Christoph: Was mich erstaunt, ist, wieso die Sachebene so rasch abgeschlossen werden konnte. Das heißt ja, dass es kaum unterschiedliche Meinungen gegeben hat.
Harald: Bei der Festlegung der Besprechungsteilnehmer fragte man nicht, welche Leute zum Thema die kompetentesten Aussagen beitragen konnten, sondern man lud möglichst diejenigen ein, die mit der eigenen Meinung übereinstimmten. Es war eine gewöhnungsbedürftige Intervention meinerseits, darauf zu bestehen, dass immer der größte Kritiker, den sie zu einem bestimmten Thema benennen konnten, beim nächsten Mal auch dabei war. Das war kulturfremd.
Christoph: Wozu hat das geführt?
Harald: Das hat dazu geführt, dass sie auf der Abteilungsleiterebene länger stritten und dass sie oft keinen Konsens zusammenbrachten. Dann wurde hinterfragt, ob dieses Prinzip gut sei. Ich gehe davon aus, dass man nach meinem Ausscheiden in das alter Muster zurückfiel.
Christoph: Die oberste Ebene ist also Repräsentant von Lobbyinggruppen und muss dann so abstimmen. Das klingt nach einer Plenarsitzung im Parlament.
Harald: Ja, es ging wenig um Meinungsfindung. Das war aber die Schwierigkeit. Jeder kam mit einer durch die Lobbyinggruppen geprägten und verfestigten Meinung zur Sitzung.
Christoph: Wo wurde in dieser Besprechungskultur ein Meinungs- oder Interessenskonflikt offen ausgetragen?
Harald: Es gab annähernd gleichstarke Lobbys. Das führte dazu, dass in Vorbereitung von Entscheidungen Sachthemen zwischen mächtigen Teilsystemen ausdiskutiert werden mussten. Es war nicht immer ausreichend, aber es war hilfreich, wenn mindestens zwei Lobbys einer Meinung waren. Daher hatten sie Diskussionsbedarf. Auf der nachgeordneten Ebene waren sie auch imstande, mit diesen unterschiedlichen Positionen anzutreten und sich darüber auszutauschen. Aber danach funktionierte das Spiel so, dass, wenn wir uns auf etwas Sinnvolles einigen konnten, das auch für die anderen gut sein musste.
Christoph: Und wo passierte diese Einigung?
Harald: Es gab Opinionleader und wenn die sich auf etwas verständigten, dann waren deren Lobbys so stark, dass sie eine organisationsweite Entscheidung zusammenbrachten.
Christoph: Alles lief unter dem Gesichtspunkt, wie ihr zu Entscheidungen kamt. Aber wie kamt ihr zu einem gemeinsamen Problemverständnis? Wie kamt ihr zu der Erkenntnis, welche die relevanten Probleme waren? Wie kamt ihr zu gemeinsamen Zukunftsbildern und zu gemeinsamen strategischen Zielen?
Harald: In Geschäftsleitungssitzungen kamen solche Diskussionen nicht vor. Das war ja eines der großen Probleme. Zielvorstellungen waren Vorgaben einzelner Meinungsbildner der ersten bis zweiten Führungsebene. Das Thema Strategie spielte sich nicht in formalen Besprechungen, sondern im informellen Austausch unter vier Augen ab.
Christoph: Waren dies Tauschverfahren in Sinne von »Wenn du meine Meinung unterstützt, dann hast du etwas gut bei mir«?
Harald: Es wurde nicht explizit gemacht, aber das war das Prinzip.
Christoph: Du beschreibst eine Gesprächskultur, die den Sinn und Zweck hatte, Entscheidungen zu produzieren. Es klingt wie ein Erfolgskriterium. Wenn man in der Sitzung alle Sachen, die zu entscheiden waren, entschieden hatte, dann war man gut unterwegs. Woher kam dieser immense Fokus auf Entscheidungen?
Harald: Aus der Schwierigkeit der Steuerung einer solch großen Organisation, in der verschiedenste Strömungen repräsentiert werden sollten, man aber keine Form mehr fand, dass diese sichtbar wurden. Es war kaum möglich, die unterschiedlichen Standpunkte zu einem Thema unter einen Hut zu bringen. Damit aber die Organisation handlungsfähig blieb, brauchte sie laufend Entscheidungen.
Christoph: Wie musste jemand in dieser Besprechungskultur agieren, um ein Maximum an Wirkung zu erreichen?
Harald: Du musstest eine ganz hohe Anzahl von Vieraugengesprächen zu ein und demselben Thema führen, damit du die Breite der Organisation erreichen konntest.
Christoph: Wusste man, wer die wirkungsvollsten Personen waren?
Harald: Das wusste man genau. Das machte diese Personen so wertvoll. Andererseits war das problematisch, weil sie überbeansprucht wurden. Diese ›menschlichen Drehscheiben‹ waren in der zweiten oder dritten Führungsebene angesiedelt. Und es lief alles über sie, unabhängig von ihrer Zuständigkeit. Je länger so eine Person in dieser Rolle als Informationsdrehscheibe tätig war, desto losgelöster von ihrer Sachkompetenz wurde sie angesteuert.
Christoph: Du warst so eine Drehscheibe und wurdest dadurch krank. Was war das Krankmachende daran?
Harald: Dieses Hineinwachsen in eine Knotenfunktion war verschleißend. Ich wurde zunehmend in die Entscheidungsvorbereitung involviert. Damit kam ich in immer größeren Verantwortungsdruck. Die Einflüsse der miteinander im Clinch liegenden Lobbys auf mich wurden größer. Ich wurde nach allen Richtungen gedehnt und zerrissen. Der Versuch der Vereinnahmung war teilweise intensiv. Als ich ein Informationsknoten wurde, begann das Spiel, an mir zu zerren und zu reißen: »Dort blockieren wir dich, wenn du da nicht mit uns gehst. Du willst, dass wir da mit dir gehen? Dann wollen wir aber, dass du in den und den Dingen unsere Sicht der Dinge vertrittst.«
Das musste ich auch zeitlich durchstehen. Ich hatte bis zu acht Vieraugengespräche an einem Tag. Jeder bilaterale Termin dauerte zwar nur maximal eine Stunde, aber ich musste auch die formalen Kontakte abwickeln. Da ich mit Entscheidungsträgern zu tun hatte, war das ein 24-Stunden-Job. Es wurde immer aufwendiger, alle diese Deals einzuhalten. Es war eine Exponentialkurve: Die ersten Deals konnte ich klar und sachlich richtig abschließen. Dann explodierte die Zahl der Sachzwänge. Da war ich mit diesem unter einem Hut, dort mit jenem. Das alles passte aber schließlich nicht mehr zusammen.
Christoph: Diese Knotenpersonen haben eine machtvolle Position, weil sie die Dinge überproportional stark beeinflussen können. Aber der Preis ist, dass sie gleichzeitig Träger der Interessenskonflikte sind, die nicht in den Besprechungen ausgelebt werden. Je mehr Konflikte es gibt, desto mehr wird dieser Knoten belastet. Gibt es Leute, die das durchhalten?
Harald: Einige Kollegen, die wie ich solche Informationsknotenfunktionen hatten, bekamen gesundheitliche Probleme. Es gab auch welche, die an Herzversagen starben. Die Motivation war, dass dies die mächtigste Funktion war, die ich je wahrzunehmen hatte. Ich erhielt die einmalige Chance, Dinge zu bewegen, die vor mir noch keiner bewegen konnte. Ich brachte die Entscheidung über die Neuaufteilung der Finanzmittel zwischen den Bereichen zusammen. Als ich kam, sagten alle, dass dies ein unlösbares Problem sei. Aber in jener Sitzung, wo mein Vorschlag von den Granden abgesegnet wurde, brach ich körperlich ein: Ich stand aus der Sitzung auf und fuhr mit Herzproblemen ins Spital.
Christoph: Diese Besprechungskultur ist zwar dysfunktional, um mit komplexen Problemen umzugehen, ist aber integraler Bestandteil der Organisation. Sie sind von dieser Kultur abhängig und wenn du ihnen diese wegnimmst, ist es wie bei einem Alkoholiker, dem du den Alkohol wegnimmst.
Harald: Ja, aber die Frage ist, ob sich parallel zu der dysfunktionalen, aber systemerhaltenden Entscheidungskultur etwas entwickeln lässt, in dem Strategie und Zieldefinition behandelt werden können. Dann hätte man einen Hebel, mit dem die Reform der Organisation diskutierbar würde. Sie tun sich deswegen schwer, über die Organisationsreform zu diskutieren, weil das ein anderes Miteinander-Reden bedingt. Es reicht nicht, dass ich in einem Meeting, wo ich mich über die Reform der Organisation unterhalte, meinen