Die Stossrichtung der anstehenden Reform wurde erstmals vom Bundesrat im Rahmen seines Berichts über die Berufsbildung vom 9. November 1996 formuliert (Schweizerischer Bundesrat, 1996). Der Prozess der Konsensfindung war in der Einschätzung des Bundesrates zu jenem Zeitpunkt noch nicht genügend weit fortgeschritten, um grundlegende Reformen und einschneidende Massnahmen vorzubringen. Dafür wären die Ergebnisse aus den Diskussionen zur Reform der Bundesverfassung, der Regierungs- und Verwaltungsreform sowie zum neuen Finanzausgleich abzuwarten (Schweizerischer Bundesrat, 1996). In Zusammenhang mit letzterem Geschäft war immerhin die Möglichkeit einer Kantonalisierung der Berufsbildung kurzfristig zur Diskussion gestanden, jedoch von Fachkreisen des Bildungswesens wie auch von den Kantonen deutlich abgelehnt und schliesslich in der Vernehmlassung abgewehrt worden (vgl. Strahm, 2008). Aufgrund der gültigen Verfassung beschränkten sich die Vorschläge auf die BIGA-Berufe, doch äusserte der Bundesrat bereits den Willen, «seine Koordinations-, Aufsichts- und Steuerungskompetenzen in der Berufsbildung verstärkt für zukunftsweisende Rahmenbedingungen» einzusetzen (Schweizerischer Bundesrat, 1996, S. 6). Mittel dazu bildeten ein neuer Finanzierungsmodus und ein verstärktes finanzielles Engagement, da es sonst «dem Bund zunehmend schwerer fallen [würde], seine gestaltende Rolle im Interesse der Ausbildung in einem einheitlichen Wirtschaftsraum wahrzunehmen» (Schweizerischer Bundesrat, 1996, S. 71). Das Kernanliegen der Reform war in diesem Bericht bereits definiert: Angesichts der Problemlage galt es, die berufliche Bildung für die Jugendlichen attraktiver zu gestalten (z. B. Durchlässigkeit), ohne der Ausbildungsbereitschaft der Betriebe Hindernisse in den Weg zu stellen; vor dem Hintergrund des technologischen und wirtschaftlichen Wandels sollte das duale Modell zudem auf die gestiegene Bedeutung anspruchsvoller Ausbildungsberufe mit entsprechendem schulischem Anteil hin weiterentwickelt werden. Schliesslich stand das schweizerische Berufsbildungssystem vor der Herausforderung, die Europakompatibilität seiner Ausbildung nachzuweisen und die Anerkennung der Abschlüsse voranzutreiben.3
Diese Zielsetzungen machten es notwendig, die Berufsbildung dezidiert im Kontext und in Abhängigkeit vom Gesamtbildungssystem zu betrachten. Die «Krise der Berufslehre» stand zudem in Zusammenhang mit einem Trend zu längerer schulischer Ausbildung und insbesondere zu höheren Abschlüssen. In der bundesrätlichen «Botschaft über die Förderung von Bildung, Forschung und Technologie in den Jahren 2000–2003» vom 25. November 1998 wird diese Tendenz mit Sorge betrachtet (Schweizerischer Bundesrat, 1998). Die Botschaft stellt «ein Problem erhöhter Maturanden- und Studierendenzahlen» fest und statuiert das «Oberziel einer Plafonierung der Studierendenzahlen an den traditionellen Hochschulen (von ca. 15–20 % der relevanten Altersjahrgänge)», um die Universitäten zu entlasten (und die Studierendenzahlen an den Fachhochschulen zu erhöhen) (Schweizerischer Bundesrat, 1998, S. 319). Damit ist ein klares steuerungspolitisches Ziel benannt. Nach den geburtenstarken Jahrgängen war ab etwa 2008 wieder mit einem Rückgang der Absolventenzahlen der obligatorischen Schule zu rechnen (Babel, 2005) und damit mit einem verschärften Wettbewerb zwischen Berufsbildung und Gymnasien um «gute» Schülerinnen und Schüler.
Die Phase der Politikformulierung kam 1997 nach der parlamentarischen Debatte des genannten Bundesratsbericht über die Berufsbildung zu einem vorläufigen Abschluss. In einem nächsten Schritt setzte das Eidgenössische Volkswirtschaftsdepartement (EVD) im März 1998 eine Expertenkommission unter der Leitung des Direktors des Bundesamtes für Berufsbildung und Technologie (BBT; 1998 aus dem Bundesamt für Industrie, Gewerbe und Arbeit BIGA hervorgegangen) ein, die einen Entwurf eines neuen Berufsbildungsgesetzes ausarbeiten sollte. Mit dem Entwurf, den die Kommission Anfang 1999 verabschiedete, war der Problemfilterungsprozess abgeschlossen und die Politik in groben Zügen definiert. Wesentlichen Bestandteil der Politikformulierung bildet im schweizerischen System allerdings die Vernehmlassung durch Repräsentanten von Politik, Bildung und Gesellschaft, hier vor allem bestehend aus den Kantonen und den Berufsbildungsämtern, Berufs- und Fachorganisationen, Parteien und Vertretern beruflicher Bildungseinrichtungen.
Die Vernehmlassung des Gesetzesentwurfs zwischen Mai und Oktober 1999 stiess auf reges Interesse – 281 Stellungnahmen wurden eingereicht. In diesen standen, abgesehen von der Differenzierung der Grundbildung in anspruchsvollere und weniger anspruchsvolle Ausbildungen (Berufsfachschulen, Attest), steuerungsrelevante Themen im Vordergrund, so vor allem die Frage der Aufgabenteilung, die Finanzierung und der neu zu schaffende Berufsbildungsrat; auch bei einem weiteren stark diskutierten Thema, der Weiterbildung, ging es vor allem um die Zuständigkeitsfrage (BBT, 2000). Verschiedentlich wurde vonseiten der Kantone gefordert, das Subsidiaritätsprinzip möge stärkere Berücksichtigung und explizite Erwähnung finden (BBT, 2000).
So rief auch das in Artikel 1 pauschal formulierte Zusammenarbeitsgebot vor allem bei den Kantonen Misstrauen hervor. Die Schweizerische Berufsbildungsämter-Konferenz (SBBK) äusserte Kritik hinsichtlich der Aufgabenteilung, sei es, dass die Ämter in verschiedenen Bereichen mehr Mit- und Rücksprache forderten, sei es, dass sie den Eingriff des Bundes in kantonale Hoheitsrechte anmerkten. Die EDK (Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren) fügte an, dass die Leistungen der Kantone generell nicht als «Vollzug» von Bundesvorschriften bezeichnet werden sollten, sondern mit einer Formulierung, die deren Mitwirkung betone.
Daraus spricht die Wahrnehmung eines Ungleichgewichts zwischen Mitbestimmungsmöglichkeiten und finanzieller Lastenverteilung aufseiten der Kantone: Ein Grundtenor lautete, dass das neue BBG wichtige Entscheide, etwa bezüglich der Bildungsverordnungen, dem Bund und den Verbänden überlasse, während die Kantone die Ausgaben für den Vollzug zu tragen hätten – ein Einwand, der später auch in der Vernehmlassung des Entwurfes der Verordnung über die Berufsbildung vorgebracht wurde (BBT, 2003). Auf der anderen Seite führten allerdings die OdA eine zu grosse Regelungsgewalt der Kantone ins Feld und forderten ihrerseits mehr Mitspracherecht, zum Beispiel bezüglich Ausbildung und Anforderungen an die Experten und Expertinnen für Qualifikationsverfahren der beruflichen Grundbildung.
Einen weiteren wesentlichen Punkt in der Vernehmlassung bildete der Berufsbildungsrat; die Zahl der Stellungnahmen zu diesem auf Bundesebene neu einzuführenden Steuerungsorgan wurde nur von derjenigen zur beruflichen Bildung knapp übertroffen. Neben einigen Kantonen äusserten sich vor allem gewerbliche Kreise kritisch bis eindeutig ablehnend. Wie weiter unten noch zu zeigen ist, wurde neben der Repräsentivität des Gremiums dessen Legitimität grundsätzlich infrage gestellt (vgl. nächstes Kapitel).
Das neue Berufsbildungsgesetz konnte 2002 durch die Bundesversammlung verabschiedet werden und trat 2004 in Kraft. Ausgehend von der Problemdefinition der Neunzigerjahre stellt das aktuelle BBG den Kern einer Politikneuformulierung dar. Wie bereits dargelegt, bezieht sich ein Grundanliegen der Reform auf die Optimierung der Steuerung der Berufsbildung. Im Folgenden gilt deshalb das Interesse jenen Gesetzesbestimmungen, die die Steuerungsprozesse – mehr oder weniger direkt und in innovativer Weise – regeln.
Steuerung als Kernthema des neuen BBG (2002)
«Eine klare Zuteilung der Kompetenzen ist für die Steuerung einer Verbundaufgabe von grösster Bedeutung» (Schweizerischer Bundesrat, 2000, S. 5729). Entsprechend dieser Feststellung in der Botschaft bilden die Zuständigkeiten der drei Hauptakteure Bund, Kantone und OdA ein zentrales Thema, das mittels Novellierung des BBG bearbeitet werden sollte. Dass die Rolle des Bundes dabei zu stärken war, darin waren sich Parlament und Bundesrat mehrheitlich einig. Nationale Entwicklungen ebenso wie die Notwendigkeit, das schweizerische Ausbildungssystem im globalen beziehungsweise europäischen Kontext zu positionieren, erforderten eine aktive, evidenzbasierte Berufsbildungspolitik (Renold & Barmettler, 2007). Das neue Steuerungsmodell lässt sich charakterisieren 1) durch die verstärkte Orientierung an Ergebnissen (Output bzw. Outcomes4) und 2) durch eine Zentralisierung im Sinne der Konzentration der strategischen Aufgaben beim Bund. Beide Tendenzen lassen sich anhand von Neuerungen verschiedener Art nachzeichnen. Im Folgenden soll auf vier für die Steuerung der Berufsbildung zentrale Aspekte und Bereiche bzw. Einrichtungen eingegangen werden:
Konzept eines «Innovationsrates»,
neues