Man muss auch die Unterschiede zwischen den Dämonen erkennen und sich ihre zeitlichen Umstände merken […]. Dies zu wissen ist notwendig, damit wir, wenn die Gedanken anfangen, ihren eigenen Stoff anzuregen, noch ehe wir allzu weit aus unserem eigenen Zustand hinausgeworfen worden sind, etwas wider sie vorbringen und den anwesenden (Dämonen) kenntlich machen.176
Nach Robert E. Sinkewicz ist die Fähigkeit zur Selbstbeobachtung dabei unverzichtbar. In seinem Kommentar zu Evagrios’ ‚Abhandlung über Gedanken’ (Thoughts) beschreibt er ‚Beobachtung’ als spirituelle Übung zum besseren Bewusstwerden der eigenen Gedanken (im Sinne von Leidenschaften). Ein angemessenes ‚Ich-Bewusstsein’ kommt nicht zustande, indem die dunkle Seite der eigenen Person oder der Gedanken ignoriert wird. Im Gegenteil – der Mensch darf die Leidenschaften zulassen, damit er sie überhaupt beobachten kann. So kann er durch die Beobachtung der Leidenschaften wissen, wie er mit ihnen umgehen kann, wenn sie die Ober- hand über ihn zu gewinnen drohen.177 Dadurch wird es für den Menschen einfacher, die Leidenschaften zu bändigen; denn eine genaue Beobachtung der Leidenschaften führt dazu, dass die richtigen Methoden angewendet werden, die für den Umgang mit der jeweiligen Leidenschaft geeignet sind. Das bedeutet zum Teil, dass durch die Verinnerlichung dieses Bewusstseins die innere Verfassung des Menschen so ausgerichtet wird, dass sie unabhängiger von den Leidenschaften wird.178
1.4.5.1. Apatheia (oder Leidenschaftslosigkeit)
Evagrios warnt davor, die eigene geistliche Entwicklung als Verdienst unseres Tuns zu feiern. Nach ihm ist jede Tugend, jedes Wissen, jeder Sieg über die Leidenschaften eine Gnade Gottes. Nur durch diese Gnade kann der Mensch zur wahren Erkenntnis und zum Heil gelangen.179 Der menschliche Anteil daran ist keinesfalls Ersatz für den Glauben, im Gegenteil. Bunge kommentiert dazu:
Allerdings hat es mit dieser Wüstenväterpsychologie eine besondere Bewandtnis. Sie ist keine Spezialwissenschaft, vergleichbar der modernen Psychologie und Psychoanalyse, sondern integraler Bestandteil dessen, was die Alten ‚Erkenntnis’ nannten. Dies als Frucht göttlicher Gnade und menschlichen Mühens verstandene christliche „Gnosis“ umfasst Physik und Metaphysik, Philosophie und Theologie, Praxis und Theorie in einer großartigen Zusammenschau der geschöpflichen Wirklichkeit.180
Nach Bunge ist die Rolle der Gnade durch die Heilstat Jesu bei Evagrios bisher kaum erkannt worden. Für Evagrios ist der Kampf gegen die Leidenschaften bzw. die Dämonen ohne den Glauben an Gottes Beistand gotteslästerlich, weil damit Gottes Sieg über das Böse und Satan aberkannt werde.181 Nur wer sich selbst beobachtet und in Vertrauen auf Gottes Hilfe die Leidenschaften zu Tugenden macht, kann in den Zustand der Leidenschaftslosigkeit gelangen.
Der bewusste Umgang mit den Leidenschaften ist lediglich ein Schritt, in dem der Mensch sich bereit erklärt, Gottes Gnade zu empfangen.182 In den Worten des Thomas von Aquin in seinem Hauptwerk, der Summa Theologica, ist „die Vorbereitung zur Gnade nichts anderes als das Sich-Hinwenden zu Gott“183. Thomas verwendet die Stelle beim Propheten Sacharja 1, 3: „Kehrt um zu mir – Spruch des Herrn der Heere –, dann kehre ich um zu euch“. Diese Zeile des Propheten bedeutet, „dass der Mensch sich durch sich selbst zur Gnade vorbereiten kann ohne die Hilfe der Gnade.“184 Thomas bleibt aber nicht dabei; er verweist auf eine Stelle im Evangelium nach Johannes 6, 44: „Niemand kann zu mir kommen, wenn nicht der Vater, der mich gesandt hat, ihn zu mir führt“. Daraus schließt er, dass der Mensch sich selbst nicht zur Gnade vorbereiten könne, ohne die Hilfe der Gnade, denn: „Wenn […] der Mensch sich selbst vorbereiten könnte, brauchte er nicht von einem anderen gezogen zu werden.“185 Schlussfolgernd kommt Thomas zur Überzeugung, dass zur Vorbereitung auf die Gnade Gottes beides notwendig sei: das Wirken Gottes und das eigene Bemühen des Menschen.186 Somit steht auch Thomas von Aquin in der Denkrichtung und der Linie der Theologie des Evagrios.
1.4.5.2. Die Leidenschaften im Einzelnen
In diesem Abschnitt werden die Leidenschaften im Einzelnen behandelt. Zum besseren Vergleich der beiden Standpunkte (Evagrios/Enneagramm) werden dazu die entsprechenden Eigenschaften von beiden vorgestellt. Deshalb wird jede Abhandlung einer Leidenschaft mit der Definition jener Leidenschaft im Enneagramm eingeleitet. Als Hauptquelle dienen dabei die Definitionen bei Riso und Hudson.187
1.4.5.3. Völlerei/Gier/Unmäßigkeit
Riso/Hudson: „Mit Gier ist das Bedürfnis, möglichst viel zu erleben, gemeint. SIEBENEN versuchen das Gefühl innerer Leere dadurch zu überwinden, dass sie sich aufregenden Gedanken und Aktivitäten zuwenden. Sie können aber nie genug davon bekommen.“188
Evagrios: Sowohl Grüns als auch Sinkewicz’ Kommentar über die Völlerei spricht dafür, dass es dabei nicht um ein Übermaß des Essens geht, sondern um den Gedanken, aus Sorge um die eigene Gesundheit nicht fasten zu wollen, oder um die Unlust, wenn es keine Abwechslung beim Essen oder in der Lebensgestaltung gibt. Die Gedanken sind so raffiniert, dass alle Gründe vernünftig erscheinen und daher alle dahinter stehenden tieferen Gründe verborgen bleiben.
In Sinkewicz’ Übersetzung von De vitiis quae opposita sunt virtutibus des Evagrios beschreibt er die Völlerei folgendermaßen:
There is gluttony then, the mother of fornication, nourishing […] the thoughts with words, the relaxation of fasting, the muzzling of ascesis, terror over one’s moral purpose, imagining of foods, picturer of condiments, a dissolute fawn, unbridled madness, a receptacle of disease, envy of health, an obstruction of the throat, a groaning of the innards, the extremity of insults, a fellow initiate in fornication, pollution of the intellect, weakness of the body, wearisome sleep, gloomy death.189
Und weiter: “A glutton’s soul rejoices at the commemoration of the martyrs; that of the abstinent person imitates their lives.”190 Die Völlerei freut sich über Leichtigkeit; das Ernste wird, soweit es geht, vermieden.
1.4.5.4. Wollust/Unzucht/Schamlosigkeit
Riso/Hudson: „Hier ist nicht nur sexuelle Lust gemeint. ACHTEN sind insofern ‚Wollüstige’, als sie dauernd von einem Bedürfnis nach Intensität, Selbstbehauptung und Macht angetrieben werden. Alles soll nach ihrem Willen gehen – auch wenn dabei manchmal die Fetzen fliegen.“191
Evagrios: In Sinkewicz’ Übersetzung von Evagrios´ Werk De vitiis opposita sunt virtutibus beschreibt er das Laster der Wollust wie folgt: “Fornication is a conception of gluttony, that which softens the heart in advance, […] a furnace of lustful burning, an arranger of marriages with idols, unnatural activity, […] dishonouring of prayer, shame of the heart, guide to ignorance.”192 Die Wollust ist besonders schwierig, weil die Befriedigung der Herzenswünsche unterschiedliche Gestalten annimmt. Wenn es der Person nicht gelingt, das Verlangen nach Befriedigung zu beherrschen, wird sie von Traurigkeit und Hoffnungslosigkeit überschattet. Denn es herrscht die Überzeugung, dass mit persönlichen Mitteln das Verlangen nicht gestillt werden kann. Wenn es so weit kommt, dann haben die ‚Dämonen’ ihr Ziel erreicht, nämlich, dass der Mönch sein asketisches Leben aufgibt.193 Eine Annäherung an die Einordnung von Muster ACHT zum Bauchzentrum finden wir bei A. Grüns Kommentar zum Dämon der Wollust bei Evagrios, nämlich, „dass der Dämon der Unzucht direkt in den Leib fährt und ihn in Brand steckt.“194