Durch den Tod von Basilius und den Rücktritt von Gregor findet das Leben des jungen Evagrios eine neue Wende.70 Der endgültige Wendepunkt trat ein während seines Dienstes unter Nektarios, vermutlich wegen einer Liebesaffäre mit einer verheirateten Frau aus der aristokratischen Klasse, oder wie Bunge es darstellt: „Um einer möglichen Affäre mit der Frau eines hohen kaiserlichen Beamten der Stadt zu entgehen“.71 An anderer Stelle heißt es: „Die Frau eines hohen kaiserlichen Beamten verliebt sich in den glänzenden und gut aussehenden Redner, der sich seiner selbst ebenfalls nicht mehr sicher ist. Ein psychologisch hochinteressanter Traum, den Evagrios später einem Vertrauten erzählte, erzwingt die Lösung des Konfliktes: Flucht.“72 Dem Rat des Engels in dem Traum folgend, verließ Evagrios die Stadt und ging nach Jerusalem, wo er im Doppelkloster des Rufinus und der Melania der Älteren aufgenommen wurde.73 Die römische Adelsdame beeinflusste Evagrios nachhaltig, sodass dieser ihr in seinem späteren Leben sehr dankbar gewesen ist. Zum Beispiel erkrankte er an einem schlimmen Fieber, das anscheinend nicht heilen wollte und ihn beinahe das Leben kostete. Erst nachdem er seine Geschichte Melania erzählt hatte, konnte sie wegen ihrer ‚erfahrenen Menschenkenntnis’ vermuten, dass seine Krankheit eine Form der Strafe dafür war, dass Evagrios vor dem Engel in Konstantinopel einen Eid abgelegt, ihn aber anscheinend nicht eingehalten hatte. Daraufhin ließ sie ihn versprechen, dass er den Eid leisten solle, indem er ein klösterliches Leben beginne. Es ist überliefert, dass er nach diesem Versprechen wieder gesund geworden sei und anschließend 383 seine klösterlichen Gewänder von Rufinus erhalten habe. Schließlich entschloss er sich, nach Ägypten zu ziehen.74 „Evagrius ist also erst als reifer Mann, und nicht einmal ganz freiwillig, Mönch geworden.“75 So kommentiert Bunge die Ereignisse, die zu Evagrios Aufnahme des Mönchlebens geführt hatten.
Mit seinem „selten feinen psychologischen Empfinden und analytischen Scharfblick“76 verfasste er in der Wüste seine Schriften. Besonders hier erweist er sich als Schriftsteller, Mystiker, Asket, Kopist, geistlicher Lehrer und biblischer Exeget.77 Kevin Corrigan beschreibt ihn als: “A pioneer of monastic theology; the creator or developer of the seven deadly sins tradition; a father of cognitive psychology; an upholder of Nicene Orthodoxy”.78 Die positiven Attribute des Evagrios spiegeln nicht angemessen wider, wie er in der Geschichte dargestellt wurde. Die Ansichten über ihn erstrecken sich von Evagrios als Heiligem bis hin zum Häretiker. Die heute vorwiegende Meinung über Evagrios und seine religiösen Ideen werden besonders von Bunge in seinen Werken über Evagrios zum Ausdruck gebracht. Hier versucht Bunge die damaligen Lebensumstände und die Themen jener Zeit ausführlich wiederzugeben, um den Zugang zum wahren Evagrios herzustellen.79
Zum gespaltenen Verhältnis gegenüber Evagrios kam es wegen der Ereignisse, die er kommen sah, selber aber kaum miterlebte. Nach seinem Tod mussten viele seiner Gefährten wegen einer innerkirchlichen Verfolgung fliehen.80 150 Jahre nach seinem Tod wurde er auf dem 5. Ökumenischen Konzil von Konstantinopel als Origenist81 verurteilt, was Auswirkungen auf Evagrios’ Werke hatte: Einige seiner Werke mussten wegen der Verfolgung entweder versteckt oder unter anderem Namen veröffentlicht werden. Viele seiner Schriften liegen daher nicht in der ursprünglichen Sprache vor. Erst in den letzten Jahren werden einige der Werke als diejenigen von Evagrios anerkannt oder identifiziert.82 In Syrien hingegen hatte Evagrios eine große Anhängerschar, und seine Werke konnten daher dort unter seinem eigenen Namen veröffentlicht werden, was woanders nicht möglich war.83
Die im Folgenden vorgeführten Argumente, die zur Verurteilung des Evagrios geführt haben, zeigen, dass es hier weniger um dogmatische Fragen ging, sondern eher um ein ‚argumentum ad hominem’, welche aber unter unklaren Prämissen geschah, weil Evagrios anscheinend missverstanden wurde. Das ist nachvollziehbar, wenn uns bewusst wird, dass Feindschaften unter Personen in dieser Zeit ziemlich große Auswirkungen haben konnten, auch wenn es dabei um den Glauben ging.84 Entsprechend verhielt es sich auch bei Freundschaften: Menschen, die sich einander freundschaftlich verbunden fühlten, übernahmen auch die geistigen Positionen der anderen, ohne sehr auf deren Bedeutung zu achten. Auch gilt: Wenn du mein Freund bist, dann sind deine Feinde auch meine Feinde! So kämpfte zum Beispiel Hieronymus, der vorher Rufinus wohlgesonnen war, gegen Melania und Evagrios ‚kämpfte“, weil diese nicht gut auf Epiphanius zu sprechen waren, während er mit Hieronymus alliiert war.85 Eventuell erklärt das, warum Epiphanius oder Hieronymus gegen die ‚Origenisten’ waren, ohne aber vorher in direkten Kontakt mit ihren Schriften gekommen zu sein.86
Nach Bunge kam es zu einer schnellen Verurteilung des Evagrios, weil er „als eine der Hauptinspirationsquellen der ‚origenistisch’ gesinnten Mönche des Palästinas jener Zeit galt.“87 Der Benediktiner Jeremy Driscoll beschreibt die Schriften Evagrios’ als „intentionally enigmatic“88, und Bunge als: „Die verhüllende Sprechweise der ‚gnostischen’ Schriften des Evagrios“89, welche leicht missverstanden werden könnten.90 Die Interpretation von Evagrios’ Lehre durch die besagten Mönche führte zur Verschärfung der origenistischen Krise.91
In seiner Analyse von Evagrios’ Werken bemerkt Bunge die origenische Prägung von dessen Ideen, aber auch, dass – obwohl er mit den Schriften von Origenes vertraut war – Evagrios zurückhaltend war, wenn es darum ging, ihn mit Namen zu erwähnen. Dies war nicht der Fall bei einigen großen Alexandrinern,92 beispielsweise erwähnt Evagrios Basilius mit aller Offenheit.93 Origenes beeinflusste in der Zeit von Evagrios nicht nur diesen, sondern das ganze Denken der Zeit. Dies gilt auch für die Philosophie von Platon und Aristoteles.94 Auffällig ist, dass auch Evagrios von Menschen nicht namentlich zitiert wird, die die Origenisten verurteilt hatten. Zum Beispiel wird Palladios, der mit Evagrios befreundet war und sich offen zu Origenes bekannte, als Origenist durch Hieronymus und Epiphanius verurteilt, der aber Evagrios nicht in Zusammenhang mit der origenistischen Krise erwähnt.95 Hinzu kommt, dass beim Konzil von 553 weder Evagrios noch Origenes namentlich in Bezug auf die Anathemen genannt werden.96 Wie vorher angedeutet, wenn jemand mit Evagrios gleichgesinnt war, wäre es sehr wahrscheinlich gewesen, dass er mit ihm in Verbindung gebracht werden könnte, insbesondere weil Evagrios eine gewisse Autorität seiner Zeit war.97 Die Tatsache, dass Evagrios selbst den Origenes nicht erwähnt, spricht dafür, so Bunge, dass er sich selbst nicht als Origenist sah, obwohl zum Beispiel auch Hieronymus ihn als einen solchen einstufte.98 Mit Blick auf Evagrios’ Verbindung zu der ‚rechtmäßigen’ Lehre der Kirche und ihre theologischen und geistlichen Vertreter sowie sein Bild von sich selbst weist Bunge vehement darauf hin, dass diese auch heute berücksichtigt werden solle:
Wie er sich in seinen asketischen Schriften auf seine Lehrer Makarios den Großen und Makarios den Alexandriner beruft, so beruft er sich in seinen spekulativen Schriften auf die Säulen der nizänischen Orthodoxie, allen voran seine persönlichen Lehrer Gregor von Nazianz und Basileios den Großen, dann auch auf Athanasios, Serapion von Thmuis und seinen Zeitgenossen Didymos den Blinden. Daraus ergibt sich für die moderne Kritik die Verpflichtung, das Werk des Evagrios so zu lesen und zu deuten, wie es verstanden werden will, d.h. im Geiste der nizänischen Orthodoxie, so wie sie von den genannten Vätern am Ende des 4. Jahrhunderts gelehrt wurde. Und zwar mit Einschluss all jener Fragen, die Gregor von Nazianz als „Offen“ bezeichnet hatte, und über die auch unter den orthodoxen Vätern der Zeit unterschiedliche Ansichten gang und gäbe waren. M. a. W. Evagrios hat ein Anrecht darauf, auf die nizänische Orthodoxie hin und nicht von ihr weg interpretiert zu werden.99
Bunge argumentiert