Tatsächlich wird seit Längerem auch in der Schweiz primär die duale Berufsbildung ausgebaut (vgl. Gonon, 2012). War früher in den 1980er-Jahren vom «trialen System» die Rede – eigentlich treffender, denn das schweizerische Berufsbildungssystem umfasst neben den beiden Lernorten Betrieb und Schule auch einen «dritten Lernort» (heute meist «überbetriebliche Kurse» oder ÜK genannt) –, so hat sich nun bemerkenswerterweise der Begriff «duale Berufsbildung» durchgesetzt, der für alle Formen beruflicher Ausbildungen verwendet wird, die betriebliche wie auch schulische Anteile aufweisen.
Im Jahre 2010 erschien als Antwort auf eine parlamentarische Anfrage der Bericht «Sechs Jahre neues Berufsbildungsgesetz – Eine Bilanz» (Schweizerischer Bundesrat, 2010), in dem explizit von der Förderung der «dualen Berufsbildung» die Rede ist – wie übrigens bereits im Bericht des Bundesrates anlässlich der Gesetzesrevision im Jahre 2000. In der «Bilanz» werden mehrere Herausforderungen benannt, auf die auch im Folgenden noch eingegangen wird.
Trotz der allseits bescheinigten Erfolge gebe es für die Berufsbildung im Besonderen mit Blick auf die Zukunft einige Problemlagen, die Antworten verlangten, so auch die Meinung anderer Akteure. In einer Expertise zur Zukunft der Bildung in der Schweiz wurde auch die Rolle der Berufsbildung in einer wissensbasierten Gesellschaft thematisiert (Akademien der Wissenschaften Schweiz, 2009). Ein Mitautor bezeichnete an anderer Stelle die duale Berufsbildung in der Wissensgesellschaft als «Auslaufmodell», was heftigen Widerspruch hervorrief. Eine weitere Debatte entfachte die vonseiten der Arbeitsmarktforschung in der letzten Dekade festgestellte starke und überproportionale Zuwanderung hoch qualifizierter Arbeitskräfte. Die Feststellung, dass es im Gesundheitsbereich und in der Informatik an Fachkräften mangle, warf u. a. die Frage auf, ob das Bildungssystem zu selektiv und zu wenig chancengerecht sei, aber auch die, ob in der Schweiz zu wenig Akademiker ausgebildet würden. Damit stand zur Diskussion, ob die Schweiz nicht vielleicht ein Zuviel an Berufsbildung gewähre (Meyer, 2009).
Der wirtschaftsnahe Thinktank Avenir Suisse empfahl angesichts ähnlicher Problemwahrnehmung ein duales Modell nicht für die berufliche Bildung, sondern teilweise auch für den Hochschulbereich (Schellenbauer et al., 2010).
Bisher war im Zusammenhang mit der Berufsbildung vorwiegend von der beruflichen Grundbildung auf der Ebene der Sekundarstufe II die Rede. Immerhin umfasst die Ausbildung von Jugendlichen, die am Ende ihrer obligatorischen Schulzeit eine berufliche Grundbildung anstreben, zwei Drittel eines Jahrganges. Es gilt allerdings zu beachten, dass schon vor der beruflichen Grundbildung berufsbildungsrelevante Dinge geschehen, so die Berufswahl und der gelingende Einstieg und Übergang in das System der beruflichen Bildung. Und nach Abschluss der Grundbildung ist der Übergang in die Arbeitswelt oder die weitere Bildungsaktivität von zunehmender Bedeutung.
Von Interesse ist also, dass die Berufsbildung alles andere als ein monolithisches Gebilde darstellt. Gerhard Bosch und Mitautor/innen weisen in ihrer Darstellung des beruflichen Bildungssystems in Deutschland darauf hin, dass die Zukunftsfähigkeit der dualen Berufsbildung nicht von einem, sondern von einer Vielzahl einzelner Bereiche, die in sich funktionsfähig bleiben müssten, abhängig ist. Zu den aktuellen Problemfeldern zählen sie die mangelnde Versorgung mit Ausbildungsplätzen, das Übergangssystem, den Fachkräftemangel, die Durchlässigkeit der Bildungssysteme und die Europäisierung der Berufsbildung (Bosch, Krone & Langer, 2010).
Gleiches gilt auch für die Schweiz. Die Berufsbildung ist darüber hinaus sowohl in geografischer Hinsicht als auch je nach sprachregional-kulturellem Umfeld vielgestaltig. Die vorherrschende Meinung ist, dass man diese Vielfalt, wie sie sich über einen längeren historischen Zeitraum ergeben hatte, erhalten sollte. Erst in jüngster Zeit wurden im Besonderen dem dualen System bundesrätliche und bildungsverwalterische Fürsorge und aktive Förderung zuteil. Gleichzeitig wurde eine stärkere Verknüpfung mit dem Bildungssystem insgesamt angestrebt. Nach einem Ausbau der Berufsmaturität in den 1990er-Jahren, die mit den Fachhochschulen die Schweizer Bildungslandschaft massiv veränderte und die Durchlässigkeit zwischen der Allgemein- und der Berufsbildung ermöglichte, ist nun vor allem die höhere Berufsbildung ein Feld, das einerseits zur Festigung des dualen Systems, anderseits aber auch zur Stärkung der berufs- und betriebspraktischen Seite und zur Stabilisierung des Karriereweges über berufliche Erfahrung in Stellung zu bringen ist. Gerade auch in der höheren Berufsbildung laboriert die Bildungspolitik an einigen gewichtigen Problemen: Nach einem politisch forcierten «Upgrading» der ehemaligen beruflichen Weiterbildung zu einem Tertiärabschluss muss zurzeit die Positionierung innerhalb des Bildungssystems geklärt werden.
Duale Berufsbildung gilt es zu fördern, gleichzeitig steht die Berufsbildung vor einigen Herausforderungen, die der besonderen Aufmerksamkeit der Bildungspolitik bedürfen, so lässt sich der weitherum herrschende Konsens zusammenfassen.
Als Hintergrund wahrgenommener Herausforderungen spielt wohl auch die demografische Entwicklung eine entscheidende Rolle. Die Berufsbildung soll in ihrer Bedeutung erhalten bleiben. Im Kampf um Talente bzw. «begabte» Jugendliche baute man in der Schweiz – ausgesprochen oder nicht – auf ein System, das selektiv den Zugang zum Gymnasium einer Elite vorbehalten und die Berufsbildung als Norm und regulären Weg aufrechterhalten sollte. Diese Tradition ist auch angesichts demografischer Trends national wie international unter Druck. Im Zusammenspiel mit technologischen und fachlichen Entwicklungen sowie stärkerer internationaler Zirkulation wurde daher in den letzten Jahren die Berufsbildung stärker verschult, gleichzeitig aber auch die Durchlässigkeit im Hinblick auf das gesamte Bildungssystem erhöht.
In diesem Buch wird nicht grundsätzlich am helvetischen Konsens gerüttelt, wonach die Berufsbildung eine positive Bilanz aufweist. Dennoch ist es auch Aufgabe einer wissenschaftlichen Haltung, Bestehendes skeptisch zu hinterfragen. Wir haben uns deshalb zur Aufgabe gestellt, einige öffentlich thematisierte und teilweise strittige Gesichtspunkte der Berufsbildung darzustellen, kritisch zu prüfen und wenn möglich auch wenig beachtete Facetten zu beleuchten.
Gemäss der Theorie koordinierter Marktökonomien beruht auch die Berufsbildung auf strategischen Allianzen von Akteuren, die Vereinbarungen treffen und oft selbstverwaltet Regeln erstellen, die dann auch von öffentlicher Seite gebilligt werden (vgl. Busemeyer & Trampusch, 2012). Nicht untypisch gibt es dabei auch Bereiche, die nicht explizit thematisiert, ja eher beschwiegen werden und deshalb für Dritte kaum visibel und auch nicht leicht zu verstehen sind.
Der vorliegende Band thematisiert einige der bereits genannten, aber auch weitere Problemfelder, wie sie interessierte Fachkreise und politische Akteure beschäftigen. Die Analysen zentrieren sich auf einige unseres Erachtens bedeutsame Herausforderungen. Dabei lassen sich zwei Positionen ausmachen: Die einen sehen die Lösungen der jeweiligen Herausforderungen als existenziell an – wenn etwa die Neupositionierung der höheren Berufsbildung kein befriedigendes Ergebnis mit sich bringe, dann seien die duale Berufsbildung und ihre Zukunft gefährdet. Anderen geht es eher darum, Ungleichgewichte auszutarieren, um die Bedeutsamkeit der Berufsbildung weiterhin zu gewährleisten und sie gegenüber der Allgemeinbildung in Stellung zu bringen.
Entsprechend schrill kann sich die Rhetorik zur Zukunft der Berufsbildung oder aber zur Gefährdung des dualen Systems entfalten. Insgesamt jedoch herrscht eher nüchternes Abwägen vor, das auf Weiterentwicklung und Optimierung des Bestehenden setzt.
Von zentraler Bedeutung ist u. a. die Einschätzung der Innovationsfähigkeit des Systems. Auch in dieser Hinsicht leistet die Schweiz Erstaunliches, was wohl letztlich eng mit dem politischen System zusammenhängt.
Herausgehoben sei in diesem Zusammenhang etwa die Rolle der Lehrstellenkonferenz, die Bund, Kantone und Organisationen der Arbeitswelt einmal jährlich zusammenbringt. Entstanden zu Zeiten der Lehrstellenkrise, entwickelte sich dieses Gremium, in dem die Gewerkschaften, Gewerbe- und Arbeitgeberverband und die fünf im Bundesrat vertretenen Parteien präsent sind, zu einer informellen und meinungsbildenden Instanz, die über die Zukunft der beruflichen Bildung berät und entsprechende Weichen stellt. In der jüngsten Zusammenkunft am 23. November 2012 wurden unter anderem im Zusammenhang mit dem Strukturwandel und der «Deindustrialisierung» die Nachholbildung, die höhere Berufsbildung und Berufsmaturität für die nächsten Jahre als besonders zu bearbeitende Bereiche definiert (EVD & BBT 2012).
Für die Meinungsbildung und Legitimität