Mit den Verträgen von 1925 konnte sich Nestlé weiterhin die Vorherrschaft auf den Kondensmilchmärkten in Afrika, Asien und Lateinamerika sichern. 1928 wurde aus der Schweiz fast ebenso viel Dosenmilch exportiert wie vor dem Ersten Weltkrieg, wobei über die Hälfte davon nach Südostasien (insbesondere Malaysia, Holländisch Indien und Indochina) geliefert wurde.262 In diesen Märkten hatte die Schweizer Dosenmilch dank ihrer Qualität grosses Ansehen erlangt und wurde vor allem von den dort ansässigen Europäern getrunken, während sich die ärmere Bevölkerung mit zweitklassiger australischer Milch begnügen musste. Da Nestlé ihre Milch von Australien her wesentlich günstiger anbieten konnte als andere Schweizer Unternehmen, gelang es ihr, diese in den südostasiatischen Märkten zurückzudrängen.263 Dadurch zählten die Exportmärkte in den Tropen Ende der 1920er-Jahre wieder zu den wichtigsten Absatzgebieten von Nestlés Kondensmilch.264
Nestlés geografische Reorganisation und Produktdiversifikation
In den 1920er-Jahren führten viele Länder, die vor dem Ersten Weltkrieg eng in den internationalen Handel einbezogen gewesen waren, Handelsbeschränkungen wie Schutzzölle, Importquoten und Einfuhrverbote ein.265 Durch den wachsenden Protektionismus sah sich die Nestlé & Anglo-Swiss gezwungen, ihre Produktionsstandorte zu dezentralisieren und weitere nationale Tochtergesellschaften zu gründen. Bis Ende der 1920er-Jahre baute oder erwarb Nestlé unter anderem in Abbiategrasso (Italien), Boué (Frankreich) und Kappeln (Deutschland) neue Fabriken und gründete in Frankreich, Belgien, Italien und Südafrika nationale Tochtergesellschaften, um die steigenden Zollschranken zu umgehen.266 Im Zuge der Weltwirtschaftskrise verstärkte sich die geografische Reorganisation ab 1929 zusätzlich. In zahlreichen Gebieten, die bisher nicht als Milchregionen galten, begann das Unternehmen neue Fabriken und Tochtergesellschaften zu errichten: 1930 in Argentinien und auf Kuba, 1933 in Chile und Japan und 1935 in Mexiko. Ende der 1930er-Jahre lag über ein Drittel von Nestlés Fabriken in den Ländern des Südens,267 während in Grossbritannien und der Schweiz – die bis zum Ersten Weltkrieg zu den bedeutendsten Produktionsstandorten des Unternehmens gezählt hatten – zahlreiche Milchsiedereien geschlossen wurden.268 Die Nestlé & Anglo-Swiss erhielt dadurch eine dezentrale Unternehmensstruktur mit über 20 Tochtergesellschaften,269 die quasi autonom funktionierten. Dieser Umstrukturierung wurde 1936 auch juristisch Rechnung getragen, indem das Unternehmen in eine Holding umgewandelt wurde.270
Darstellung 2: Die Dezentralisierung der Nestlé & Anglo-Swiss in der Zwischenkriegszeit. Während sich vor dem Ersten Weltkrieg die meisten Fabriken des Unternehmens in Europa befanden und die dort produzierte Kondensmilch über das weltweite Vertriebsnetz mit zahlreichen Vertretungen in Afrika, Asien und Lateinamerika an den Kunden gebracht wurde, nahm in der Zwischenkriegszeit die lokale Fabrikation der Nestlé-Produkte in den Entwicklungsländern zu, derweil die Zahl der Vertretungen in Europa durch die Gründung neuer Tochtergesellschaften stieg. Der internationale Warenaustausch nahm also durch die protektionistischen Tendenzen ab, die Internationalisierung der Nestlé & Anglo-Swiss dagegen weiter zu, indem national orientierte, weitgehend autonome Tochtergesellschaften gegründet wurden.
«Die Nestlé hat ihre grösste Expansion in einer Zeit des internationalen Protektionismus erlebt, der sie zur Errichtung neuer Fabriken in den abgeschirmten Ländern selbst zwang. In einem liberalen Handelssystem […] müssten viele gewählte Standorte der Milchkonservenfabriken als unzweckmässig gelten»,271 analysierte die Zeitung «Finanz und Wirtschaft» später die Entwicklung des Schweizer Unternehmens in der Zwischenkriegszeit. Weil zugleich die Nachfrage nach Kondensmilch stagnierte, sanken durch die politisch bedingte Reorganisation der Produktionsstandorte die Skalenerträge.272 Um die Produktion und Distribution trotzdem weiter zu rationalisieren,273 weitete Nestlé ihren Tätigkeitsbereich neben der Dosenmilch auf weitere Lebensmittel aus, um die Fixkosten auf mehrere Produkte verteilen zu können und auf diese Weise «Economies of Scope» zu erzielen.274
Ab 1927 erweiterte Nestlé ihre Produktpalette mit dem Vertrieb von Streichkäse der Gerber AG in Thun. Gegen Lizenzgebühren erhielt die Nestlé & Anglo-Swiss vom Berner Unternehmen das Recht, ihren Gerber-Schmelzkäse ausserhalb der Schweiz und der Vereinigten Staaten zu produzieren und zu vertreiben. Diese Zusammenarbeit bot sich an, da der Gerber AG das internationale Vertriebsnetz fehlte, um der steigenden Nachfrage nach Schmelzkäse im Ausland nachzukommen und sich gegen die stärker werdende Konkurrenz aus der Schweiz zu behaupten.275
Ein ähnliches Abkommen schloss Nestlé im gleichen Jahr ebenfalls mit der Schweizerischen Milchgesellschaft in Hochdorf, die aufgrund der steigenden Handelsschranken ihre Kondensmilch nicht mehr ins Ausland exportieren konnte.276 Ausserdem beteiligte sich Nestlé 1928 am Schokoladegeschäft der Sarotti AG in Berlin und begann ab 1929 mit der Hollandia Anglo-Dutch Milk and Food Company im niederländischen Vlaardingen zusammenzuarbeiten.277
Die verschiedenen Kooperationen ermöglichten der Nestlé & Anglo-Swiss eine Restrukturierung der Produktion und Distribution durch Wachstum ohne grosse finanzielle Risiken, bargen allerdings auch erhebliche Konfliktpotenziale: Die von der Hollandia hergestellte Kondensmilch entsprach nicht immer den Qualitätskriterien der Nestlé & Anglo-Swiss und konnte aufgrund ihrer Eigenständigkeit nur ungenügend von Nestlés Kontroll-Laboratorien untersucht werden.278 Ebenso gestaltete sich die Zusammenarbeit mit dem Schokoladeunternehmen Peter-Cailler-Kohler (PCK) immer schwieriger: Bereits während des Ersten Weltkriegs erwarb sich Nestlé vom Schweizer Schokoladeunternehmen das Exklusivrecht, seine Nestlé-Schokolade mit Ausnahme der Schweiz, Österreichs, Deutschlands und Nordamerikas in sämtlichen Ländern selber herstellen zu dürfen, weil PCK damals die von Nestlé benötigten Schokolademengen zur Sättigung der Marktnachfrage nicht bereitstellen konnte. In Ländern wie Australien begann Nestlé daraufhin eigene Schokoladefabriken aufzubauen.279 Ausserdem vertrieb die Lamont, Corliss & Co. ab 1925 ebenfalls die Nestlé-Milchschokolade, die sich in Nordamerika sofort grosser Beliebtheit erfreute.280 Ende der 1930er-Jahre stellten die Vereinigten Staaten klar den wichtigsten Absatzmarkt von Nestlés Schokolade dar.281
Durch Nestlés wachsenden Aktivismus im Schokoladegeschäft verschoben sich die Kräfteverhältnisse mit Peter-Cailler-Kohler: Verkauften Nestlé und PCK vor dem Ersten Weltkrieg noch etwa gleich viel Schokolade, vertrieb Nestlé 1928 bereits drei Viertel der gemeinsam bewirtschafteten Schokolade,282 wobei die Nestlé-Milchschokolade in den 1920er-Jahren zur beliebtesten der vier Marken aufstieg.283 Um weiter auf dem Schokolademarkt expandieren zu können und damit verbundene Unstimmigkeiten zwischen den beiden Parteien zu verhindern, war 1928 eine Klärung der Verhältnisse in Form einer Fusion unumgänglich geworden.284 Zudem führte die Verschmelzung 1929 zu einer wesentlichen Vereinfachung der ganzen Administration im Schokoladegeschäft.285 Die Übernahme von Peter-Cailler-Kohler im Jahr 1929 ist daher als Folge des inneren Wachstums von Nestlé zu sehen und reduzierte die Transaktionskosten durch Internalisierung. Beispielsweise verlagerte Nestlé zur Kostenoptimierung die Schokoladeproduktion für den britischen Markt 1931 von der Schweiz nach England, was unter den alten Strukturen mit relativ starren Verträgen kaum möglich gewesen wäre.286
Durch die Integration und den Ausbau von Produktsparten wie Schokolade und Schmelzkäse wuchs die Nestlé & Anglo-Swiss auch nach 1921 weiter. Gleichzeitig wurden aber auch in den eigenen Forschungslaboren neue Erzeugnisse entwickelt, mit welchen die horizontale Expansionspolitik weiter vorangetrieben wurde.287
Darstellung