Eine Analyse der Entwicklungsgeschichte des Enneagramms zeigt, dass das Enneagramm – wie wir es heute kennen – verschiedene Entwicklungsstufen durchlebt hat.16 Zusammenfassend schreiben Don Richard Riso und Russ Hudson: „Es ist ein Hybride, eine Mischung aus mehreren alten Weisheitslehren und moderner Psychologie.“17 Es besteht aus diversen Beiträgen verschiedener Strömungen, die sich im Laufe der Jahrtausende zu einem ganzen System geformt haben. Nach Riso/Hudson „handelt es sich um eine Zusammenfassung des universalen Wissens“18, in der die spirituellen und religiösen Traditionen des Buddhismus, der mystischen jüdischen Geheimlehre der Kabbala, des Christentums und des Islams (vor allem die islamischen Mystiker, die Sufis) vertreten sind.19
Enneagrammatiker machen einen Unterschied zwischen der Entwicklung des Enneagramm-Symbols auf der einen und der Beschreibung der Persönlichkeitstypen, wie wir sie heute kennen, auf der anderen Seite. Obwohl beide uralt sind, sind sie aller Wahrscheinlichkeit nach nicht im gleichen Rahmen entstanden. Dessen ungeachtet, dass das Enneagramm der Persönlichkeitstypen nicht so alt ist wie das Enneagramm-Symbol, sind die Grundideen, die dazu beigetragen haben, dass wir eine Psychologie der neun Typen haben, auch alt.20 „[E]rst in den letzten Jahrzehnten wurden diese beiden Quellen der Erkenntnis [das Symbol und die Persönlichkeitstypen] zusammengebracht.“21 Außer in den Ursprüngen ist dieses „Konglomerat“22 erkennbar in Riso/Hudsons Beschreibung der Zusammensetzung des Enneagramms: „Das Enneagramm ist eine geometrische Figur, in der die neun Persönlichkeitsgrundtypen und deren komplizierte Wechselbeziehungen symbolisch dargestellt sind.“23
Obwohl eine unumstößliche Festlegung des Ursprungs des Enneagramm-Symbols wegen fehlender genauer Überlieferung nicht möglich ist, wird behauptet, dass es schon in der babylonischen Zeit um 2500 v. Chr. entstanden sei. Nach Riso/Hudson sprechen die mit dem Enneagramm verbundenen Ideen weiter dafür, dass sie viel mehr mit dem klassischen Griechenland zu tun haben: insbesondere mit dem mathematischen und geometrischen Wissen, das unter anderem auf Pythagoras, Platon und einige Neuplatoniker hinweist.24
Der US-Amerikaner Michael J. Goldberg schreibt über das Enneagramm als „The Enneagramm styles“25, die so bereits Homer (ca. 750 v. Chr.) gekannt habe, wie wir sie auch heute im Wesentlichen kennen.26 Goldberg spricht nicht explizit vom Enneagramm der Persönlichkeitstypen, sondern über „the nine basic themes“.27 Mit den ‚neun Grundthemen’ zeigt er dann, wie der Dichter Homer in seinen mythologischen Schilderungen den König Odysseus auf dem Weg von Troja nach Ithaka, seinem Zuhause, irrfahren lässt. Auch in dem Roman „Odysseus“ des deutschen Fantasy-Autors Wolfgang Hohlbein28 sind die Schilderungen der Charaktereigenschaften seiner Charaktere auffallend und für diese Arbeit sehr interessant.29 Denn es kann auch bedeuten, dass Homer – obwohl er das Enneagramm in seiner heutigen Form nicht gekannt hat – Zugang zu einer Art ‚Charakterbeschreibungs-system´ hatte. Homer beschreibt die Charaktere so, dass jemand, der das Enneagramm nicht kennt – in diesem Falle Hohlbein –, trotzdem den Eindruck vermittelt, die Beschreibungen seiner Charaktere mit Hilfe des Enneagramms gemacht zu haben.30
Die Ähnlichkeiten zu den Enneagramm-Mustern lassen sich vielleicht so erklären, dass jemand, der den Menschen gründlich studiert, mit oder ohne Enneagramm zu solchen Charakterbeschreibungen kommt. Wenn dies der Fall sein sollte, dann wäre die Behauptung Goldbergs weit hergeholt.
Von wissenschaftlichen Belangen ist bei diesem Vergleich der Enneagramm-Muster mit den „Charakteren“ bei Homer festzustellen, dass sie die ältesten Belege einer Typenbeschreibung in der Weltliteratur sein könnten. Trotzdem ist die Annahme Goldbergs, dass Homer die Typen in dieser Weise gekannt habe, mit Skepsis zu betrachten. Hier können die Charaktere bei Homer auf das Enneagramm nicht eins zu eins übertragen werden. Grund dafür ist, dass es bei Homer nicht nur um neun Figuren, sondern auch darum geht, unterschiedliche Verhaltensweisen und Einstellungen darzustellen. So wie bei Goldberg können dann auch die Enneagramm-Muster daraufhin angepasst werden. Ähnlich kann auch mit anderen Typologien verfahren werden. Obwohl diese Darstellung kaum Handfestes zur historischen Rekonstruktion des Enneagramms beiträgt, kann gezeigt werden, wie durch die Vielseitigkeit des Enneagramms kaum ein Rückschluss auf eine einzelne Quelle bzw. Typenlehre gezogen werden kann.
Es waren unter anderem die mathematisch-spirituell-philosophisch-mystischen Strömungen im Laufe der Jahrtausende, die dazu beigetragen haben, dass die verschiedenen Aspekte der Enneagramm-Lehre sich weiterentwickelten und verbreiteten. Der Austausch von religiösen Ideen und Weltansichten zeigt sich besonders an der Rolle, die die Sufis und die jüdische Lehre der Kabbala in der Nutzung und Weitergabe der Enneagramm-Lehre spielten.31 Denn obwohl das Wissen um das Enneagramm meistens unter Eingeweihten tradiert wurde, blieb es trotzdem nicht innerhalb einer Gruppe. Allerdings kam es erst nach der Erlangung dieses Wissens im Westen durch George Iwanowitsch Gurdjieff (1875-1949), einem griechischarmenischen spirituellen Lehrer, Autor und Komponisten, dazu, dass das „Enneagramm“ den Weg in die breite Öffentlichkeit finden konnte, obwohl es anfangs von Gurdjieff als mündliches Lehrsystem der Sufis betrachtet wurde und nicht für jedermann zugänglich war.32 Einen ‚Bruch’ mit dieser ‚Tradition’ stellt die rasante Verbreitung von Enneagramm-Literatur dar, vor allem in den 1980er Jahren, als die ersten Enneagramm-Bücher auf dem Buchmarkt erschienen.33
1.1. Entwicklung bis zum heutigen Stand
Es gibt kaum eine Enneagramm-Schrift, die sich mit den historischen Hintergründen des Enneagramms befasst, ohne den Namen Gurdjieff zu erwähnen. Trotzdem ist das in Verbindung mit Gurdjieff gebrachte Enneagramm nicht mit dem Enneagramm der Typologien, wie wir es heute kennen, zu vergleichen. Wie schon erwähnt war vor Gurdjieff das Enneagramm-Symbol oder das allgemeine Enneagramm-Wissen keine Typologie, wie sie heute eingesetzt wird. Es war das Verdienst von Personen, die sich mit diesem Wissen auseinandergesetzt und dazu beigetragen haben, dass das Enneagramm-Wissen seine Bahn zur Entwicklung des Enneagramms der Persönlichkeitstypen nahm und seine „Geburtsstunde“ in der breiteren Öffentlichkeit fand. Als erster ist Oscar Ichazo34 zu nennen, dessen Wissen um das Enneagramm als von Gurdjieff unabhängig betrachtet werden kann, obwohl vermutet wird, dass er es aus der gleichen Quelle wie Gurdjieff schöpfte. Das Gemeinsame bei beiden ist, dass keiner von ihnen seine Quelle verraten hat. Vermutlich lernte Gurdjieff dieses Wissen kennen, angespornt von seiner Auseinandersetzung mit esoterischem Wissen, als er mit seinen Gefährten auf einer Suche nach altem Wissen für die Transformation des Menschen war. Mit diesem Ziel stieß er entweder in der Türkei oder in Afghanistan auf das Enneagramm-Symbol.35 Wie Gurdjieff nahm Ichazo das Enneagramm-Wissen auf, vermutlich als er in Kontakt mit den Sufisten gekommen war – unabhängig von Gurdjieff.36 „Als psychologische Typologie wurde [das Enneagramm-Wissen] durch Oscar Ichazo in den 70er Jahren von Bolivien aus in den Westen eingeführt.“37 Bei Rohr/Ebert wird Ichazo als derjenige beschrieben, der in den 70er Jahren das „‚Enneagramm der Fixierungen’ systematisiert[e]“38. Außer seiner systematischen Erarbeitung der vielen Komponenten des Enneagramms, die er aufgeschrieben hatte, konnte Ichazo dieses gesamte Material dem Enneagramm-Symbol zuordnen.39 Daraus schließt Bartels, dass die neue Interpretation und Systematisierung des Enneagramms der Charaktertypologien ein Verdienst Ichazos ist.40 Insofern würdigt Bartels Ichazo als den „Urheber des ‚modernen Enneagramms‘“41. Ichazos Verständnis des Enneagramms basiert auf der Überzeugung, dass im Wesen des Menschen – d.h. in dem, was ihn ausmacht, seiner Grundausstattung – eine Spiegelung der Eigenschaften Gottes auszumachen sei, welche den positiven Teil der Neun Typen des Enneagramms beschreiben.42 Demnach wird ein Bild vom Menschen vertreten, das grundlegend positiv ist. Interessanterweise ist der Ausgangspunkt seiner Typologie nicht die ‚Eigenschaft Gottes im Menschen’, sondern der Katalog der Todsünden, wie sie in der christlichen