergangenheit von nötigen Handlungen in der Gegenwart zu überzeugen? Die Einsicht in die Sinnlosigkeit historischen Geschehens, die in Verzweiflung ebenso münden könnte wie in Wagemut, die Hyperkritik an unseren gesellschaftlichen Zuständen? Die Entscheidung für eine bestimmte politische Partei oder jedenfalls eine ganz bestimmte nicht? Das mutige Eintreten für Diskriminierte in der U-Bahn? Der Verzicht auf Konsum zugunsten der Agitation? Deswegen ganz logisch, aber eigentlich ein Jammer: Fünfzig Jahre danach lässt sich, nur zum Beispiel, nicht einmal (mehr) sagen, ob die soixante-huitards besonders geschichtsbewusst oder aber geschichtsvergessen waren.
2Reflexiv bleiben
Die deutsche Geschichtsdidaktik besitzt den Vorteil, dass sie von Anbeginn um ein Höchstmaß von Reflexivität bemüht war und dieses Ziel auch theoretisch zu begründen suchte. Dass alle Erkenntnis bedingt ist und die Welt nicht aus Essenziellem, sondern aus Kontingenzen besteht, ist Teil ihrer Predigt seit Langem. Konsequent gilt das für alle geschichtsdidaktische Forschung: Wo ein Design entwickelt, eine Forschungsfrage präpariert wird, ist ein anderer, möglicherweise gar gegenteiliger Entwurf nie fern. Dass trotzdem der Eindruck besteht, man arbeite gemeinsam am großen Ganzen, ist dann eine besondere Leistung der inneren Verbundenheit. Diese Art von staunenswerter Reflexivität gilt nota bene nicht für alle Fachkulturen. Insbesondere die Naturwissenschaften zieren sich noch, anzuerkennen, dass das in der Schule vermittelte biologische oder physikalische Grundwissen gerade so konstruiert, interessengeleitet und überhaupt menschengemacht ist wie jede Meistererzählung der Geschichte. Mitnichten ist etwa in den jeweiligen Fachlehrplänen verankert, dass die Fotografie im 19. Jahrhundert an der scheinbar so ungekünstelten Lichtbrechung der weißen und eben nicht der dunklen Menschenhaut entwickelt wurde oder dass, ebenfalls im 19. als dem Jahrhundert, das wie kein anderes zuvor dem Binären verfallen war – Mann und Frau, wir und ihr, Herrscher und Beherrschte –, die Klassifizierung und Benennung der Säugetiere, der Mammalia, ganz entscheidend einem volkspädagogischen Impetus geschuldet war, der da lautete: Frauen erfüllen ihre naturbedingte Pflicht nur, wenn sie Kinder bekommen und diese dann auch an ihren Brustwarzen, den mammae, säugen (und eben nicht mit der Flasche aufziehen oder in die Obhut von Kinderfrauen geben, um womöglich noch einer anderen, gar Erwerbstätigkeit nachzugehen).
Jedoch, dieser rigorose Konstruktivismus, an dem die Geschichtsdidaktik so hängt, wird ausgerechnet für die empirische Forschung im Fach wenigstens zuweilen durchaus gelockert. Oder eher andersherum: Durch die Hintertür schleichen sich more often than not die eigentlich gefürchteten Essenzialismen wieder ein. Denn für den Augenblick jeder Messung ist mindestens eine theoretische Vorannahme als gegeben zu setzen. Um ein klassisches Muster der Feldforschung heranzuziehen: Die Ausprägung eines Faktors X beim historischen Lernen (Bildungsnähe, Sprachvermögen, Interesse, Geschlecht) kann nur ge- und ermessen werden, wenn eine je und je definierte Existenz von »Bildung«, »Sprache«, »Interesse«, »Geschlecht« immer schon vorausgesetzt wird. Jede Entwicklung von Testinstrumenten, z. B. für kompetenzorientiertes historisches Lernen auf der einen und für die entsprechenden Qualitäten der Lehrprofession auf der anderen Seite, ist von der Anerkennung der Beobachtbarkeit und kontrollierten Beschreibbarkeit eben jener Performanzen abhängig. Reflexivität kann dieses Vor-Einverständnis der Forschung mit ihren eigenen Vorannahmen bewusst machen, schafft es aber nicht aus der Welt. Es bleibt dabei: Jede Erhebung von historischen Kenntnissen oder fachlichem Urteilsvermögen benötigt zunächst einen abgehärteten Begriff vom Wissen und reasoning in der Domäne der Geschichte. Jede Überprüfung der Funktionalität von Schulbüchern verfolgt ein vorgängiges Konzept von gutem Unterricht und so weiter und so fort. Als Bestimmungsziele der Erkenntnisgewinnung kennzeichnet solche underlying assumptions allerdings zweierlei: Sie sind akademisch wie gesellschaftlich regelmäßig (höchst) umstritten und wenigstens mit den Mitteln der Empirie selbst nicht aufzudecken oder gar zu kritisieren. Sie sind im Übrigen in hohem Maße historisch. Warum spricht heute alle Welt von Identität, auch historischer (und möchte diese beschreiben, mit Merkmalen versehen, morphologisch herleiten), und nicht mehr von Emanzipation oder Autonomie, wie in den 1970er- und 1980er-Jahren? Könnte Identität nicht einfach ein gigantisches Programm sein, um den Menschen am Wachsen zu hindern?
Ob fake news oder, fachlich gewendet, »Geschichtsklitterung«, ob gelingende Instruktion oder wirksamen Unterricht, ob historische Argumentation oder, ganz allgemein, historisches Denken – es gibt dies alles, und es wird darüber berichtet und geforscht. Aber es gibt es nur in dem Maße, wie wir mehrheitlich sagen, dass es es gibt, was wiederum bedingt, wie darüber geforscht und geschrieben wird. So bestätigte man sich um 1900 in vielerlei (meist medizinischen) Studien gegenseitig, dass Frauen zu politischem Denken nicht in der Lage seien (weshalb ihnen das Wahlrecht zu verwehren wäre), und in den bundesdeutschen 1960er-Jahren, dass »Ausländerkinder« mit Blick auf ihre »Eingliederung« (»Integration« war noch ein ziemlich unbekannter Fachbegriff) um Himmels Willen