Arbeitsmarktorientierung in der Berufsbildungsgesetzgebung der Schweiz – Eine Rückschau
Eine effektive Ausrichtung auf den Arbeitsmarkt war immer ein Kernanliegen der schweizerischen Berufsbildungspolitik. Allerdings veränderten sich dabei die Motive, was jeweils von den massgebenden Akteuren abhing. Im Allgemeinen, so wird der Rückblick zeigen, lassen sich wachstums- und beschäftigungspolitische Motive unterscheiden. Im Zuge der Integration der Berufsbildung in das Bildungssystem des Landes sind jedoch immer mehr auch explizit bildungspolitische Motive hinzugekommen.
Die ersten Aktivitäten des Bundes im Bereich der Berufsbildung waren Teil wirtschaftspolitischer Massnahmen, die auf die Unterstützung des Gewerbes und der Industrie abzielten. Diese Massnahmen wurden vom Bundesrat in den 1880er-Jahren beschlossen, unter dem Eindruck einer wirtschaftlichen Rezession und zunehmenden wirtschaftlichen Wettbewerbs zwischen den Industriestaaten Westeuropas. Dazu gehörte auch der Bundesbeschluss betreffend die gewerbliche und industrielle Berufsbildung aus dem Jahr 1884. Auf der Grundlage dieses Erlasses erhielten die Behörden die Möglichkeit, in den Kantonen verschiedene berufliche Ausbildungsstätten – so etwa Handwerkerschulen, gewerbliche Fortbildungs- und Zeichnungsschulen und weitere – sowie die Durchführung von Lehrabschlussprüfungen finanziell zu unterstützen. Industrie und Gewerbe sollten also durch die Qualifizierung von Arbeitskräften gefördert werden (Berner, Gonon & Ritter, 2011).
Einen ähnlichen Ansatz verfolgte man auch bei der Ausarbeitung des ersten Bundesgesetzes für die Berufsbildung. Nachdem nämlich 1908 der Bund durch eine Verfassungsänderung dazu befugt worden war, «über das Gewerbewesen einheitliche Vorschriften zu erstellen», wurden in Zusammenarbeit mit den interessierten Wirtschaftsverbänden drei Gesetzesprojekte lanciert, wovon eines auf eine einheitlichere Regelung der beruflichen Ausbildung abzielte (Wettstein, 1987, S. 46). Doch die Vertreter der Industrie, das heisst der Schweizerische Handels- und Industrieverein sowie der Zentralverband der Arbeitgeber, sprachen sich gegen Bestimmungen zu handwerklichen und technischen Berufen aus, die nicht nur für das Gewerbe, sondern auch für die Industrie gelten sollten. Die Position der Industrie konnte sich jedoch weder im vorparlamentarischen Prozess, in dem die Vertreter des Gewerbes von Arbeitnehmerverbänden unterstützt wurden, noch im Parlament durchsetzen, sodass mit dem Bundesgesetz über die berufliche Ausbildung von 1930 erstmals für die ganze Schweiz geltende Bestimmungen für die beruflichen Ausbildungen in Handel und Verkehr, Handwerk und Industrie festgelegt wurden. Diese Bestimmungen betrafen besonders die Dauer der Lehre, den zeitlichen Anteil des schulischen Unterrichts an der Ausbildung, die Durchführung von Prüfungen und die Überwachung der Ausbildung durch kantonale Inspektoren.
Die Ausrichtung der Berufsbildung auf die Qualifizierung von Arbeitskräften der vier Branchen und die Institutionalisierung der – erst viel später als solche bezeichneten – dual organisierten Betriebslehre wurde zunächst also gegen zentrale Vertreter der Industrie beschlossen. Doch die Industrie freundete sich mit der Berufsbildung und ihrer dual strukturierten Organisationsform an. Tatsächlich trug der industrielle Sektor in den Jahren raschen wirtschaftlichen Wachstums nach dem Zweiten Weltkrieg wesentlich zur Expansion der Berufsbildung bei, da immer mehr Industriebetriebe den Anteil ungelernter Arbeitskräfte an ihrer Belegschaft reduzierten. Gleichzeitig verstärkte sich in der Öffentlichkeit der Eindruck, dass es der Schweiz an qualifizierten Arbeitskräften, welche die Wettbewerbsfähigkeit des Landes langfristig sicherstellen könnten (Wettstein, 1987, S. 66), mangle. Aus diesen Gründen verstärkte der Bund sein finanzielles Engagement für die Berufsbildung. Doch vor dem Hintergrund der grossen wirtschaftlichen Veränderungen waren Entscheidungsträger aus Politik, Wirtschaft und Verwaltung der Ansicht, dass auch die rechtlichen Grundlagen des Systems angepasst werden sollten; so verabschiedete das Parlament 1963 ein neues Berufsbildungsgesetz, in dem die Kompetenzen des Bundes in der Berufsbildung noch umfassender ausgestaltet wurden. Ganz im Sinne der Vertreter der Industrie, die auf eine grössere Zahl von Ingenieuren und Technikern angewiesen war, war insbesondere die Verabschiedung umfassender Bestimmungen für die Technika, die in «höhere technische Lehranstalten» umbenannt wurden und deren Absolventen sich nun «Ingenieur-Techniker HTL» nennen konnten (Bundesgesetz über die Berufsbildung, 1963; Kiener & Gonon, 1998, S. 165).
Die Revision des Berufsbildungsgesetzes von 1978 kam den Interessen der Industrie noch einmal stärker entgegen. Ausschlaggebend waren jedoch zunächst bildungspolitische Überlegungen. So ging der Anstoss für die Überarbeitung des Gesetzes von Lehrpersonen an Berufsschulen aus, die kritisierten, die Zahl der Prüfungsversager bei den Lehrabschlussprüfungen steige. Sie forderten daher, dass über eine Differenzierung der Ausbildungen in unterschiedliche Anspruchsniveaus nachzudenken sei. Dieses Anliegen wurde auch von einzelnen Vertretern der Wirtschaft aufgegriffen, sodass die Bundesbehörden eine Reformkommission ins Leben riefen. Deren Arbeit mündete schliesslich im Bundesgesetz über die Berufsbildung (BBG) von 1978, das gesetzliche Grundlagen für die Anlehre und die Berufsmittelschule enthielt. Diese hierarchische Ausdifferenzierung der Berufsbildung, von den Gewerkschaften stark bekämpft, war besonders im Interesse von Industriebetrieben, wo die Beschäftigungsstrukturen – im Vergleich zum Gewerbe – immer schon viel hierarchischer waren (Gonon & Maurer, 2012, S. 138f.; Rüegg, 1987, S. 5, 27).
Die jüngste, im Jahr 2002 durch die Bundesversammlung verabschiedete Revision des BBG wiederum wäre ohne die tiefe Rezession der 1990er-Jahre und deren Folgen für den schweizerischen Arbeitsmarkt nicht oder kaum in dieser Form zustande gekommen. In der Tat hatten vor Beginn dieser ökonomischen Verwerfungen zahlreiche Bildungspolitiker über eine Kantonalisierung der Berufsbildung nachgedacht, doch insbesondere die Schwierigkeiten auf dem Lehrstellenmarkt, das heisst die sinkende Zahl von Ausbildungsplätzen für Absolventinnen und Absolventen der Sekundarstufe I, veranlasste das Parlament, die Anstrengungen des Bundes im Bereich der Berufsbildung zu verstärken (Strahm, 2008a, S. 321–327). Zunächst geschah dies im Rahmen der sogenannten Lehrstellenbeschlüsse I und II (LSB I, 1997; LSB II, 1999), auf deren Grundlage der Bundesrat die Möglichkeit erhielt, Sofortmassnahmen für die Verbesserung der Situation auf dem Lehrstellenmarkt zu ergreifen. Diese Beschlüsse bildeten den Ausgangspunkt für weitere Anstrengungen, die Kompetenzen des Bundes in der Berufsbildung auszubauen und deren heterogene Strukturen weiter zu vereinheitlichen. Dies wurde mit der Revision des Berufsbildungsgesetzes (BBG, 2002) erreicht. Eine zentrale Anpassung bestand darin, dass die Regelungskompetenz des BBG ausgeweitet wurde, und zwar auf Branchen, deren Ausbildung bis anhin im Rahmen separater Gesetze reglementiert worden war. Es handelte sich insbesondere um die Ausbildungen in der Landwirtschaft, in den Bereichen Gesundheit und Soziales sowie in der Kunst. Besonders bemerkenswert an dieser Ausweitung war die Tatsache, dass die Ausbildungen in diesen Branchen bisher stärker schulisch organisiert war, dass sie nun jedoch als Folge der BBG-Revision – und von deren starkem Fokus auf die Bildung in beruflicher Praxis (vgl. BBG, Artikel 16) – stärker dual zu organisieren waren. Die zunächst vor allem im Gewerbe verbreitete dual organisierte Ausbildung, die im Verlaufe der Jahrzehnte in der Industrie stark Fuss gefasst hatte, sollte nun auch in Branchen Verwendung finden, die bis anhin andere Formen der beruflichen Qualifizierung kannten.
Die Ausrichtung der Berufsbildung auf den Arbeitsmarkt in der Kritik
Die Ausrichtung des schweizerischen Berufsbildungsbildungssystems auf den Arbeitsmarkt bot immer wieder Anlass für Kontroversen. Gewisse Friktionen haben sich alleine als Folge der Tatsache ergeben, dass die Zahl der Ausbildungsplätze in einem von der betrieblich organisierten Berufsbildung geprägten System stark von der allgemeinen Konjunkturentwicklung und der Ausbildungsbereitschaft der Betriebe abhängt. So kam es wiederholt zu Phasen ausgeprägter Lehrstellenknappheit (so in den 1990er-Jahren), in denen viele Abgängerinnen und Abgänger der Sekundarstufe I keinen direkten Einstieg in die Berufsbildung fanden. In solchen Phasen sind auch politische Initiativen lanciert worden, die die öffentliche Hand dazu verpflichten wollten, für eine ausreichende Zahl von Ausbildungsplätzen zu sorgen, was primär durch einen Ausbau der schulisch organisierten