Neben diesen politisch motivierten Attacken brachte der Erste Weltkrieg für die Schweizer Milch- und Schokoladeindustrie aber auch Vorteile mit sich: Viele Unternehmen wiesen durch die steigende Nachfrage der Armee und Zivilbevölkerung nach ihren Produkten einen sehr zufriedenstellenden Geschäftsgang auf. Die gezuckerte Kondensmilch der Nestlé & Anglo-Swiss gehörte ab 1915 zur Notration der britischen Soldaten, was den Bedarf nach Kondensmilch bei den britischen Streitkräften sprunghaft von 181 000 Kisten auf 903 000 Kisten ansteigen liess und das Westschweizer Unternehmen an die Grenzen seiner Produktionskapazitäten brachte.210 Zudem bewarb Nestlé ihre Kondensmilch bei der Zivilbevölkerung als gefragtes Nahrungsmittel in Soldatenpaketen, damit diese an der Front den Tee mit Milch geniessen konnten.211
Aber auch die Zivilisten selber mussten immer öfter auf Dauermilchprodukte wie die Kondensmilch zurückgreifen:212 Weil die Soldaten ein Mehrfaches an Fleisch konsumierten als in Friedenszeiten und der Fleischpreis dadurch gegenüber dem Milchpreis anstieg, schlachteten viele Bauern ihre Kühe, statt ihre frische Milch zu verkaufen.213 Das Frischmilchangebot wurde dadurch immer knapper, was der Nestlé & Anglo-Swiss den Zugang zu neuen, bedeutenden Kundenkreisen ausserhalb der städtischen Ballungszentren erschloss, wo Kondensmilch bis 1914 praktisch unbekannt geblieben war. Nestlés Kondensmilchumsatz vervierfachte sich dadurch bis 1919, womit Europa und insbesondere Grossbritannien zum bedeutendsten Absatzmarkt des Unternehmens aufstieg.214
Ebenso erreichten auf den Britischen Inseln die Umsatzzahlen von Nestlés aromatisierten Kondensmilchsorten Coffee & Milk und Cocoa &Milk neue Dimensionen: Bewegten sich die Verkaufszahlen vor dem Krieg noch unter 20 000 Kisten pro Jahr, schnellten sie 1915 auf 99 000 Kisten an.215 Dabei wurden die beiden Instantgetränke auch in kleineren Mengen der britischen Armee geliefert.216
Nachdem Coffee & Milk 1912 in Ashbourne (Grossbritannien) wesentlich verbessert werden konnte,217 wurde das Produkt in Grossbritannien nun als «Kaffee, wie man ihn in Paris geniesst» unter der Marke Milkmaid Café au lait verkauft. «It is not an essence or anything of that sort – simply the finest, freshly roasted Coffee expertly made with rich, full-cream milk which brings out the exquisite, natural aroma of the Coffee, and sugar added. Far nicer than ordinary Coffee, easy to prepare – only boiling water required – and most economical because it saves the cost of both milk and sugar»,218 wurde der Milchkaffee in den Werbeannoncen bereits damals von den minderwertigen Kaffee-Essenzen klar abgehoben und mit Argumenten beworben, die später auch für Nescafé verwendet werden sollten.
Dabei ist der Aufschwung von Milkmaid Café au lait und seinem kakaohaltigen Pendant Milkmaid Cacao au lait im Zusammenhang mit der allgemeinen Popularisierung von Kakaoprodukten und Kaffeepulver als Stärkungsgetränke der Soldaten zu sehen. Neben Milkmaid Café au lait in Grossbritannien existierten während des Ersten Weltkriegs zahlreiche weitere Instantkaffeemarken wie Belna in Frankreich oder Ruwil und Cefabu-Pulverkaffee im Deutschen Reich.219 Die bedeutendste Instantkaffeemarke im Ersten Weltkrieg war aber der amerikanische G. Washington’s Coffee. Die «Tasse George», wie sie von den US-Soldaten auch genannt wurde, profitierte davon, dass der Röstkaffee durch die Senfgasangriffe der Deutschen vergiftet worden wäre und Kaffee somit nur als Instantkaffee in hermetisch verschlossenen Dosen an die Truppen abgegeben werden konnte. Wie Briefe von der Front berichten, entwickelte sich dieser bei den US-Soldaten in den Schützengräben zu einer äusserst willkommenen Abwechslung.220
Abbildungen 2 und 3: Werbeanzeigen aus dem Jahr 1915 für Milkmaid Café au lait in Grossbritannien. Der Milchkaffee der Nestlé & Anglo-Swiss wurde während des Ersten Weltkriegs als anregendes, Kräfte freisetzendes Getränk für die Soldaten an der Front sowie als günstiges, praktisches und nährreiches Produkt für Zivilisten vermarktet.
Nestlés gewagte Expansionsstrategie zur Sicherung seiner Marktstellung
Der Erste Weltkrieg eröffnete den Herstellern von Kondensmilch, Kaffee- und Kakaogetränken nicht nur gesicherte Absatzbedingungen durch die stetig steigende Nachfrage in den Krieg führenden Ländern. Die Kampfhandlungen erschwerten auch den internationalen Warenverkehr. Besonders der uneingeschränkte U-Boot-Krieg der Deutschen blockierte die Transportwege auf den europäischen Meeren und führte zu einem gewaltigen Preisanstieg auf Rohmaterialien.
Aufgrund der Schwierigkeiten bei der Rohstoffbeschaffung verschlechterten sich die Qualität und die verfügbaren Mengen auf den Milch-, Kaffee- und Kakaomärkten zusehends: An die Stelle von Kaffee und Kakao traten immer öfter Kaffeesurrogate von fragwürdiger Qualität, welche dem Ruf des Zichorienkaffees schadeten, sowie minderwertiger «Kakao-Tee» aus Kakaoschalen. Ausserdem nahm die Milchproduktion in der Schweiz – von wo aus Nestlé etwa einen Drittel ihrer Milchdosen exportierte – aufgrund von politischen Massnahmen und fehlenden Futtermitteln für die Kühe stetig ab, was schliesslich selbst im damals bedeutendsten Milchexportland zu einer Milchknappheit führte. Anfang November 1915 ermächtigte die Schweizer Regierung das Volkswirtschaftsdepartement, die Kondensmilchproduktion zeitweilig oder dauerhaft einzustellen, um die dadurch freiwerdenden Milchmengen zur Versorgung der städtischen Bevölkerung mit Trinkmilch verwenden zu können.
Die Nestlé & Anglo-Swiss reagierte auf diese neuen Marktbedingungen, indem sie einerseits bedeutende Vorräte an Waren und Rohmaterialien anlegte, um sich vor Lieferungsengpässen und kurzfristigen Preissteigerungen auf Rohmaterialien zu schützen.221 Andererseits begann sie ab 1915 mit amerikanischen Milchunternehmen Verträge abzuschliessen, um deren Kondensmilch unter den eigenen Marken in Europa verkaufen zu können.222
Als sich die Milchknappheit in der Schweiz im Winter 1916/17 allerdings dermassen zuspitzte, dass die Nestlé & Anglo-Swiss mehrere Schweizer Milchsiedereien schliessen musste und die enorme Nachfrage nach Kondensmilch von den bisherigen Fabrikationsstandorten aus – die sich hauptsächlich in Europa befanden223 – nicht mehr befriedigt werden konnte, geriet Nestlés Hegemonie auf den Kondensmilchmärkten Europas und in den europäischen Kolonien zunehmend in Gefahr: Amerikanische Unternehmen begannen ihre Kondensmilch nach Europa zu exportieren, während australische Gesellschaften auf den Exportmärkten im Fernen Osten tätig wurden.224
Da den kooperierenden US-Gesellschaften die Mittel fehlten, um ihre Produktionskapazitäten auszuweiten, entschied sich die Nestlé & Anglo-Swiss am 6. September 1917, eine bedeutende Delegation nach Amerika zu schicken, um mit Borden über die Auflösung der geografischen Marktaufteilung von 1905 zu verhandeln, welche auf dem Abkommen aus dem Jahr 1902 beruhte. Das Schweizer Unternehmen sollte damit die Möglichkeit erhalten, der Milchknappheit durch die Übernahme und den Ausbau ihrer verbündeten Milchunternehmen in den Vereinigten Staaten zu begegnen. Am 27. Dezember 1917 wurde mit Borden schliesslich eine Lösung225 gefunden, welche Nestlé sowohl die Fabrikation von Kondensmilch in Nordamerika als auch den Eintritt in den amerikanischen Kondensmilchmarkt ermöglichte. Damit war das Startsignal für den Aufkauf zahlreicher amerikanischer Unternehmen durch die Nestlé & Anglo-Swiss gegeben:
Mit der Hires Condensed Milk Company in Philadelphia und der John Wildi Evaporated Milk Company in Columbus erwarb Nestlé 27 Fabriken, welche etwa acht Millionen Kisten Kondensmilch produzierten. Damit hatte Nestlé ihre Produktionskapazitäten auf einen Schlag verdoppelt, doch der enorme Expansionsdrang war damit noch nicht beendet. Bis 1920 übernahm das Unternehmen mit der International Condensed Milk Company, der Wisconsin Milk Company, der Alpine Milk Company226 sowie sechs weiteren Milchsiedereien insgesamt weitere 18 Fabriken in den Vereinigten Staaten.227
Zeitgleich mit der Expansion nach Amerika schloss Nestlé auch mit verschiedenen australischen Unternehmen wie der Baccus March Concentrated Milk Company Kontrakte ab, in denen sich diese bereit erklärten,