Ein typisches Beispiel verbundpartnerschaftlicher Kooperation bietet die Erarbeitung von Bildungsverordnungen, deren Revision das neue BBG (2002, Art. 73 Abs. 1) anordnet. Zugleich zeigt dieses Beispiel, wie ein gesetzlich, das heisst durch öffentliche Politik legitimierter Umsetzungsspielraum über Entscheide auf der nachgeordneten Verwaltungsebene – hier repräsentiert durch das «Handbuch Verordnungen» des BBT – reglementiert werden kann.
Die Ausarbeitung der Verordnungen über die berufliche Grundbildung setzt grundsätzlich die Mitwirkung der Kantone und der OdA voraus. In letzter Instanz ist es jedoch der Bund beziehungsweise das BBT, das die Verordnungen erlässt (BBG 2002, Art. 19 Abs. 1). Die BBV von 2003 spezifiziert diesbezüglich: «Das Bundesamt stellt die Koordination mit und zwischen den interessierten Kreisen sowie den Kantonen sicher. Kommt keine Einigung zustande, so entscheidet das Bundesamt unter Berücksichtigung des Gesamtnutzens für die Berufsbildung und allfälliger sozialpartnerschaftlicher Regelungen» (Art. 13, Abs. 4). Eine Schlussbestimmung des BBG hält zudem fest, dass die geltenden kantonalen und eidgenössischen Bildungsverordnungen innert fünf Jahren nach Inkrafttreten des Gesetzes anzupassen beziehungsweise zu ersetzen sind (Art. 73).8
Die Revision der Bildungsverordnungen gehört zu den vorrangigsten der in einem ersten Aktionsprogramm («Masterplan Berufsbildung») aufgeführten Umsetzungsschritte. Am Beispiel von Berufen der Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie (MEM) sollen im Folgenden die für den Erlass von Bildungsverordnungen und Bildungsplänen konstitutiven Regeln und Akteursnetzwerke dargestellt werden. Die Wahl fiel aus zwei Gründen auf diese Branche: erstens, weil diese über ressourcenstarke und gut organisierte Verbandsstrukturen verfügt, und zweitens, weil in diesem Bereich zwei Untersuchungen existieren, deren Sekundäranalyse Auskunft über allfällige Veränderungen der Erarbeitungsprozesse ermöglicht.
Das Beispiel der MEM-Berufe
Charbel Ackermann hat in seiner rechtswissenschaftlichen Dissertation von 1984 anhand der Entstehung und Durchsetzung von Ausbildungsreglementen unter anderem auch für Werkzeugmaschinen- und verwandte Berufe den Vollzug des schweizerischen Berufsbildungsrechts untersucht. Er bezieht sich in seiner Arbeit auf Ausbildungsreformen, die Ende der 1960er-Jahre in Angriff genommen wurden, deren Ausführung sich dann aber bis nach 1977 erstreckte, als das damals gültige BBG 1963 revidiert wurde. Bei der zweiten Untersuchung, die hinzugezogen wird, handelt es sich um die neuere Lizentiatsarbeit von Lea Zehnder (2011); sie hat die Rolle der Akteure bei der Entwicklung von Berufsbildern, unter anderem zu MEM-Berufen, anlässlich der aktuellen Berufsbildungsreform zum Gegenstand.
Vergleicht man den Aushandlungsprozess bei der Erarbeitung der Bildungsverordnungen, wie ihn beide Studien aufzeigen, lassen sich Änderungen der institutionellen Verfahrensregeln feststellen. Ganz offensichtlich hat die Rolle des Bundes gegenüber den Arbeitgeberverbänden eine deutliche Stärkung erfahren, was nicht zuletzt in der Schaffung eines eigens mit Berufsbildung befassten Bundesamtes, des Bundesamts für Berufsbildung und Technologie (BBT), ersichtlich wird. So konnte Ackermann (1984) die Tätigkeit des Bundes mit Bezug auf die Ausbildungsreglemente noch als «Verwaltung auf Antrag» und den Vollzug des BBG durch das BIGA insgesamt als «Vollzug auf Antrag» bezeichnen (Ackermann, 1984, S. 96). Demgegenüber stammen zwar nach Zehnders Urteil die Impulse für die Reform immer noch von den OdA – genauer: von den Arbeitgeberverbänden; dass aber insgesamt eine Ungleichverteilung von Macht zugunsten der Behörden den Aushandlungsprozess prägt, legen im von ihr untersuchten Fall unter anderem Rückgriffe der OdA auf Exit-Drohungen nahe.
Die Abläufe bei der Erarbeitung von Bildungsverordnungen und der Einbezug der Partner in den verschiedenen Phasen werden heute im «Handbuch Verordnungen» des BBT (2007) Schritt für Schritt definiert. Im Vorwort liest man dort denn auch, dass die erste Phase, also die Analyse, bei der Erarbeitung einer neuen Verordnung sich als entscheidend erwiesen und deshalb eine «Neugewichtung» der Rolle des BBT stattgefunden habe: «Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des BBT begleiten und unterstützen die Trägerschaft künftig stärker von Beginn an» (S. 4).
Dies ist ein deutlicher Unterschied gegenüber der Situation vor dreissig Jahren, musste sich doch das BIGA anlässlich der Erarbeitung der BBV zum BBG von 1978 noch für einen Artikel einsetzen, der den Verbänden vorschrieb, vor der Ausarbeitung eines neuen Entwurfs zu einem Ausbildungsreglement mit dem Bundesamt Kontakt aufzunehmen (BBV 1979, Art. 14). Tatsächlich zeigt das Fallbeispiel der Werkzeugmaschinen- und verwandten Berufe Ende der Sechzigerjahre, dass eine solche Konsultation nicht üblich war. Das BIGA nahm in dem von Ackermann beschriebenen Prozess lediglich eine reagierende Position ein. Es war der Arbeitgeberverband Schweizerischer Maschinen- und Metallindustrieller (ASM), der im Alleingang die Entwürfe ausarbeitete. Das BIGA erteilte dem Projekt seine vorläufige Genehmigung, ohne jedoch die obligate Vernehmlassung einzuleiten (Ackermann, 1984). Erst im weiteren Verlauf des Projektes Mitte der Siebzigerjahre zeigte das BIGA vereinzelt Initiative bei der Verhandlungsführung und beim Einbezug weiterer interessierter Akteure. Da der ASM seine Entwürfe jeweils selbst vorab den Branchengewerkschaften vorlegte, verzichtete das BIGA allerdings darauf, die Gewerkschaften zu konsultieren. Das ist nicht unerheblich, weil dadurch der den ASM nicht bindenden internen Vernehmlassung ein unverhältnismässiger Stellenwert zugesprochen wurde (Ackermann, 1984).
Die Abhängigkeitsverhältnisse zwischen den Hauptakteuren im Erarbeitungsprozess von Ausbildungsreglementen waren im Fall der ressourcenstarken und professionell organisierten MEM-Berufsverbänden kapazitätsbedingt. Hat ein Verband auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt zudem eine starke Stellung, so muss die Verwaltung beim Erlass von Ausbildungsreglementen die Anliegen des Verbandes berücksichtigen, da dieser auch die Möglichkeit hat, die Ausbildung selbstständig durchzuführen (Ackermann, 1984). Wenn die Rekrutierungsbedürfnisse der Betriebe und der Branchen ohne das staatliche Zertifikat gedeckt werden können, haben die Verbände eine starke Position in den Aushandlungsprozessen. Schliesslich können Betriebe Anlehren aufgrund von Lehrverträgen ausschliesslich nach Obligationenrecht durchführen. «Dieses Bild einer klaren Dominanz der Berufsverbände über die Verwaltung beim Erlass der Ausbildungsreglemente», so Ackermann, «ändert sich nur in Branchen und Berufsbereichen mit sehr schwacher Organisierung» (Ackermann, 1984, S. 130).
Gerade in den grösseren Branchen ist es in den vergangenen Jahren zu Änderungen der Kräfteverhältnisse gekommen; das lässt sich an den MEM-Berufen deutlich aufzeigen (vgl. Glättli, 2009): Konnte zum Zeitpunkt der Untersuchung von Ackermann die ASM die Revision der Ausbildungsreglemente quasi im Alleingang an die Hand nehmen, ist inzwischen – als Konsequenz von Art. 8 des BBG 2002 zur Sicherstellung der Qualitätsentwicklung durch die Berufsbildungsanbieter – jede Branche angehalten, mit der Bildung einer «Kommission Berufsentwicklung und Qualität» (SKOBEQ) eine ausgeglichene Vertretung der zugehörigen Branchenorganisationen sicherzustellen. Ebenfalls Einsitz in der Kommission haben neben der Lehrerschaft je eine Vertretung des BBT und der SBBK.
Die Kantone, deren Bedeutung bei der Vernehmlassung von Ausbildungsreglementen früher marginal war, haben in der Wahrnehmung von Rolf Dietrich, dem Präsidenten der SBBK-Kommission Berufsentwicklung von 2001 bis 2010, mit der Schaffung dieses Gremiums deutlich an Gewicht gewonnen (Dietrich, 2011). Diese Stärkung verdankt sich einerseits der Tatsache, dass durch die vorgängige Konsensfindung in der Kommission die Kantone geeint auftreten können. Wenn «die Kommission heute – als Konsequenz der gelebten Verbundpartnerschaft – den Berufsentwicklungsprozess von Beginn weg bis zur Inkraftsetzung einer neuen Verordnung» begleitet (Dietrich, 2011, S. 14), schlägt sich dies auch in den Bildungsplänen nieder, deren Regelungsdichte gerade auch in Bezug auf die Ausbildung in den Lehrbetrieben Dietrich begrüsst.