2Wissenschaftstheoretische und methodische Überlegungen
Innerhalb der Sozialwissenschaften existieren unterschiedliche wissenschaftstheoretische Paradigmen, die Vorannahmen über die Erkennbarkeit der Erfahrungswirklichkeit beschreiben. Im quantitativen Paradigma wird davon ausgegangen, dass soziale Sachverhalte beschrieben, erklärt und verstanden werden können, indem Sachverhalte der Erfahrungswelt strukturiert und theoriebasiert erfasst und in ihren Relationen zueinander systematisch geprüft werden. Der Forschungsprozess verläuft in der Regel linear, beginnt mit Theoriearbeit und der Ableitung von Hypothesen, führt über standardisierte Erhebungsinstrumente zur Generierung numerischer Daten in möglichst repräsentativen Stichproben, die mittels statistischer Verfahren zum Zweck der Hypothesenprüfung analysiert werden. Im qualitativen Paradigma wird hingegen davon ausgegangen, dass ein bewusst wenig strukturiertes Vorgehen mithilfe nicht- oder teilstandardisierter Erhebungsverfahren anhand von Einzelfällen oder kleinen Stichproben durch interpretierende Methoden zur ganzheitlichen Erfassung des Untersuchungsgegenstandes führen kann und darauf aufbauend schrittweise neue Hypothesen und Theorien generiert werden können. In jüngerer Zeit zeichnet sich die Tendenz ab, die beiden Paradigmen nicht mehr so stark in einem Konkurrenzverhältnis, sondern eher in einem Ergänzungsverhältnis zueinander zu betrachten (Döring & Bortz, 2016, 9). Dies schlägt sich in Diskussionen um einen dritten Ansatz, den sogenannten Mixed-Methods-Ansatz (Kelle, 2008; Kuckartz, 2014), nieder. Dies ist etwa dann der Fall, wenn in Teilstudien qualitative oder quantitative Verfahren eingesetzt werden. Bereits diese kurzen Beschreibungen zeigen, dass die Funktion von Theorie im quantitativen und qualitativen Paradigma eine unterschiedliche ist.
Viele Forschungsarbeiten in der aktuellen geschichtsdidaktischen Forschung folgen dem qualitativen Paradigma, das in der Tradition der Geisteswissenschaften steht. Es zielt auf die verstehend-interpretative Rekonstruktion sozialer Phänomene in ihrem jeweiligen Kontext, wobei es vor allem auf Sichtweisen und Sinngebungen der Beteiligten ankommt. Unabhängig von methodischen Ausdifferenzierungen stehen im Forschungsprozess folgende Prinzipien im Vordergrund (vgl. Breuer, 2010, 37 f.; Kruse, 2013; Lamnek, 2010):
1.Alltags- bzw. lebensweltliche Phänomene, Probleme und Prozesse sowie deren Ausdruck in den Sichtweisen, Aushandlungs- und Präsentationsformen der involvierten Akteure stehen im Fokus des Forschungsinteresses.
2.Ganzheitliche und rekonstruktive Untersuchung lebensweltlicher Phänomene.
3.Reflektierte theoretische Offenheit zwecks Bildung neuer Theorien, im Bewusstsein, dass Erkenntnis immer auf apriorische Strukturen angewiesen ist.
4.Zirkularität und Flexibilität des Forschungsprozesses zwecks Annäherung an den Gegenstand.
5.Forschung als Kommunikation und Kooperation zwischen Forschenden und Beforschten; die Interaktion spielt im gesamten Forschungsprozess eine wichtige erkenntnisbezogene Rolle.
6.Selbstreflexion der Subjektivität und Perspektivität der Forschenden; die in (berufs-)biografischer und alltagsweltlicher Sozialisation erworbenen Kompetenzen der Forschenden fließen in bewusster Fokussierung und mit einer selbstreflexiven Haltung ein.
Hervorzuheben ist, dass im qualitativen Paradigma der Entdeckungszusammenhang, nicht der Begründungszusammenhang im Vordergrund steht. Die vielen wissenschaftstheoretischen Ansätze innerhalb der qualitativen Sozialforschung stimmen miteinander überein, dass es beim wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn vor allem um die Bildung neuer Hypothesen und Theorien geht. Die Denkfigur, die dabei zur Anwendung kommt, ist jene von »der Transzendenz des Besonderen/Empirischen hin zum Allgemeinen/Theoretischen« (Breuer, 2010, 39). Es geht demgemäß um Induktion, d. h., die Geschehensbeobachtung lässt Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vermuten, es könnte sich in einem nächsten und einem übernächsten Fall ebenso verhalten. Mit Breuer ist zu betonen, dass eine Wiederkehr von Konstellationen beobachteter Phänomene lediglich als Anstoß für eine »Regelhaftigkeitserwartung« verstanden werden kann, eine logischargumentativ untermauerte Begründung kommt auf diese Weise nicht zustande. Wird der Umgang mit Theorie betrachtet, so zeigt sich in der Forschungspraxis häufig das Bild, dass Forschende sich erstens der theoretischen Offenheit gewahr sind und zweitens die eigenen Forschungsergebnisse durchaus als theoriegenerierend verstehen. Jedoch kann in der anschließenden Weiterverarbeitung in der geschichtsdidaktischen Community nicht selten eine vorschnelle Transformation dieser Forschungsergebnisse hin zur Verallgemeinerung im Sinne von empirisch erhärteten Befunden beobachtet werden. So wurde beispielsweise das Ergebnis einer Fallanalyse, die beschrieb, wie eine Geschichtslehrperson in Abhängigkeit der eigenen beruflichen Sozialisation die Vermittlungsabsicht von Geschichtslehrmitteln – von akteursbezogener zu strukturgeschichtlicher Perspektive – unterlaufen kann (Sperisen & Schär, 2013), in Forschungsüberblicken als empirisches Faktum gehandelt. Und die Quellenarbeit im Geschichtsunterricht gilt seit der Arbeit von Spieß (2014) generell als »entwicklungsbedürftig«, was u. a. auch daran liegt, dass die schiere Menge von 41 videografierten Geschichtslektionen aus alltagstheoretischer Sicht Fakten schafft und die Ergebnisse zudem mit – mehr oder weniger empirisch erhärteten – Beobachtungen anderer Geschichtsdidaktikerinnen und -didaktiker einhergeht. Spieß selbst jedoch reflektiert die Limitationen seiner Studie, indem er auf die Struktur des Samples und die darin gefundene Homogenität hinweist (Spieß, 2014, 232), die einer methodisch kontrollierten Typenbildung und Generalisierung durch komparative Analysen (Bohnsack, Fritzsche & Wagner-Willi, 2015, 30) zuwiderlief. Dennoch vorgenommene Verallgemeinerungen erscheinen aus wissenschaftstheoretischer Sicht problematisch, wie im nachfolgenden Abschnitt zu zeigen ist.
Im quantitativen Paradigma, dessen wissenschaftstheoretische Grundlage der kritische Rationalismus (Popper) darstellt, wird davon ausgegangen, dass die durch den menschlichen Verstand (Ratio) formulierten Theorien den Startpunkt wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns darstellen. Theorien werden als Vermutungen über die Realität formuliert, können niemals zweifelsfrei bestätigt, aber durch die Ableitung einer empirisch überprüfbaren Hypothese und deren Konfrontation mit Daten widerlegt werden. Damit widerspricht der kritische Rationalismus den Annahmen des Empirismus bzw. Positivismus, dass im Zuge der Sammlung empirischer Daten durch Induktionsschluss gesicherte allgemeine Theorien abgeleitet und bestätigt werden können (Beispiel: Die allgemeine Aussage »Alle Schwäne sind weiß« kann mittels Nachweis eines einzigen nicht weißen Schwans eindeutig widerlegt werden). Der Erkenntnisgewinn besteht im quantitativen Paradigma also darin, »durch Falsifikation die ungültigen Theorien auszusondern« (Döring & Bortz, 2016, 37). Eine Theorie, die einen Falsifikationsversuch übersteht, gilt als vorläufig bestätigt, eine Theorie, die viele Falsifikationsversuche überstanden hat, wird als »bewährt« bezeichnet. Dabei gilt: Einzelergebnisse reichen für die Falsifikation einer Theorie nicht aus. Wenn Daten einer Theorie widersprechen, so kann dies sowohl an der Fehlerhaftigkeit der Theorie als auch an der Fehlerhaftigkeit der Daten oder der verwendeten Messinstrumente liegen. Demzufolge umfasst die Prüfung von Hypothesen immer auch eine kritische Betrachtung der Voraussetzungen der Datengewinnung sowie eine kritische Auseinandersetzung mit konkurrierenden Hypothesen und Theorien. Festzuhalten ist, dass die Theorien und daraus abgeleiteten Hypothesen nicht deterministisch (d. h. für jeden Einzelfall), sondern probabilistisch (d. h. für einen großen Teil der Fälle) gültig sind. In der Forschungspraxis arbeiten Studien oft mit einzelnen theoretischen Hypothesen bzw. Theoremen, die wissenschaftstheoretisch nicht den Stand einer vollwertigen Theorie haben, etwa weil sie kein in sich abgeschlossenes konsistentes Aussagensystem bilden, eine geringe kausale Erklärungskraft aufweisen oder einen sehr geringen empirischen Bewährungsgrad besitzen. Häufig wird in diesem Fall von einem theoretischen Modell, einem Theorierahmen