Flagschiff Nescafé - Nestlés Aufstieg zum grössten Lebensmittelkonzern der Welt. Thomas P Fenner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas P Fenner
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Зарубежная деловая литература
Год издания: 0
isbn: 9783039199044
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      Die Kräfteverhältnisse änderten sich jedoch um die Jahrhundertwende, als mit George Page die federführende Person der Anglo-Swiss verstarb. Unter seinem Sohn Fred Page wurde die Expansionsstrategie in den Vereinigten Staaten aufgegeben und die Sicherung der Märkte in Europa durch eine Fusion mit Nestlé angestrebt. 1902 verkaufte die Anglo-Swiss sämtliche Fabriken, Patente und Marken (mit Ausnahme der Marken Milkmaid und Ideal) in Nordamerika für zwei Millionen Dollar an Borden. Mit dem Verkauf wurde eine bedeutende geografische Marktaufteilung vertraglich festgelegt: Die Anglo-Swiss durfte nicht mehr auf den Märkten Nordamerikas tätig werden, während Borden nicht nach Europa expandieren durfte. Gleichzeitig wurde nun eine Fusion mit Nestlé angestrebt, die am 15. April 1905 schliesslich perfekt war.

      Die Verschmelzung hatte für beide Unternehmen Vorteile. Einerseits hatte damit der erbittert geführte Konkurrenzkampf ein Ende. Andererseits eröffnete die Fusion den beiden Schweizer Unternehmen ganz neue Zukunftsperspektiven: Mit einem Aktienkapital von 40 Millionen Schweizer Franken, das beide Unternehmen zur Hälfte beisteuerten, stellte die Nestlé & Anglo-Swiss Condensed Milk Company dank den gebündelten Kräften nun eindeutig das grösste Kondensmilchunternehmen Europas dar.179 Es verfügte neu über 20 Milchfabriken180 und besass ausländische Tochtergesellschaften in England, Deutschland, Frankreich, Norwegen, Spanien, Österreich und in den Vereinigten Staaten.181 Organisatorisch fand zwischen den beiden Gesellschaften zwar keine vertiefte Verschmelzung statt,182 gleichzeitig ergänzten sich die Distributionsnetzwerke von Nestlé und der Anglo-Swiss Condensed Milk Company aber hervorragend: Während Nestlé in Europa ein ausgezeichnetes Vertriebsnetz aufgebaut hatte,183 verfügte die Anglo-Swiss im britischen Empire (Grossbritannien und seine Kolonien) über eine starke Position.184

      Während die beiden Hauptsitze in Cham und Vevey als Zeichen der vollkommenen Gleichberechtigung zwischen den Fusionspartnern beibehalten wurden,185 entstand 1905 mit dem Zusammenschluss ein zusätzlicher Hauptsitz in London, der zur entscheidenden Schaltstelle der Verkaufsorganisation wurde: Von hier aus versorgte die Nestlé & Anglo-Swiss nicht nur den bedeutenden britischen Heimmarkt, sondern organisierte auch den weltweiten Export ihrer Milchprodukte nach Asien, Afrika, Australien und Lateinamerika.

      Mit der Zentralisierung des Exportgeschäfts in London begann auch der Aufbau einer weltweiten, firmeneigenen Verkaufsorganisation. Anstelle von Agenten, welche auf Kommissionsbasis arbeiteten, wurde der Vertrieb in zahlreichen Exportmärkten nun eigenen Leuten anvertraut, die entsprechend geschult waren und sich ausschliesslich mit der Vermarktung von Nestlés Markenprodukten beschäftigten.186 Die permanenten Vertretungen verursachten zwar hohe Kosten, waren aber beim Vertrieb von sensiblen Gütern wie Kindernahrungsmitteln durchaus sinnvoll.187

      In den folgenden Jahren bis zum Ersten Weltkrieg entwickelte sich die Nestlé & Anglo-Swiss zum Weltkonzern: Entlang der Wasserstrassen kolonialer Handelsgesellschaften baute das Unternehmen mit über 20 Handelsniederlassungen in Asien, Afrika, Australien und Lateinamerika188 eine äusserst schlagkräftige und feinmaschige Verkaufsorganisation um den ganzen Globus auf.189 Weil der Transport der Schweizer Milch um die halbe Welt hohe Kosten verursachte, begann Nestlé ab 1907 auch in Australien – damals neben Grossbritannien Nestlés bedeutendster Absatzmarkt – Milchfabriken aufzubauen,190 um von dort aus die britischen Kolonien und die Märkte im Fernen Osten zu beliefern.191 Zudem errichtete das Unternehmen zur Versorgung des Britischen Empires 1912 eine weitere Milchfabrik in Ashbourne (Grossbritannien) und erwarb im selben Jahr eine bedeutende Beteiligung an der Galak Condensed Milk Company in Rotterdam, von wo aus sie entrahmte Kondensmilch nach Asien exportierte, die – wie Jean Heer erwähnt – in Südostasien dem Tee beigegeben wurde.192 Die Verbreitung der Schweizer Dosenmilch im asiatischen Raum ist deshalb wohl nicht zuletzt auf die Gewohnheit zurückzuführen, Kaffee und Tee mit Milch zu mischen. Noch heute wird in Malaysia, Indonesien oder Vietnam der traditionelle Kaffee mit Kondensmilch zubereitet.193

      Die Länder des Südens wurden dadurch als Absatzmärkte von Nestlés Kondensmilch immer wichtiger. 1913 erzielte das Schweizer Unternehmen fast zwei Drittel seines Umsatzes mit Dosenmilch ausserhalb Europas und Nordamerikas.194 Das globale, firmeneigene Vertriebsnetz stellte dabei einen wesentlichen Vorteil der Nestlé & Anglo-Swiss gegenüber der Konkurrenz dar. Zusammen mit der geografischen Marktabsprache, welche die Anglo-Swiss 1902 mit Borden geschlossen hatte, sicherte dieses dem Unternehmen aus Cham die Vorherrschaft auf den Kondensmilchmärkten Europas und in den Kolonien. Insbesondere im Britischen Empire verfügte Nestlé über zahlreiche Vertretungen. In Lateinamerika begann Borden die Nestlé & Anglo-Swiss ab 1910 zwar ernsthaft zu konkurrenzieren, aber auch hier konnte sich das Schweizer Unternehmen zwei Jahre später mit dem amerikanischen Milchkonzern auf ein Übereinkommen einigen und dadurch seine starke Stellung sichern.195

      Zusätzlich verfügte die Nestlé & Anglo-Swiss mit Nestlé’s Kindermehl über eine äusserst einträgliche Spezialität, die 1914 mit einem Anteil von drei Prozent am Gesamtumsatz 16 Prozent des Gewinns erwirtschaftete. Dies erlaubte es dem Unternehmen, auch auf Märkten tätig zu sein, wo die Kondensmilch weniger erfolgreich war.196 Daneben verbreitete Nestlé ebenfalls die Schokolade von Peter & Kohler über ihr Distributionsnetzwerk. Einzig in Nordamerika, wo die Nestlé & Anglo-Swiss aufgrund der Verträge mit Borden nur Kindermehl herstellen durfte und deshalb über kein starkes Distributionsnetz verfügte,197 verkaufte Peter & Kohler ihre Schokolade über die Lamont, Corliss & Co. in New York. Die Umsatzzahlen der Schweizer Schokolade in Nordamerika nahmen allerdings bald derartige Dimensionen an, dass Lamont, Corliss & Co. die Schokolade nicht mehr aus der Schweiz importieren, sondern im Land selber herstellen wollte. Ab 1907 begann das amerikanische Unternehmen deshalb unter der Konzession von Peter & Kohler Milchschokolade in der Nestlé-Fabrik in Fulton herzustellen. 1909 übernahmen die Amerikaner schliesslich die Fabrik in Fulton, womit die Nestlé & Anglo-Swiss in Nordamerika keine Produktionsanlagen mehr besass.198

      Trotz dieser Schwachstelle in Nordamerika war Nestlé im Vergleich zu anderen Schweizer Milch- und Schokoladeunternehmen nicht nur grösser,199 sondern auch internationaler aufgestellt: Während die Berneralpen Milchgesellschaft oder die Schweizerische Milchgesellschaft Hochdorf ihre Milchprodukte vor allem nach Afrika und Asien exportierten,200 waren Schokoladeunternehmen wie Suchard201 oder die 1911 aus der Fusion von Cailler und Peter & Kohler entstandene Peter-Cailler-Kohler202 aufgrund der Hitzeempfindlichkeit ihres Produkts vor allem in Europa und Nordamerika aktiv.203 Die Nestlé & Anglo-Swiss dagegen vertrieb sowohl Kondensmilch in den Kolonien als auch Kindermehl und Schokolade in Europa.

      Kondensmilch, Kaffee und Kakao an der Kriegsfront

      Nachdem sich bis 1914 eine globale Weltwirtschaft ausgebildet hatte, erlebte der internationale Warenverkehr mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs einen abrupten Rückschlag.204 Vielfach wird zwischen 1914 und 1945 von einer Periode der «Deglobalisierung» gesprochen. Der wachsende Nationalismus und Protektionismus führten zu einem Rückgang des Welthandels,205 die Lebensmittelindustrie wurde immer mehr durch politische Einflüsse gesteuert und die Nationalität eines Unternehmens zur politischen Angelegenheit.206 Auch Firmen von neutralen Staaten wie der Schweiz gerieten auf schwarze Listen207 von Krieg führenden Parteien und wurden durch ihre internationale Vernetzung zunehmend in die Kriegswirren verstrickt:

      Während das auf Deutschland ausgerichtete Schokoladeunternehmen Suchard in Frankreich angefeindet wurde, geriet Nestlé aufgrund der starken Verflechtung mit Grossbritannien bei den Deutschen bald in Ungnade. Um den Schaden in Grenzen zu halten, fasste die Nestlé & Anglo-Swiss ihre Fabriken in Lindau und Hegge im Dezember 1914 in einer neuen Tochtergesellschaft unter dem Namen «Das Milchmädchen Kondensmilch GmbH» zusammen und löste diese teilweise von der Muttergesellschaft ab. Ebenso wurde die Kondensmilch nun nicht mehr unter