Obwohl zahlreiche europäische Kondensmilchfabriken124 der Anglo-Swiss das Monopol streitig zu machen versuchten, war keine der Geschwindigkeit, mit der sich das Chamer Unternehmen ausdehnte, und seiner Kapitalkraft gewachsen. Während die Milchsiederei in Niederarnegg (in der Nähe von Gossau) und die Schweizerische Milchgesellschaft Moléson in Düdingen von der Anglo-Swiss aufgekauft wurden, mussten andere ihre Existenz während der Finanzkrise von 1873 aufgeben.125
Die schwere Wirtschaftskrise, welche nach einer mehrjährigen Wachstumsphase zwischen 1873 und Mitte der 1890er-Jahre zu sinkenden Preisen von Agrargütern führte, liessen den Ruf nach staatlichen Schutzzöllen der einheimischen Landwirtschaft vor billigen, ausländischen Importgütern laut werden.126 Damit zeichnete sich wirtschaftspolitisch eine zunehmende Abschottung der einzelnen Nationalökonomien ab. Die Anglo-Swiss begann deshalb in Grossbritannien, wo sie damals 75 Prozent ihrer Milchdosen absetzte, eigene Produktionsstandorte aufzubauen: Nachdem sie bereits 1869 in London eine eigene Verkaufsniederlassung gegründet hatte, errichtete sie 1874 eine neue Produktionsanlage in Chippenham und übernahm im gleichen Jahr die English Condensed Milk Company mit Fabriken in Middlewich und Aylesbury. Ebenso errichtete die Anglo-Swiss 1874 eine Produktionsstätte in Lindau am Bodensee.127 Die Anglo-Swiss Condensed Milk Company war damit bereits 1874 ein multinationales Unternehmen. Die Schweiz blieb aber das wichtigste Produktionsland des Unternehmens.128
Mit der Übernahme des Hauptkonkurrenten in Grossbritannien erwarb die Anglo-Swiss 1874 ein Verfahren zur Herstellung eines mit Kakao aromatisierten Milchgetränks. Dies brachte die Unternehmensleitung wieder auf den Gedanken zurück, unter ihrer Qualitätsmarke Milkmaid aromatisierte Milchgetränke auf den Markt zu bringen. Da diese ohne grossen Aufwand mit denselben Produktionsmethoden wie die gezuckerte Kondensmilch hergestellt und damit «Economies of Scope» genutzt werden konnten, entschied sich die Anglo-Swiss schliesslich, drei Varianten in ihr Sortiment aufzunehmen: 1875 lancierte das Unternehmen neben Cocoa & Milk zusätzlich auch Chocolate & Milk und Coffee & Milk.129
Bei Cocoa & Milk und Chocolate & Milk handelte es sich um Mischungen aus Frischmilch, Zucker und Kakao, die unter Vakuumpfannen wie die gezuckerte Kondensmilch zu einer zähflüssigen Masse eingedickt wurden.130 Analog dazu stellte die Anglo-Swiss vermutlich auch Coffee & Milk her, wobei sie anstelle des Kakaos Kaffeebohnen und Zichorien beigab. Vom Produktionsverfahren her scheint der Milchkaffee der Anglo-Swiss also mit Bordens Kaffee-Kondensmilch verwandt gewesen zu sein. Zudem liessen sich seine rasch ansteigenden Verkaufszahlen wie bei Borden in erster Linie drauf zurückführen, dass Coffee & Milk den Russen im Russisch-Osmanischen Krieg als Soldatenverpflegung diente.
In England dagegen sah sich das Produkt einer starken Konkurrenz gegenüber, deren Erzeugnisse qualitativ besser waren. Dies traf insbesondere auf das Kaffeeprodukt von W. P. Branson zu, welches selbst Mrs. Lippincott, die Frau des Direktors der Anglo-Swiss in Aylesbury, besser fand als dasjenige des eigenen Unternehmens. Problematisch an den Kakao- und Kaffeekonserven der Anglo-Swiss waren vor allem ihre unausgereiften Verfahrenstechniken und geschmacklichen Eigenschaften: Händler reklamierten, Cocoa & Milk sei zu süss, während bei Coffee & Milk der Kontakt des Kaffee-Extrakts mit Eisen beim Abfüllprozess zu Oxidationen führte, welche beim Öffnen der Dosen einen unangenehmen Geruch verbreiteten. In beiden Fällen mussten die Rezepturen abgeändert werden, wobei die Kaffeebohnen und Zichorien in Coffee & Milk ab 1879 durch eine billigere Kaffee-Essenz131 ersetzt wurden.
Anstatt des erwarteten Wachstumsschubs stagnierten die Umsatzzahlen jedoch mit diesen neuen Rezepturen. Mit einem bescheidenen Umsatz von unter 20 000 Kisten pro Jahr132 generierten die Milchkaffee- und Milchkakaodosen, die vorwiegend in Grossbritannien verkauft wurden, etwa fünf Prozent des Gesamtumsatzes der Anglo-Swiss.133
Abbildung 1: Wie der Etikette von Coffee & Milk um 1900 zu entnehmen ist, handelte es sich bei diesem Produkt um eine schwer lösliche Mischung aus reiner Kondensmilch, reinem Zucker und reinem Kaffee. Bereits damals wurde auf die leichte, bequeme und sparsame Zubereitung hingewiesen.
Der Konkurrenzkampf auf dem Kindernahrungsmittel-Markt
«Wir glauben, dass unsere Artikel auf Schiffen, in Hospitälern, für kleine Kinder und in den Haushaltungen aller grossen Städte gebraucht werden, sobald das Publikum damit bekannt wird und dessen Reinheit, Gesundheit, Bequemlichkeit und Oekonomie kennen lernt»,134 analysierte die Anglo-Swiss 1868 die Marktchancen ihrer gezuckerten Kondensmilch. Allerdings stand sie nicht alleine in diesem Marktsegment. Im Bereich der Kindernahrung entstanden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zahlreiche Produkte, die auf Milch basierten und eine Konkurrenz darstellten:135
Im Sommer 1864 mischte Justus von Liebig eine Milchsuppe aus Kuhmilch, Malz,136 Weizenmehl und Kaliumkarbonat für seine Tochter, die nicht stillen konnte. Nach der Veröffentlichung des Rezepts 1865 inspirierte Liebigs Milchsuppe zahlreiche Chemiker und Apotheker, ebenfalls auf diesem Gebiet tätig zu werden. Zu ihnen gehörten unter anderen James Horlick, ein Apotheker aus Gloucestershire in England, der hessische Chemiker Georg Wander in Bern und der Frankfurter Apotheker Heinrich Nestlé in Vevey, der sich in der Westschweiz Henri Nestlé nannte.137
Horlick und Wander begannen Nahrungs- und Stärkungsmittel für Kinder und Kranke herzustellen, indem sie Milch mit Malz mischten: Während Horlick in den 1870er-Jahren für die Mellin Company138 in Chicago arbeitete und Horlick’s Malted Milk aus getrockneter Milch und Malz erfand,139 beschäftigte sich Georg Wander mit der Malzextraktion unter Vakuum und begann diese Malzextrakte mit Milch, Eiern, Hefe und Kakao zu vermengen. Sein Sohn Albert Wander brachte die Mischung 1904 als Ovomaltine auf den Markt, die als Malz- oder Kakaogetränk, wie sie von der Reformbewegung propagiert wurden, in der Schweizer Bevölkerung sofort gute Aufnahme fand. Als «Nährschokolade» stellte die Ovomaltine ebenso wie der Zichorienkaffee oder Kräutertee eine eigene Produktkategorie dar, die gleichzeitig auch als gesunder «Kakaoersatz» der Reformbewegung gesehen werden kann.140
Einen anderen Ansatz als Horlick und Wander verfolgte dagegen Henri Nestlé: Wie bei der Herstellung von gezuckerter Kondensmilch dickte er Milch und Zucker zu einer Milchpaste ein und entwickelte diese nach dem Vorbild von Liebigs Säuglingssuppe zu einem wissenschaftlich anerkannten Kindernahrungsmittel weiter. Dabei vermengte er die eingedickte Zuckermilch mit einem Brotbrei, der nach einem speziellen Verfahren ohne Zugabe von Malz hergestellt wurde. Der trockenen Mischung gab er zusätzlich Kaliumkarbonat bei und siebte und mahlte diese anschliessend zu einem feinen Pulver, das er «Kindermehl» nannte.141
1868 lancierte er Nestlé’s Kindermehl gleichzeitig in der Schweiz und in seiner Heimatstadt Frankfurt am Main, wo sein Produkt sofort einen guten Ruf genoss.142 Obwohl die Schweiz, Deutschland und Frankreich in den ersten Jahren die bedeutendsten Absatzmärkte waren, wurde Nestlés Kindernahrung rasch auch ausserhalb Europas bekannt: 1873 wurde Nestlé’s Kindermehl erstmals auf allen fünf Kontinenten verkauft, unter anderem in den Vereinigten Staaten, Russland, Australien, Argentinien, Ägypten und Niederländisch Indien.143
Nestlés Erfolg brachte den Verwaltungsrat der Anglo-Swiss auf den Gedanken, ebenfalls ein Kindermehl herzustellen.144 Dabei trafen zwei Konkurrenten mit sehr unterschiedlichen Unternehmensphilosophien aufeinander: Die Anglo-Swiss Condensed Milk Company lässt sich als Grossunternehmen charakterisieren, wie es Chandler in «Scale and Scope»145 beschreibt. Ihr Erfolg beruhte auf der Massenproduktion, indem sie ein qualitativ gutes Produkt rationell herstellte und sich aufgrund ihrer Grösse und Kapitalkraft eine Monopolstellung sichern konnte.146 Andererseits wies das Unternehmen mit Sitz am Zugersee bei der Vermarktung und im Bereich der Innovation Defizite auf: George Page hielt nicht viel von Werbung und ging sehr sparsam damit um,147 gleichzeitig fehlte der Gesellschaft das nötige physiologische und chemische Wissen, um beispielsweise Kindermehl selber herzustellen. Die Technik musste deshalb 1877 durch die Übernahme einer Kindernahrungsmittel-Fabrik in Flamatt eingekauft werden.148
Demgegenüber