Einblick in die aktuelle Situation bei der Ausarbeitung der Bildungsverordnungen und Bildungspläne sowie allfällige Machtverschiebungen zwischen den Akteuren gibt die Untersuchung von Zehnder (2011). Nach den Interviews, die sie geführt hat, sieht sich der Bund beziehungsweise das BBT in erster Linie in der Vermittlerrolle; gleichzeitig wird ihm von den übrigen Akteuren ein deutlicher Führungs- und Lenkungsanspruch attestiert und auf das einseitige Abhängigkeitsverhältnis vom BBT hingewiesen, dem im Konfliktfall der Entscheid zukommt. Den Kantonen wird wiederum von den OdA zunehmende Macht und Einflussnahme zugeschrieben. Innerhalb der OdA herrscht die Wahrnehmung eines generellen Steuerungsanspruchs aufseiten der Arbeitgebervertreter vor.
Im Gegensatz zu früher lässt sich nun dem BBT sowohl in der Fremd- wie in der Selbstwahrnehmung eine klare Handlungsorientierung im Hinblick auf die Ausgestaltung der Bildungsverordnungen und -pläne attestieren: Das BBT verfolgt als Hauptziele Uniformität und Sicherstellung der gesetzlichen Rahmenbedingungen, inklusive juristischer Korrektheit der Formulierungen. Konflikthafter ist das zweite Hauptziel, nämlich die Durchsetzung selbst gesetzter pädagogischer und methodischer Normen in der Konzeption der Berufe. Aufseiten der Kantone9 dominieren eindeutig praktische Kriterien und die Kostenfrage bei der Umsetzung, also Finanzierbarkeit sowie Klarheit und Handhabbarkeit der Normtexte. Wird von diesem Akteur also ein möglichst geringer reglementarischer Spielraum gefordert, stehen aufseiten der Arbeitgeber Flexibilität, inhaltliche Vielseitigkeit der Berufsbilder mit möglichst feiner vertikaler Differenzierung der Ausbildungsniveaus im Vordergrund. Hinzu kommt das Interesse an vergleichbaren Ausbildungsstrukturen innerhalb der Branche. Auf Arbeitnehmerseite lassen sich als Präferenzen Verhältnismässigkeit der Anforderungen und Durchlässigkeit zwischen den Ausbildungsstufen festhalten. Artikuliert wird zudem ein Interesse an guten, sicheren Arbeitsbedingungen. Die Belange der ebenfalls den OdA zuzurechnenden Lehrpersonen schliesslich richten sich vornehmlich auf ausbildungsinhaltliche Aspekte. Zusammenfassend liessen sich bei den Verbundpartnern folgende Interessen und Handlungsorientierungen eruieren:
Bund/BBT: pädagogische Orientierung;
Kantone: Praktikabilität im Verwaltungsvollzug, vor allem Finanzierbarkeit;
OdA/Arbeitgeber: Flexibilität, Praktikabilität im Betrieb (Sicherstellung der Ausbildungsbereitschaft);
OdA/Arbeitnehmer (und Lehrpersonen): Bedürfnisse und Zukunft der auszubildenden jungen Menschen, insbesondere auch der schulisch schwachen.
Trotz dieser Differenzen inhaltlicher und strategischer Art beurteilen die Beteiligten den neuesten Reformprozess insgesamt positiv (Zehnder, 2011). Gewürdigt wird vor allem dessen systematische und klare Strukturierung, zu der das «Handbuch Verordnungen» des BBT einen wesentlichen Beitrag leistet. Im Fall der MEM-Berufe zeigt sich gegenüber vorangehenden Ausbildungsreformen ein deutlicher Unterschied darin, dass nun nicht mehr die Arbeitgeberseite, sondern der Bund als impulsgebender Akteur auftritt. Vorteile, die aus dessen Federführung resultieren, vor allem im Hinblick auf die formale Ausgestaltung der Normtexte (Vergleichbarkeit, Kohärenz, Korrektheit usw.), finden durchwegs Wertschätzung.
Verbundpartnerschaft: Rhetorik oder Realität?
Die verbundpartnerschaftliche Trägerschaft bildet gewissermassen das Grundprinzip der schweizerischen Berufsbildung. Sie ist verankert in institutionellen Regeln oberster Ordnung wie Föderalismus, Korporatismus und Konsensdemokratie und kann deshalb als ein äusserst stabiles Charakteristikum bezeichnet werden. Zugleich deuten die Diskussionen der jüngeren Vergangenheit und die in Angriff genommenen Reformen auf Transformationen, welche die Verteilung der Steuerungsmacht der drei Hauptakteure wesentlich betreffen. Zugunsten der Stärkung seiner Rolle kann der Bund Internationalisierungstendenzen im europäischen Arbeits- und Bildungsraum anführen, also die Notwendigkeit der Herstellung nationaler Kompatibilität. Mitunter dürfte die zeitliche Situierung der Problemdefinition und Politikformulierung in den Neunzigerjahren dazu beigetragen haben, die Krise der Berufsbildung vornehmlich als Steuerungskrise zu definieren und mit den entsprechenden Mitteln anzugehen. Damals war nämlich, so lässt sich rückblickend feststellen, just der Zeitpunkt, in der die Governance-Perspektive ultimativ Einzug in die politische und administrative Praxis hielt und insbesondere auch im Bildungsbereich breit rezipiert wurde.
Rasch war deshalb klar, dass dem Lehrstellenmangel beziehungsweise dem Rückgang der Zahl abgeschlossener Lehrverhältnisse sowie deren Ursachen mit einer dezidierten Bundespolitik begegnet werden musste. Als zentrales Anliegen kristallisierte sich im «Bericht des Bundesrates über die Berufsbildung» von 1996 die Definition und Wahrnehmung neuer Steuerungsaufgaben heraus. Dies berührte den Kern der traditionellen verbundpartnerschaftlichen Kompetenzverteilung in der Berufsbildung, und entsprechend umstritten waren die diesbezüglichen Punkte in der Vernehmlassung des ersten bundesrätlichen Entwurfs eines neuen BBG. Ablehnung fand auch ein neu einzuführender Innovations- bzw. Berufsbildungsrat, der einen fassbaren Ausdruck des Steuerungsanspruches des Bundes darstellte. Die Verankerung dieses Rats im BBG wurde zuletzt anlässlich der ständerätlichen Überprüfung des Gesetzestextes abgewendet; die ihm zugehörigen Befugnisse wurden dann allerdings in weiten Teilen der bereits bestehenden Berufsbildungskommission übertragen.
Die «Verbundpartnerschaft» wird in erster Linie von staatlicher Seite angeführt. Dies lässt sich – gerade durch die allgegenwärtige Bezugnahme – im Sinn eines vagen (rhetorischen) Kompensationsangebots angesichts der (expliziten) Übertragung strategischer Entscheidungs- und Steuerungsmacht an den Bund bzw. das BBT und einer insgesamt stärkeren Reglementierung der Berufsbildung auf staatlicher Verwaltungs- und Behördenebene interpretieren. Diese Verschiebung konnte im Vorangehenden deutlich anhand der Initiierung der jüngsten Revision der Bildungsverordnungen und der von der einstigen Praxis abweichenden (im «Handbuch» des BBT fixierten) Regeln, die den Prozess und die Akteursbeteiligung der Erarbeitung definieren, aufgezeigt werden. Sie kommt aber auch in der Einsitznahme von Behördenvertretungen, insbesondere des BBT, in Gremien wie den Kommissionen «Berufsentwicklung und Qualität» der Branchen zum Ausdruck.
Eine gewisse Abwehr gegenüber der Dominanz des Bundes in der Steuerung der Berufsbildung hat sich bis in die Gegenwart erhalten. Sie wird etwa in den «Magglinger Leitlinien», die 2007 von den Verbundpartnern verabschiedet wurden, deutlich (Verbundpartnerschaft in der Berufsbildung, 2007). Dort wird zwar lediglich wiederholt, was das aktuelle BGG in seinem ersten Artikel statuiert, zugleich verweist dies aber auf die Unzufriedenheit von Kantonen und gewissen OdA mit der Umsetzung des Postulats der Zusammenarbeit von gleichberechtigten Partnern. Und schliesslich erachtete der SGV in seinem Berufsbildungsbericht 2010 eine «erneute Revision des Berufsbildungsgesetzes» unter anderem deshalb als «zwingend», weil die OdA im Rahmen der Verbundpartnerschaft zu wenig respektiert würden (Schweizerischer Gewerbeverband, 2010, S. 3).
Unterfüttert wird die Kritik gemeinhin mit der Reklamation eines Missverhältnisses zwischen Steuerungsmacht und finanziellem Engagement des Bundes. Dabei gilt: Auch wenn 2012 der vom BBG auf 25 Prozent angehobene Bundesanteil realisiert wird, bedeutet dies nicht, dass der Kritikpunkt ein für alle Mal ausgeräumt ist (vgl. Schweizerischer Gewerbeverband, 2012). Ebenso dürfte der Weg bis zur von der Verfassung postulierten Gleichbehandlung von akademischer und berufsbezogener Bildung noch weit sein.
Die Anrufung der «Verbundpartnerschaft» – im Sinne eines identitätsstiftenden Merkmals jenseits von Kompetenzverschiebungen auch gradueller Art (Mahoney & Thelen, 2010) – kann also durchaus an Grenzen stossen. Dies gilt gerade vor dem Hintergrund der starken Verankerung von Formen kooperativer Regelung und der Handlungskoordination in Akteursnetzwerken, wie sie dem Berufsbildungssektor in der Schweiz eigen ist. Eine mutigere und explizitere Neudefinition dieser Verbundpartnerschaft unter Berücksichtigung damit einhergehender (materieller) Verantwortungen wäre dort angezeigt, wo sie sonst zuweilen eher zum blossen Schlagwort wird.
Literatur
Ackermann, C. (1984). Vollzug und Durchsetzung von Berufsbildungsrecht in der Schweiz. Eine empirische Untersuchung. Dissertation, Universität Zürich.
Amtliches Bulletin. Die Wortprotokolle von Nationalrat und Ständerat.