Die schöpferische Besprechung. Christoph Mandl. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christoph Mandl
Издательство: Bookwire
Серия: EHP - Organisation
Жанр произведения: Зарубежная деловая литература
Год издания: 0
isbn: 9783897975606
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Konsequenzen daraus für die Besprechungen werden aber kaum beachtet. Denn in vielen Besprechungen wird über Ziel I- und Ziel II-Vorhaben in bunter Abfolge geredet. Diese Vermischung bewirkt, dass eine Besprechungsform dominiert, die sich bei Zielen der Kategorie I in jahrzehntelanger Praxis scheinbar bewährt hat. – Ob sie sich wirklich bewährt hat, sei dahingestellt, denn dazu müsste es zumindest zwei Besprechungsmodelle in derselben Organisation geben, sodass diese erprobt und miteinander verglichen werden können. Bemerkenswerterweise ist innerhalb einer Organisation aber wenig so durchgängig einheitlich wie die Art der Besprechung.

      Begrifflichkeiten sind wie Bilder. Ein bestimmter Begriff erzeugt in uns, meist ohne dass wir uns dessen wirklich bewusst sind, eine Vorstellung. Und diese Vorstellung wiederum bewegt uns, die Realität zu kreieren, die zu unserer Vorstellung passt. Eine produktive Besprechung ist eine Besprechung, die produktiv ist. Produktiv bedeutet, ein Produkt oder eine Dienstleistung in möglichst kurzer Zeit, in gleich bleibender Qualität und mit möglichst geringem Mitteleinsatz zu erbringen. Diese Vorstellung von Produktivität ist beinahe universell; vermutlich weil bereits Anfang des 20. Jahrhunderts ein Konzept hierfür entwickelt wurde, die so genannte wissenschaftliche Betriebsführung.33 Dieses Konzept wurde seitdem kontinuierlich weiterentwickelt und nimmt in allen Unternehmen einen zentralen Stellenwert ein. Auf höhere Produktivität zu setzen gilt als strategischer Wettbewerbsvorteil.

      In dem Maße, in dem Besprechungen zunahmen und damit ihr Anteil am gesamten Mitteleinsatz der Unternehmen immer größer wurde, mussten auch Besprechungen immer produktiver werden. Die verbreitete Vorstellung von »Produktivität« wurde den Besprechungen übergestülpt. Besprechungen sind dann produktiv,

      – wenn sie dazu führen, dass ein Produkt oder eine Dienstleistung in möglichst kurzer Zeit mit möglichst wenig Mitteleinsatz erzeugt bzw. erbracht wird, und

      – wenn die Besprechung selbst in möglichst kurzer Zeit mit möglichst wenigen Personen stattfindet.

      Eine beinahe archetypische Besprechung ist der wöchentliche Jour fixe zur Arbeitsvorbereitung in der Produktion oder am Bau. In dieser Besprechung werden die zu erledigenden Arbeiten besprochen und abgestimmt, außerdem wird festgelegt, wer was wann und wie macht. – Immer wieder stellen wir mit Erstaunen fest, dass die meisten Menschen, auch jene, die nie in einem Produktionsbetrieb tätig waren, dieses archetypische Bild einer produktiven Besprechung in sich tragen und ihre aktuellen Besprechungserlebnisse damit vergleichen. Besprechungen, so die verbreitete Meinung, haben produktiv zu sein und wenn sie dies nicht sind, dann sind die daran teilnehmenden Personen unzufrieden.

      Produktive Besprechungen sind wesentlich, um Produkte oder Dienstleistungen (wieder und wieder) möglichst effizient und damit kostengünstig herzustellen. Aber um Neues hervorzubringen – also für Ziel II-Vorhaben – sind sie unpassend, mitunter sogar kontraproduktiv.

      Um Neues hervorzubringen genügt es nicht, Kreativitätstechniken zu verwenden. Diese sind zwar geeignet, vorgegebene Probleme zu lösen. Sie sind indes nicht geeignet herauszufinden, welches Problem überhaupt gelöst werden soll, welches Thema gerade wichtig ist oder welche Aufgabe angegangen werden soll. Menschen, die tief im Lösen eines Problems, im Bewältigen einer Krise stecken, übersehen leicht, dass es immer beliebig viele Probleme und Krisen gibt, aus denen ausgewählt werden kann und muss. Dieser Prozess des Auswählens ist jedoch der wichtigste Aspekt jeder schöpferischen Tätigkeit. Wahrhaft schöpferisch wird eine Besprechung dadurch, dass dieser Prozess des Auswählens eines Problems oder einer Aufgabenstellung selbst Teil der Besprechung ist.

      Noch bevor Sinneseindrücke bewusst wahrgenommen werden, wird gefiltert, welche dieser Sinneseindrücke bedeutsam sind. Das Bewusstsein gaukelt zwar vor, alles wahrzunehmen, tatsächlich erlangt aber nur ein Bruchteil der gesamten Sinneseindrücke das Bewusstsein. Erst danach setzt jener aktive Prozess ein, die Aufmerksamkeit auf die eine oder andere Sache zu konzentrieren.34

      Dieser individuelle Prozess des Filterns und des Lenkens von Aufmerksamkeit spielt sich kollektiv auch in Besprechungen ab. Weil aber jeder Mensch andere Filter der Wahrnehmung hat, können in Besprechungen die unbewussten Wahrnehmungsfilter dadurch auf ein Minimum reduziert werden, dass darüber gesprochen wird, was jede Person für bedeutsam hält. Dem Phänomen des Groupthink wird so vorgebeugt. Aus der Fülle bedeutsamer Themen erhält in einer schöpferischen Besprechung jeweils eines besondere Beachtung, solange, bis die Zeit reif für das nächste bedeutsame Thema ist.35

      Ein wesentliches Merkmal schöpferischer Besprechungen ist, dass es zu grundlegenden Meinungsverschiedenheiten kommen kann, ja kommen muss. Je wichtiger der Gruppe die identifizierten Probleme, Themen oder Aufgaben sind, desto emotioneller werden solche Meinungsdifferenzen – bis hin zu persönlichen Konflikten. In produktiven Besprechungen hingegen sind Meinungsdifferenzen unerwünscht, werden als Hindernis gesehen und beseitigt.

      In Ziel II-Vorhaben sind aber solche Meinungsdifferenzen viel zu wichtig, um sie zu negieren oder einfach einer Sichtweise den Vorzug zu geben. Neues entsteht, wenn Ideen, Kenntnisse und Erfahrungen verschiedener Personen in den Entstehungsprozess einfließen. Je konträrer die Ideen, Kenntnisse und Erfahrungen zunächst sind, desto radikaler ist das daraus entstehende Neue, wenn, ja wenn die beteiligten Personen es schaffen, ihre unterschiedlichen Auffassungen und Sichtweisen zu etwas gemeinsamen Neuen zu verbinden, nicht als Kompromiss, sondern als neue Erkenntnis.

      Als Christoph Hochschulassistent an der ETH Zürich war, trafen alle Mitglieder desselben Instituts einander täglich, vormittags und am Nachmittag, für jeweils 20 Minuten zum gemeinsamen Kaffeetrinken. Wer immer am Institut war, der kam, auch Gäste. Sie tranken Kaffee und redeten miteinander. Es gab keine vorgegebene Agenda, deshalb wurde über alles Mögliche gesprochen, aber auch über die unterschiedlichen Forschungsvorhaben. Die Gespräche waren freundschaftlich und von einem Klima gegenseitigen Interesses getragen. Für neue Doktoranden, so auch für Christoph, war die zentrale Frage, worüber die Doktorarbeit handeln sollte. Niemand hatte darauf eine direkte Antwort. Diese Frage war auch auf keiner Tagesordnung so genannter Institutsbesprechungen. Aber in diesen Pausengesprächen formte sich bei Christoph mit der Zeit das Bild von dem Problem, dem er sich in der Doktorarbeit widmen wollte. Diese Gespräche ermöglichten es ihm auch zu erfahren, wie andere die Bedeutung dieses Themas sahen. Von allen Gesprächen am Institut waren diese die schöpferischsten, denn in ihnen wurden viele der neuen Forschungsideen geboren.

      Gespräche, in denen die daran Beteiligten zu gemeinsamen neuen Erkenntnissen oder Einsichten gelangen, sind unabdingbar, um Entwicklung, um technologische oder andere Veränderung, um Forschung und um Lernen zu ermöglichen. Solche Gespräche finden in jeder Organisation, die Neues erschafft, statt. Das Bemerkenswerte daran ist, dass es für diese »Besprechung der anderen Art« kein gängiges Wort gibt. In der Philosophie wurde ein solches Gespräch als »Dialog«36 bezeichnet, in der Managementlehre wurden solche Gespräche als »Team-Lernen«37 und in den Ingenieur- und Sozialwissenschaften als »interpretierende bzw. bedeutungsgebende Gespräche«38 bezeichnet. Wir haben uns entschieden, solche Gespräche »schöpferische Besprechung« zu benennen, weil sie schöpferischen Prozessen in Organisationen zugrunde liegen.

      Produktive Besprechungen sind für den Kernprozess Produktion bzw. für die Erbringung einer Dienstleistung notwendige unterstützende Tätigkeiten. Schöpferische Besprechungen hingegen sind bei Entwicklungen bzw. Innovationen der Kernprozesse selbst wichtig. Schöpferische Besprechungen sind daher nicht nur notwendige Voraussetzung für die eigentliche Arbeit, sie sind die eigentliche Arbeit.

      Produktiv sind Besprechungen dann, wenn in möglichst kurzer Besprechungsdauer die zu erledigenden Arbeiten und Aufgaben geklärt, strukturiert und verteilt sind. Ob Besprechungen hingegen schöpferisch sind, ist nicht so einfach festzustellen. Nicht zu jedem Zeitpunkt einer schöpferischen Besprechung ist ersichtlich, ob man dem angestrebten Ziel II wirklich näher gekommen ist. Dies liegt vor allem an der multidimensionalen Qualität solcher Besprechungen:

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