Um den finanziellen Kollaps zu verhindern, musste die Nestlé & Anglo-Swiss Ende 1921 in London zusätzliches Kapital in Form von Prioritätsaktien aufnehmen und ein Jahr später das Aktienkapital der Stammaktien von 160 Millionen Schweizer Franken auf 80 Millionen Schweizer Franken halbieren, was zwischen den Aktionären und der Unternehmensspitze zu einem tiefen Misstrauen führte.241 Besonders in der Kritik standen der überdimensionierte Produktionsapparat und das bisherige Unternehmensprinzip, auf den Kondensmilchmärkten mit grossen Umsatzmengen und kleinen Gewinnmargen gute Ergebnisse erwirtschaften zu wollen. Dieses neige notwendigerweise zu konstanter Überproduktion. Insbesondere die Tatsache, dass die Nestlé-Führung das verlustreiche Geschäft in den Vereinigten Staaten und Australien nur reorganisierte und nicht abstiess, sorgte bei den Aktionären für Unverständnis:242 «Der fehlerhafte Riesenaufbau des Organismus [Nestlé-Konzern] muss mit innerer Notwendigkeit wieder zur krankhaften Erweiterung der Kapitalbasis führen – darüber hilft kein Moralisieren hinweg. Unsere Forderung für Abbau der wirtschaftlich durch nichts gerechtfertigten Weltorganisation, deren Existenzberechtigung einzig im Machtdünkel einzelner Persönlichkeiten gesucht werden darf, ist aus diesem Grunde berechtigt. Dulden die Aktionäre jetzt, solange sie noch das Heft in den Händen haben, dass die Reorganisation des Unternehmens verschleppt und verhindert wird, so müssen sie damit rechnen, dass nach einer neuen lügnerischen Scheinblüte mit raffinierter Ausnützung derselben zwecks Aktienkapitalerhöhung auch die jetzt belassenen zweihundert Franken per Aktie völlig verloren sein werden. Krankhafte Konstruktionen haben ihre innere Logik der Fäulnis»,243 lautete beispielsweise der Zeitungskommentar in der «Finanz Revue».
Die Situation der Nestlé & Anglo-Swiss im Dezember 1922 zeigte die Grenzen der bisherigen Strategie, mit Skalenerträgen die weltweiten Milchmärkte zu beherrschen, deutlich auf: Einerseits gelang es der Nestlé & Anglo-Swiss zwar, ein feinmaschiges Distributionsnetzwerk in Europa und seinen Kolonien aufzubauen. Andererseits krankte das Unternehmen – wie schon die Anglo-Swiss um 1900 – wiederum an den zu hohen Produktionskapazitäten in den Vereinigten Staaten, welche nach dem Zusammenbruch des kriegsbedingten Kondensmilch-Booms die Rentabilität des Unternehmens arg schmälerten. Die Grösse des Unternehmens erwies sich dabei nicht als Wettbewerbsvorteil, sondern als Hypothek für die Nestlé & Anglo-Swiss.
Dapples’ Strategie – Nestlé findet mit neuen Konzepten aus der Krise
Die Neuorientierung des Unternehmens unter Louis Dapples
In Anbetracht der drückenden finanziellen Probleme sah sich der Verwaltungsrat der Nestlé & Anglo-Swiss im Mai 1922 gezwungen, den Finanz- und Wirtschaftsexperten Louis Dapples als Krisenmanager beizuziehen. Dapples war in einer Schweizer Bankiersfamilie in Genua aufgewachsen und lange Zeit im internationalen Bankgeschäft tätig gewesen. Unter seiner Leitung wurde der angeschlagene Grosskonzern in den 1920er-Jahren reorganisiert und damit auf ein neues Fundament gesetzt.
Erstens wurde die bisher unvollständige Verschmelzung zwischen der Nestlé und der Anglo-Swiss mit der Zentralisierung der Unternehmensführung 1922 in London endgültig vollzogen. Die Bündelung der drei Hauptsitze in Cham, Vevey und London an einem Ort führte nicht nur zu einem schlankeren Verwaltungsapparat, sondern ermöglichte dem Unternehmen auch, wesentlich schneller Entscheidungen zu treffen. 1924 wurde die Leitung schliesslich von London nach Vevey verlegt. 1925 vollzog Nestlé den Schritt vom Familien- zum modernen Managerunternehmen, indem die Unternehmensführung erstmals Berufsmanagern anvertraut wurde. Zu den Persönlichkeiten, welche in die neue Direktion berufen wurden, gehörte unter anderem auch Eduard Müller, der 1937 zum Nachfolger von Louis Dapples ernannt werden sollte.244
Zweitens schreckte Dapples, dem nachgesagt wurde, er verfüge über eine eiserne Hand und eine stählerne Faust, auch vor harten Massnahmen nicht zurück, die bisher im Verwaltungsrat keine Mehrheit gefunden hatten: Das defizitäre Amerikageschäft245 wurde 1925 dem US-Unternehmen Borden zum Kauf angeboten. Borden war allerdings nicht bereit, den von Nestlé gewünschten Preis zu bezahlen, worauf Dapples die gesamte Produktion in Amerika reorganisierte, um die Verluste auf ein Minimum zu reduzieren.246 Zahlreiche Milchfabriken in den Vereinigten Staaten wurden daraufhin verkauft und Milchbetriebe in Australien, Grossbritannien und der Schweiz geschlossen. Zusammen mit erheblichen finanziellen Opfern der Aktionäre konnten dadurch bis im November 1925 alle ausstehenden Schulden des Unternehmens bei den Banken getilgt werden.247
Mit diesen Massnahmen brachte Dapples nicht nur kurzfristig die Finanzen wieder ins Lot, sondern beendete auch die bisherige Strategie der Nestlé & Anglo-Swiss, sich mit Grössenvorteilen eine Vormachtstellung auf den weltweiten Kondensmilchmärkten zu verschaffen. Stattdessen formulierte er 1923 neue strategische Ziele, welche das Schweizer Unternehmen bis heute prägen.
Wie im Folgenden gezeigt wird, umfassten diese neben einer Rationalisierung der Verwaltung und Produktion auch eine Rückkehr von einer Massen- zu einer Markenpolitik, eine Reorganisation der geografischen Unternehmensstruktur sowie die Entwicklung neuer Produkte.248 Ausserdem stellte die Krise von 1921 den Beginn einer äusserst vorsichtigen Finanzpolitik des Unternehmens dar, welche auch nach der finanziellen Genesung beibehalten und bis in die 1980er-Jahre fortgeführt wurde: Mit Gewinnausschüttungen an die Aktionäre wurde sehr vorsichtig umgegangen und die weitere Expansion des Unternehmens sowie Akquisitionen von anderen Unternehmen zu 100 Prozent aus eigenen Mitteln finanziert.249
Die Rückkehr zu starken Marken
In den 1920er-Jahren blieb die Situation auf den Kondensmilchmärkten angespannt. Zahlreiche Unternehmen kämpften mit Überkapazitäten und stiessen diese zu günstigen Konditionen ab. In diesem wettbewerbsintensiven Umfeld gewann die Vermarktung zunehmend an Bedeutung.250
Um die Profitabilität des Unternehmens auf dem Gebiet der Kondensmilch wieder herzustellen, zog Nestlé 1922 alle Kampfmarken aus dem englischen Markt zurück und konzentrierte seine gesamten Mittel auf die beiden Qualitätsmarken Milkmaid für gezuckerte und Ideal für ungezuckerte Kondensmilch.251 Dabei wurden die Preise von Nestlés Marken bewusst über denjenigen der Konkurrenz gehalten, um die erstklassige Qualität der Produkte herauszuheben.252 Im Gegensatz zur bisherigen Geschäftspolitik, deren Erfolg auf der Massenproduktion von Kondensmilch bei geringen Margen lag, baute Nestlé in Grossbritannien nun wieder bewusst die Qualitätsmarken Milkmaid und Ideal auf. Zudem wurde eine erste rudimentäre Marktforschung aufgezogen und der Vertrieb über firmeneigene Verkaufsgesellschaften, der sich in den europäischen Kolonien sehr bewährt hatte, auch in Europa vorangetrieben.253 Diese erlaubte es der Verkaufszentrale in Paris, erstmals erfolgreiche Werbekampagnen in andere europäische Länder zu übertragen, wobei Nestlé ihre Werbung stets den besonderen Verhältnissen in den jeweiligen Ländern anpasste.254 Die Reorganisation in den 1920er-Jahren kann daher als eine entscheidende Weichenstellung von einer quantitativen Mengen- zu einer qualitativen Markenorientierung gesehen werden. Ähnliche Tendenzen lassen sich auch bei anderen Schweizer Lebensmittelunternehmen wie Chocolat Tobler beobachten, wo die Werbeanstrengungen in den 1920er-Jahren auf einige Hauptmarken wie die Toblerone fokussiert wurden.255
Die neue Vermarktungsstrategie konnte allerdings nicht verhindern, dass Milkmaid und Ideal ab Mitte der 1920er-Jahre durch Billigmarken immer stärker unter Druck gerieten.256 Die Schweizer Dauermilch war von der Qualität her der Konkurrenz zwar überlegen. Bei der Kondensmilch-Herstellung liessen sich allerdings nicht grosse Qualitätsunterschiede erzielen,257 welche die Abwanderung einer wirtschaftlich gebeutelten Bevölkerung zu billigeren Marken verhindert hätten. Durch die Wirtschaftskrise in der Weimarer Republik und die Kohlearbeiterstreiks in Grossbritannien war die Kaufkraft der Arbeiterschaft in jenen Ländern dermassen gesunken, dass sie sich teure Markenprodukte wie Milkmaid nicht mehr leisten konnte.258 Schliesslich verlor Nestlé durch den Markteintritt von US-Unternehmen während der Weltwirtschaftskrise ihre bisherige Vormachtstellung im britischen Kondensmilchgeschäft. Die Marge der evaporierten Ideal-Milch sank dadurch so stark, dass sich in diesem Markt keine Gewinne mehr erzielen liessen. In Europa stellte sich mit Verzögerung also dieselbe Marktsituation wie in Nordamerika ein.259