Nescao und der Einstieg in den Bereich der Kakao- und Malzgetränke
Neben Milchpulver und Kindermehl wurden ebenfalls Kakao- und Malzgetränke als Kindernahrungsmittel propagiert. Dank van Houtens Verfahren konnte der Fettgehalt von Kakaopulver wesentlich reduziert werden, wodurch das Produkt auch von Kindern, Kranken und alten Menschen als Stärkungsmittel getrunken werden konnte.315 Auf diese Weise entwickelte sich das Kakaogetränk in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts langsam zum nahrhaften und gesunden Frühstücksgetränk für jüngere Frauen und Kinder.316 Dabei wurde der Kakao als belebende, stärkende und erfrischende Alternative zum «entnervenden», krank und bleich machenden Kaffee oder Tee beworben.317 Ebenso entstanden bereits im 19. Jahrhundert Malzprodukte wie Mellin’s Food for Infants and Invalids oder Horlick’s Malted Milk, die als Stärkungsmittel für Kinder und Kranke galten.318
Der Übergang zwischen Kindernahrungsmittel und stärkendem Frühstücksgetränk war dabei fliessend: In Südfrankreich mischte Nestlé seiner Kindernahrung ebenfalls Kakao bei, andererseits verkaufte die Konkurrenz ähnliche Mischungen als malz- oder kakaohaltige Frühstücksgetränke.319 Dabei begannen sich die kakaohaltigen Frühstücksgetränke in den 1920er-Jahren immer mehr vom herkömmlichen Kakaopulver abzugrenzen, indem sie neben Zucker und Kakao auch Voll- oder Magermilch sowie besondere Mehle, Mineralsalze und Vitamine enthielten. Der billige Kakao wurde somit veredelt und zum stärkenden oder aufbauenden Getränk weiterentwickelt.320
Aufgrund dieser Konstellation war es naheliegend, dass Nestlé ebenfalls auf dem Gebiet der Kakao- und Malzgetränke tätig wurde. Zu Beginn der 1920er-Jahre brachte das Unternehmen in Anlehnung zu Horlicks Malzgetränk Nestlés Malted Milk auf den Markt. Die Mischung aus Milchpulver und Malzextrakten verkaufte Nestlé im ganzen Britischen Empire.321
Gleichzeitig wies in den 1920er-Jahren ein Stärkungsgetränk unter dem Namen Callmanns Phospho-Cacao, das später als Phoscao verkauft wurde, abgesehen von der Zugabe des Kakaos grosse Ähnlichkeit mit der Zusammensetzung von Nestlé’s Kindermehl auf. Phoscao war günstig, konnte einfach zubereitet werden und wurde von Ärzten als Stärkungsmittel empfohlen. Um dieser neuen Konkurrenz in Frankreich entgegenzutreten, zu der neben Phoscao auch Banania zählte,322 lancierte Nestlé ebenfalls ein Stärkungsmittel und Frühstücksgetränk für Kinder und Erwachsene:323 1930 kam mit Nescao eine einfache Mischung aus Nestlé’s Kindermehl, Kakao und Vanillezucker auf den französischen Markt.324 Zusätzlich sollte Nescao in Europa und Lateinamerika das Milchgeschäft unterstützen, indem das Kakaopulver gleichzeitig auch die Nachfrage nach Dauermilchprodukten steigerte.325
Fast gleichzeitig mit der Lancierung von Nescao erwarb sich die Lamont, Corliss & Co. 1929 ausserdem ein Kakaopulververfahren zur Herstellung von heisser Schokolade,326 mit welchem das befreundete Unternehmen 1935 eine Mischung von Kakao und Milchpulver unter der Marke Nestlé’s EverReady Cocoa auf den US-Markt brachte. Das amerikanische Kakaopulver war dabei weniger auf die gesunden Inhaltsstoffe als die sofortige Zubereitung ausgerichtet: Man brauchte dem Instantprodukt bloss noch heisses Wasser beizugeben, um ein fertiges Milchkakaogetränk zu erhalten.327
Milo und Ovomaltine teilen sich den weltweiten Malzgetränkemarkt
Zu den weltweit bedeutendsten Kakao- und Malzgetränken zählte die Ovomaltine der Firma Wander. Nachdem die Ovomaltine 1905 in der Schweiz ihre ersten Erfolge gefeiert hatte, begann das Berner Unternehmen sein neues Produkt international zu vertreiben. 1910 gründete Wander sowohl eine britische als auch eine deutsche Tochtergesellschaft und besass ab 1913 in King’s Langley (einer Stadt ausserhalb Londons) eine eigene Fabrik, von wo aus das ganze Britische Empire versorgt werden konnte.328 Nach anfänglicher Zurückhaltung gegenüber der Ovaltine,329 wie die Ovomaltine im Empire genannt wurde,330 entwickelte sich das Malzgetränk in Grossbritannien zu einem Erfolgsprodukt. Sowohl die britische als auch die deutsche Tochtergesellschaft verkauften 1914 etwa 180 000 Dosen.331
Nach dem Ersten Weltkrieg entwickelte sich die Ovomaltine vom diätetischen Nährmittel zum populären Frühstücksgetränk der gesundheitsbewussten bürgerlichen Oberschicht. Der Absatz verdreifachte sich innerhalb kurzer Zeit. Ausserdem zeigten erste Vitaminkontrollen, dass Wanders Malzgetränk von diesem Standpunkt her ein sehr hochwertiges Produkt war.332 Gleichzeitig erhielt Wanders Ovomaltine aber auch immer mehr Nachahmer wie Herculan in Deutschland oder Eimalzin in der Schweiz.333 Auch die Forschungslaboratorien in Vevey erhielten im August 1930 von Louis Dapples den Auftrag, neben Nescao und Nestlé’s Malted Milk ein zusätzliches Stärkungsmittel nach dem Vorbild der Ovomaltine von Wander herzustellen, wobei dieses mit dem Egron-Sprühtrocknungsverfahren hergestellt werden sollte und keinen Malzgeschmack aufweisen durfte: «I hate the malty taste of Wander’s Ovaltine, please take note»,334 soll er damals den Technikern in Vevey gesagt haben.
Zwischen Nestlé und Wander existierten seit mehreren Jahren enge Beziehungen: Als Wander 1917 in Frankreich eine Tochtergesellschaft gründete, diente Nestlé als Informationslieferant, und 1926 übernahm Wander Nestlés leerstehende Fabrik in Neuenegg.335 Des Weiteren herrschte zwischen den beiden Unternehmen die Vereinbarung, dass Nestlé bei der Firma Wander das Exklusivrecht genoss, den Kakao für die Herstellung der Ovomaltine zu liefern, während Nestlé umgekehrt kein malzhaltiges Stärkungsmittel auf den Markt bringen durfte: «[…] as long as Ovomaltine was quasi a monopoly of Wander, we considered it natural that two important Swiss firms, on friendly terms, should not launch out into direct competition with a product of the same order»,336 beschrieb Nestlé die Gründe dafür.
Deshalb verzichtete Nestlé auf die Zugabe von Eiern und experimentierte anstelle von Malz und Kakao mit anderen Geschmacksrichtungen wie Kaffee, Tee und Apfelsaft. Die Ergebnisse fielen aber vermutlich nicht sehr überzeugend aus, denn schliesslich entschieden sich die Nestlé-Forscher doch für den Malz- und Kakaogeschmack – wobei sie im Unterschied zur Ovomaltine mehr Kakao benutzten und den Malzgeschmack mit der Verwendung von gemälztem Weizenmehl dämpften. Um das Produkt von der Konkurrenz abzuheben, wurden dem Stärkungsmittel nach dem gleichen Prinzip wie bei Nestlé’s Kindermehl zusätzlich die Vitamine A und D beigegeben sowie Vitamin B1 aus der Hefe. Ausserdem mengten die Forscher Magnesiumsalze bei, weil Magnesiummangel damals in der medizinischen Forschung als Grund für zahlreiche Krankheiten betrachtet wurde.
1931 wurde das Stärkungsmittel den weltweiten Nestlé-Filialgesellschaften unter der Marke Vifex zur Verfügung gestellt. Allerdings waren nur die wenigsten Tochtergesellschaften an diesem Produkt interessiert, weil sie bereits Nescao verkauften. Einzig Australien und Südafrika zeigten sich schliesslich bereit, Vifex auf ihren Märkten einzuführen. Aufgrund der grossen Beliebtheit von Nestlé’s Malted Milk in Australien wollte die dortige Tochtergesellschaft dem neuen Produkt allerdings unbedingt einen Malzgeschmack geben.
Den ursprünglichen Gedanken von Louis Dapples ignorierend, experimentierte Thomas Mayne im entfernten australischen Smithtown an einer verbesserten Mischung für Vifex mit Milch, Malz und Kakaopulver weiter und brachte das Resultat schliesslich 1934 unter einer neuen Formel auf den australischen Markt:337 Anstelle von Weizen- wurde nun Gerstenmalz verwendet, weshalb das Pulvergetränk nicht mit dem Egron-Verfahren sprühgetrocknet, sondern vakuumgetrocknet wurde.
Nachdem Vifex in Australien und Südafrika sehr erfolgreich eingeführt worden war, benannte Nestlé das Stärkungsmittel 1936 in Anlehnung an den griechischen Helden Milon von Croton, der im 6. Jahrhundert v. Chr. sechsmal die Olympischen Spiele gewonnen haben soll,338 in Milo339 um und versuchte es ebenfalls in anderen Ländern zu verbreiten.340 Besonders in Belgien, Deutschland, Italien und Spanien hätte Nestlé gerne Milo eingeführt, da Nescao mit der damaligen Formel gegenüber Ovomaltine nicht konkurrenzfähig war.341
Gegen die Einführung von Milo in Europa und einigen Staaten in Asien und Lateinamerika erhob das befreundete Unternehmen