Die Entwicklung neuer Bildungsgänge und Organisationsformen ist jedoch keineswegs einfach. Das zeigen Versuche, den Fachkräftemangel mit Massnahmen im Bereich der beruflichen Grundbildung anzugehen, von denen wir zwei im Folgenden darstellen wollen. Da es sich um Reformen zur Ausbildung im Gesundheitsbereich und in der Informatik handelt, sind beide Beispiele auch relevant für die Herausforderungen in der beruflichen Grundbildung in Dienstleistungsberufen.
Reformen in der beruflichen Grundbildung zum Ausgleich struktureller Ungleichgewichte
Massnahmen im Bereich Informatik
Während die öffentliche Debatte um den Fachkräftemangel im MINT-Bereich erst seit Ende des letzten Jahrzehntes an Schwung gewonnen hat, ist die Debatte um den Mangel an ausgebildeten Informatikern ein gutes Jahrzehnt älter – und sie betraf und betrifft ganz zentral auch die Berufsbildung. Der Arbeitsmarkt für Informatiker begann in den 1990er-Jahren stark zu wachsen, doch mangels Tradition der Betriebslehre war das Angebot an Ausbildungsplätzen auf der Stufe der beruflichen Grundbildung ungenügend. Da der Mangel just in jenen Jahren offenkundig wurde, in denen der aufgrund der wirtschaftlichen Rezession der 1990er-Jahre entstandene Mangel an Ausbildungsplätzen an politischer Brisanz gewann, erschien es den Bundesbehörden wichtig, die im Zusammenhang mit der Umsetzung des Lehrstellenbeschlusses I vorhandenen Gelder zu einem Teil auch für die Förderung der Berufsausbildung von Informatikern einzusetzen (Gertsch & Gerlings, 2001, S. 23).
Die Entscheidungsträger erkannten als zentralen Grund für den Mangel an Ausbildungsplätzen sehr bald ein wesentliches Problem: Den Betrieben fehlte es an Zeit, den Lernenden berufspraktische Grundfertigkeiten zu vermitteln, mit denen diese sich etwa an einfacheren Programmiertätigkeiten beteiligen könnten. Vor diesem Hintergrund lancierte das BBT das Projekt «Modellversuche Basislehrjahr Informatik», das an sieben Orten der Schweiz implementiert wurde. Ziel war es, durch ein praktisch orientiertes, jedoch vergleichsweise stärker schulisch organisiertes Grundjahr Lernenden innerhalb eines Jahres berufliche Grundfertigkeiten zu vermitteln, mit denen sie während der übrigen Jahre der beruflichen Grundbildung leichter in die Arbeitsprozesse der Betriebe eingebunden werden konnten. Eine Evaluation des Modellversuchs legte nahe, dass das neue Ausbildungsmodell Anklang fand: Die Betriebe – so zeigte die Studie – waren zwar der Meinung, dass die Lernenden nach einem Jahr zwar noch über wenig praktische Erfahrung verfügten, doch bestätigten 90 Prozent der befragten Betriebe, «dass sie Basislehrjahre als angemessene Form der Berufseinführung in anspruchsvollen Berufen wahrnehmen» (Jäger, 2001, S. 3).
Da die weitere Finanzierung von Basislehrjahren durch den Bund oder die Übernahme dieser Aufgabe durch die Kantone deutliche Mehrkosten für die öffentliche Hand mit sich gebracht hätte, lag es nach Abschluss der Modellversuche an den interessierten Branchenverbänden und Betriebsverbünden, Basislehrjahre anzubieten. Kritische Beobachter bemängeln aber, dass privatwirtschaftliche Initiativen selten seien, dass das entsprechende Angebot zu wenig gross sei und dass sich der Bund deshalb stärker für die Weiterverbreitung des Modells Basislehrjahr einsetzen sollte (vgl. z. B. Galladé, 2008). Doch die Behörden verweisen – sicherlich auch mit Blick auf die beschränkten finanziellen Ressourcen – darauf, dass die Basislehrjahre trotz des dafür geschaffenen offenen Rahmens des BBG offensichtlich zu wenig den Bedürfnissen der Arbeitswelt entsprechen. Der Bund werde deshalb diese Form der beruflichen Grundbildung finanziell nicht stärker unterstützen; dies wäre, wenn schon, Aufgabe der Organisationen der Arbeitswelt (Schweizerischer Bundesrat, 2008).
Vor dem Hintergrund mangelnder privater Initiativen entwickelte sich jedoch, bereits während die Modellversuche zum Basislehrjahr liefen, in einigen Kantonen der Deutschschweiz eine Ausbildungsform, die noch umfassender auf eine schulische Grundausbildung absetzt – und die öffentliche Hand auch teurer zu stehen kommt als das Basislehrjahr. Es handelt sich dabei um das Modell der Informatikmittelschule. Diese führt nach drei Jahren berufsorientierter Schulbildung – oft an einem Gymnasium angesiedelt – und einem Praxisjahr zu einem EFZ als Informatiker/in im Bereich Applikationsentwicklung und einer kaufmännischen Berufsmaturität. Ähnlich wie das Basislehrjahr für Informatiker wurde diese neue Ausbildungsform zunächst auf Bundesebene vorangetrieben, und zwar im Zusammenhang mit der Umsetzung des Lehrstellenbeschlusses II (Gertsch & Gerlings, 2001, S. 23f.). Nach Abschluss des Projektes «Einführung der Informatikmittelschule» wurde dieses verhältnismässig teure Engagement des Bundes nicht mehr weitergeführt. Es lag jedoch in der Kompetenz der Kantone, das Modell weiterzuentwickeln und auch selbst zu finanzieren (Regierungsrat des Kantons Zürich, 2010). Heute gibt es in der Deutschschweiz sieben solche Schulen, in der lateinischen Schweiz fehlen sie noch (ICT-Berufsbildung Schweiz, 2012a, 2012b). Aufgrund der hohen Nachfrage nach Ausbildungen im Informatikbereich entwickelten sich jedoch zunehmend auch private vornehmlich schulisch organisierte Ausbildungen, die nach vier Jahren ebenfalls zum EFZ, nicht jedoch zur Berufsmaturität führen (vgl. etwa Mittelschul- und Berufsbildungsamt, 2011, S. 2).
Trotz dieser Diversifizierung des öffentlichen Angebots an Ausbildungen im Informatikbereich wird die Zahl der auf der Ebene der beruflichen Grundbildung ausgebildeten Lernenden als zu gering betrachtet. Die Lancierung und Umsetzung entsprechender Massnahmen gestaltet sich jedoch weiterhin schwierig, vor allem weil die Verbände der Informatikbranche zu wenig jene Betriebe vertreten, die einen wesentlichen Teil der Informatikerinnen und Informatiker beschäftigen, etwa Banken und Versicherungen. Dennoch formierte sich 2010 unter der Schirmherrschaft des Dachverbandes ICTswitzerland ein neuer Interessenverband – ICT-Berufsbildung –, der sich primär der Förderung der beruflichen Ausbildung entsprechender Berufsleute widmet und alsbald ein Massnahmenpaket erarbeitete, mittels dessen 3000 neue Ausbildungsplätze geschaffen und so der Anteil der Lernenden der Grundbildung «pro 100 ICT-Beschäftigten auf den Landesdurchschnitt aller Branchen von 5,4 gehoben werden» sollte, wobei Gelder sowohl durch eine Bank (Credit Suisse) als auch durch das BBT zur Verfügung gestellt wurden (ICT-Berufsbildung Schweiz, 2010).
Das Ziel, in der Informatik 3000 neue Lehrstellen zu schaffen, ist freilich ambitioniert. Entsprechend ist es wenig erstaunlich, dass es der Dachverband auch begrüsst, wenn Kantone den Aufbau von Informatikmittelschulen vorantreiben (Grautmann, 2011). Dass die Förderung dieser stärker schulorientierten Form der beruflichen Grundbildung das Ziel der Schaffung neuer Lehrstellen unterminieren könnte, ist den Verantwortlichen sicherlich bewusst, doch angesichts des Mangels ausgebildeter Informatikerinnen und Informatiker nimmt der Verband dies in Kauf.
Massnahmen im Gesundheitsbereich
Grosser Fachkräftemangel herrscht auch in den Gesundheitsberufen, was eine der grossen aktuellen gesundheitspolitischen Herausforderungen darstellt. Offizielle Schätzungen gehen davon aus, dass bis ins Jahr 2020 jährlich rund 5000 Gesundheitsfachleute fehlen, mit denen der Bedarf an Nachwuchs – vor allem im Bereich der Pflegefachkräfte – abgedeckt werden könnte (BBT, 2010, S. 7). Der Mangel an in der Schweiz ausgebildetem Pflegepersonal ist freilich nichts Neues und wird bis heute vor allem durch die Rekrutierung ausländischer Arbeitskräfte entschärft. Doch vor dem Hintergrund der in den nächsten Jahrzehnten weiter wachsenden Nachfrage nach Dienstleistungen im Pflegebereich erachten die Bundesbehörden die Abhängigkeit von ausländischem Personal als nicht länger wünschbar (BBT, 2010, S. 8), was nach erhöhten Anstrengungen im Bereich der Personalerhaltung, aber auch der Ausbildung neuer Arbeitskräfte