Zu Diskussionen Anlass gegeben hat jedoch auch der Übertritt der Absolventinnen und Absolventen der beruflichen Grundbildung in den Arbeitsmarkt, selbst wenn die Jugendarbeitslosigkeit in der Schweiz im internationalen Vergleich meist relativ tief lag. So haben etwa die – vor allem im Vergleich zu Handelsmittelschuldiplomandinnen und -diplomanden grösseren – Schwierigkeiten von ausgebildeten Kaufleuten auf dem Arbeitsmarkt in den 1990er-Jahren dazu geführt, dass die kaufmännische Grundbildung umfassend überarbeitet wurde (BBT, 2008, S. D16). Aktuell wird darauf hingewiesen, dass die Arbeitslosigkeitsquote von Personen, die ihren höchsten Abschluss auf Sekundarstufe II erworben haben (dazu gehören vor allem Lehrabgänger), seit einigen Jahren durchweg etwas höher ist als etwa die entsprechende Quote von Personen, die einen Abschluss auf Tertiärstufe vorweisen können (Schellenbauer et al., 2010, S. 68). Problematisch erscheint auch, dass ein Teil der Lernenden nach Abschluss der beruflichen Grundbildung auf wenig ideale Arbeitsverhältnisse trifft, etwa indem sie nicht direkt zu einer Festanstellung kommen. Im November 2011 hatten immerhin 28 Prozent der gelernten Kaufleute drei Monate nach Abschluss ihrer Ausbildung nur einen befristeten Vertrag (Buchs & Ruckstuhl, 2012, S. 8). Eine andere Herausforderung stellt die Tatsache dar, dass viele Lernende bald nach dem Abschluss – entweder aufgrund von Arbeitslosigkeit oder wegen mangelnder Perspektiven – den Beruf wechseln und dabei im Schnitt einen um 5,1 Prozent tieferen Lohn in Kauf nehmen müssen als Personen, die zwar den Lehrbetrieb ebenfalls verlassen, jedoch im erlernten Beruf tätig bleiben (Müller & Schweri, 2009, S. 17).
Wesentlich stärkere bildungspolitische Aufmerksamkeit haben jedoch immer wieder jene Stimmen erhalten, die kritisieren, das schweizerische Berufsbildungssystems sei trotz des starken Einbezugs der Betriebe zu wenig auf den Arbeitskräftebedarf der Volkswirtschaft ausgerichtet. Im Fokus steht zum einen, dass insbesondere die berufliche Grundbildung übermässig auf gewerblich-industrielle Tätigkeiten vorbereitet, während die grosse Mehrheit der Arbeitskräfte in der Schweiz im Dienstleistungssektor tätig ist. Die Tendenz zur Tertiarisierung wird durch den wirtschaftlichen Wandel noch verstärkt: So hat die Zahl der Stellen im Dienstleistungsbereich zwischen 1998 und 2009 um 15 Prozent zugenommen, während jene der Stellen in Industrie und Gewerbe stagniert hat (Schellenbauer et al., 2010, S. 51). Gleichzeitig geht die Ausbildungsbereitschaft von Betrieben im tertiären Sektor seit 1980 zurück, im Kontrast zu den Betrieben im landwirtschaftlichen und gewerblich-industriellen Bereich, deren «Lehrlingsquote» seit 1970 zugenommen hat (Sheldon, 2009, S. 6). Diese Problematik hat in der Öffentlichkeit auch schon den Eindruck erweckt, in der Schweiz würden die «falschen Lehrlinge» ausgebildet (Furger, 2010).
Während die mangelnde Ausrichtung der Berufsbildung auf den schweizerischen Dienstleistungssektor in den letzten Jahrzehnten immer wieder ein Thema der schweizerischen Berufsbildungspolitik war und auch von den Bundesbehörden als Herausforderung angesehen wird (vgl. z. B. Schweizerischer Bundesrat, 2000b, S. 5694), ist jüngst ein anderer Aspekt der Ausrichtung der Berufsbildung auf den Arbeitsmarkt in den Fokus des bildungspolitischen Interesses gerückt: der Beitrag der Berufsbildung zur Verminderung des Fachkräftemangels. So wird von zahlreichen Beobachtern unterstrichen, das schweizerische Bildungssystem bilde insgesamt zu wenig Fachkräfte für den zunehmend wissensintensiven Wirtschaftsstandort Schweiz aus. Insbesondere fehle es an tertiär ausgebildeten Fachkräften im MINT-Bereich. Dass diese Problematik drängend ist, anerkennt auch der Bundesrat: So hielt er 2010 in einem Bericht fest, dass im März 2009 in der Schweiz trotz Wirtschaftskrise bei insgesamt 173 000 im MINT-Bereich beschäftigten Fachkräften «rund 16 000 offenen MINT-Stellen rund 2000 stellensuchende MINT-Fachkräfte» gegenüberstanden (Schweizerischer Bundesrat, 2010a, S. 23).
Einige kritische Stimmen, so die Autoren eines Berichts des Thinktanks Avenir Suisse, orten einen zentralen Grund für den Mangel an hoch qualifizierten Fachkräften in der grossen Bedeutung der Berufsbildung auf der Sekundarstufe II. Dies zum einen, weil ihretwegen die Zahl der Maturanden – bzw. der Schülerinnen und Schüler, die einen direkten Zugang zur akademischen Tertiärbildung (Tertiär A) haben – im internationalen Vergleich relativ tief ist. Zum anderen treten weiterhin verhältnismässig wenige Absolventinnen und Absolventen der beruflichen Grundbildung in den Tertiärbereich A ein, obwohl mit der Berufsmaturität der Übertritt an die Fachhochschulen geregelt wurde und auch Passerellen existieren, mithilfe derer Berufsmaturanden unter Auflagen auch an Universitäten zugelassen werden können (Schellenbauer et al., 2010, S. 54). Dies müsse zwar wirtschaftspolitisch nicht zwingend ein Problem darstellen, da viele der offenen Stellen mit Bewerberinnen und Bewerbern aus dem Ausland besetzt werden könnten. Allerdings ergebe sich daraus letztlich die eher sozialpolitische Herausforderung der «Überschichtung» durch qualifizierte Zuwanderer (Schellenbauer et al., 2010, S. 54).
Strategie des Bundes zur Sicherung der Ausrichtung der Berufsbildung auf den Arbeitsmarkt
Wie begegnen nun die Behörden den beiden letztgenannten Herausforderungen, also der mangelnden Ausrichtung der Berufsbildung auf den wachsenden Dienstleistungsbereich und dem Fachkräftemangel? Die Bundesbehörden anerkennen grundsätzlich, dass die Berufsbildung, insbesondere die Grundbildung, sehr stark auf Industrie und Gewerbe ausgerichtet ist (vgl. z. B. Eidgenössische Berufsbildungskommission, 2006, S. 17) und dass der Fachkräftemangel eine Herausforderung darstellt, der mit entsprechenden Massnahmen zu begegnen sei (EVD, 2011). Nichtsdestotrotz sind die Behörden der Überzeugung, dass nicht der gymnasiale Ausbildungsweg gestärkt, sondern auf der Sekundarstufe II der Anteil jener Jugendlichen, die eine berufliche Grundbildung absolvieren, möglichst konstant gehalten werden sollte (Donzé & Nowotny, 2012; Schweizerischer Bundesrat, 2010b, S. 42f.), dass auch von Arbeitslosigkeit statistisch verhältnismässig stark betroffene soziale Gruppen (z. B. Jugendliche mit Migrationshintergrund) noch konsequenter in die berufliche Grundbildung integriert und so auf den Eintritt ins Erwerbsleben vorbereitet werden sollten (Schweizerischer Bundesrat, 2010b, S. 29). Für den Bund entscheidend ist die grosse Integrationswirkung des gegenwärtigen Systems, die sich besonders in der im internationalen Vergleich tiefen Jugendarbeitslosigkeit manifestiert (Schweizerischer Bundesrat, 2010b, S. 16). In der Legitimation der bestehenden Berufsbildungspolitik spielen somit beschäftigungspolitische Argumente eine zentrale Rolle.
Was die oft kritisierte mangelnde Ausrichtung der Berufsbildung auf die Dienstleistungsbranche betrifft, braucht es aus der Perspektive des Bundes keine grundsätzliche Reform, insbesondere was die Form der beruflichen Grundbildung angeht. Die in der gegenwärtigen Version des BBG festgehaltene Kooperation der Lernorte und die zentrale Rolle der «Bildung in beruflicher Praxis», die letztlich als Kern der starken Arbeitsmarktorientierung der Berufsbildung betrachtet wird, sollen weiterhin den Rahmen beruflichen Lernens auf der Sekundarstufe II bilden. Dabei nimmt man in Kauf, dass der wachsende Dienstleitungssektor im Verhältnis zu wenig Ausbildungsplätze anbietet, nicht zuletzt deswegen, weil viele Abgängerinnen und Abgänger einer beruflichen Grundbildung in industriellen und gewerblichen Berufen nach ihrem Abschluss eine Anstellung im Dienstleistungssektor finden. Dank der Flexibilität der Absolventinnen und Absolventen der beruflichen Grundbildung könne deshalb, so die frühere BBT-Direktorin Ursula Renold in einem Interview, von einem eigentlichen Strukturproblem nicht gesprochen werden (Fleischmann, 2011, S. 43). Vor diesem Hintergrund ist es nur folgerichtig, dass die Bundesbehörden Berufsbildungsmarketing als eine wichtige Stütze der Berufsbildungspolitik betrachten. Damit sollen nicht nur Jugendliche für die berufliche Grundbildung gewonnen, sondern auch Betriebe von einer Beteiligung an der beruflichen Grundbildung überzeugt werden (Knutti, 2010). Die Verbreitung von Erkenntnissen aus der Bildungsökonomie spielt dabei eine zentrale Rolle; sie zeigen, dass sich die Beteiligung an der beruflichen Grundbildung für eine grosse Mehrheit der Betriebe bereits während der Ausbildungszeit lohnt (Dionisius et al., 2009; Strupler & Wolter, 2012; Wolter, 2008).
Politisch wesentlich mehr Beachtung haben die ausbildungspolitischen Herausforderungen im MINT-Bereich erhalten, was sich etwa darin zeigt, dass zahlreiche Parlamentarier der Bundesversammlung entsprechende Postulate einreichten, die vom Bundesrat in einem umfassenden Bericht beantwortet wurden (Schweizerischer Bundesrat, 2010a).