Wie beim Röstkaffee brachte auch auf dem Gebiet der Kaffee-Extrakte der Sezessionskrieg (1861–1865) einen entscheidenden Fortschritt: Aufgrund seiner anregenden Wirkung wurde den Soldaten im amerikanischen Bürgerkrieg auf Nachtmärschen Bohnenkaffee abgegeben.98 Diesem konnten die Truppen allerdings wegen seines bitteren Geschmacks wenig abgewinnen, denn gewöhnlich tranken die Amerikaner den Kaffee mit Milch und Zucker. Die Soldaten begannen deshalb den Kaffee mit gezuckerter Kondensmilch99 zu mischen, die 1856 vom Amerikaner Gail Borden erstmals industriell hergestellt worden war.100
Bordens New York Condensed Milk Company hatte in ihren Anfangsjahren auf einer sehr unsicheren ökonomischen Grundlage gestanden, weil der gezuckerten Kondensmilch bis dahin eine feste Kundschaft gefehlt hatte. Als Ersatz für Muttermilch war sie wenig beliebt gewesen. Im Verlauf des amerikanischen Bürgerkriegs nahm die Nachfrage nach Kondensmilch durch die Kaffee trinkenden Truppen allerdings dermassen zu, dass Borden zu ihrer Deckung sogar weitere Fabriken errichten musste.101 Gleichzeitig erhielt der Tüftler von der Armee den Auftrag, den Truppen einen fertigen Kaffee-Extrakt zur schnellen Verpflegung zu beschaffen. Aufgrund seiner bisherigen Erfahrungen mit der industriellen Herstellung von Kondensmilch mischte er analog dazu Kaffee mit Milch und Zucker, dampfte diese drei Ingredienzien gemeinsam ein und füllte das pastöse Konzentrat in Dosen ab. Auf diese Weise stellte er eine kaffeehaltige Kondensmilch her, die wie Wagenschmiere aussah, aber nach Kaffee schmeckte.102
Ein ähnliches Konzentrat patentierte L. D. Gale aus Washington D. C. im Jahre 1865. Dabei handelte es sich um eine Art getrockneten Kaffeekuchen, bei dem die flüchtigen Aromastoffe mit Zucker als Trägersubstanz gebunden wurden. Soldaten und Seeleute konnten sich diesen Kuchen als Notfallration in kleinen Stückchen im Mund zergehen lassen und auf diese Weise ohne Wasser eine Ration starken Kaffees zu sich nehmen.103
Zahlreiche Forscher und Tüftler entwickelten in den darauffolgenden Jahren weitere Verfahren zur Herstellung eines haltbaren Kaffee-Extrakts: zu ihnen zählten unter anderen die Engländer H. Warry, der 1872 Kaffee, Tee und Kakao unter Vakuum dehydrierte und auf diese Weise drei Pulvergetränke herstellte, und C. Morfit, der 1876 Kondensmilch mit Gelatine und Kaffee mischte,104 aber auch der Japaner Sartori Kato, der ursprünglich gar keinen Instantkaffee, sondern einen löslichen Tee entwickeln wollte. Da Instanttee jedoch ein unbedeutendes Geschäft blieb, wandelte er sein 1899 entwickeltes Teeverfahren ab und präsentierte 1901 an der Pan-Amerikanischen Ausstellung einen Instantkaffee, der später auf der Ziegler-Expedition zum Nordpol verwendet wurde.105 Kato’s Soluble Coffee dürfte sich jedoch weder qualitativ noch durch besonderen wirtschaftlichen Erfolg von anderen Kaffeeprodukten abgehoben haben.106 Auch erfolgreicheren Geschäftsmännern wie dem Belgier George Washington, der ab 1906 ein süssliches Milchkaffeepulver vertrieb und 1910 in New York unter der Marke G. Washington’s Coffee107 Instantkaffee zu produzieren begann, gelang keine wesentliche Verbesserung des Produkts.108
Wie die Beispiele zeigen, wurden die Kaffee-Essenzen vielfach mit Milch und Zucker gemischt oder als Milchkaffee («Café au lait instantané») angeboten, weil die Milch den unvollkommenen Kaffeegeschmack teilweise überdeckte. Aus diesem Grund sowie aufgrund der Tatsache, dass die Kaffee-Extrakte nach dem gleichen Produktionsprinzip wie Kondensmilch hergestellt wurden,109 begannen sich neben Borden auch andere Kondensmilchunternehmen wie die schweizerische Anglo-Swiss Condensed Milk Company in Cham (Kanton Zug) für Kaffeekonserven zu interessieren.
Vom Norden in den Süden – Die Nestlé & Anglo-Swiss entwickelt sich zum globalen Milchunternehmen
Kondensmilch, Kaffeekonserven und die Anfänge der Nestlé & Anglo-Swiss
Während in Brasilien der Kaffee- und in Indien der Teeanbau vorangetrieben wurde, spezialisierte sich die Schweizer Landwirtschaft ab Mitte des 19. Jahrhunderts durch den Anschluss an die Weltmärkte zusehends auf die Milchproduktion.110 Schliesslich waren es fremde Zuwanderer, die aufgrund ihrer Erfahrungen aus der Heimat das Potenzial der qualitativ guten Schweizer Milch zur industriellen Verarbeitung zuerst erkannten: der Deutsche Heinrich Nestlé aus Frankfurt und die Gebrüder Page aus Dixon in den Vereinigten Staaten, deren Firmen sich 1905 zur Nestlé & Anglo-Swiss Condensed Milk Company zusammenschliessen werden.111
Charles Page hatte im Amerikanischen Bürgerkrieg als Korrespondent der «New York Tribune» die Potomac-Armee der Nordstaaten begleitet und dabei die grosse Nachfrage der Soldaten nach Kaffee mit Kondensmilch hautnah miterlebt.112 Nach Kriegsende wurde er als Handels-Vizekonsul der Vereinigten Staaten in die Schweiz, nach Zürich, berufen. Hier sollte er sich nach Investitionsmöglichkeiten für amerikanisches Kapital und nach Fachwissen umsehen. Die weit verbreitete Milchwirtschaft in der Schweiz erinnerte ihn daran, dass die gezuckerte Kondensmilch während des Sezessionskriegs eine sehr gefragte Nahrung in der Armee der Nordstaaten und in der Bevölkerung gewesen war. Vor diesem Hintergrund kam Charles Page auf die Idee, von der Schweiz aus die europäischen Grossstädte mit Kondensmilch zu versorgen, wo qualitativ gute Milch Mangelware war.113
Im Gegensatz zu den meisten Schweizer Lebensmittelunternehmen dieser Zeit gründete Page die Anglo-Swiss Condensed Milk Company114 am 23. April 1866115 bereits mit einem beachtlichen Kapital von 100 000 Schweizer Franken als Aktiengesellschaft und designiertes Grossunternehmen.116 Unkonventionell und unerschrocken hatte Charles Page amerikanische Freunde117 als Aktionäre seiner Milchgesellschaft um sich geschart, obwohl er noch über kein technisches Verfahren verfügte, um seine Vision zu verwirklichen. Parallel zur Gründung seines Unternehmens beauftragte er deshalb seinen jüngeren Bruder George, verschiedene Kondensmilchproduzenten in den Vereinigten Staaten aufzusuchen und näheres über deren Herstellungsverfahren herauszufinden. Ebenso wurde George von Charles angewiesen, bei Gail Borden Informationen zur Herstellung von Instantkaffee zu erlangen.
Auf diese Weise kam George Page mit Borden und anderen Milchsiedern in Kontakt. Diese klärten ihn erstaunlich freizügig über ihre Produktionsmethoden auf, da sie ihre Kondensmilch nur in Amerika absetzten und die Gebrüder Page in Europa nicht als Konkurrenten betrachteten. Es war allerdings nicht einfach, aus ihren Erklärungen schlau zu werden, denn viele dieser leidenschaftlichen Tüftler arbeiteten ohne klare Formeln und Rezepte. Trotzdem eignete sich Page immer mehr technisches Wissen an und begann daraus sein eigenes Kondensmilchverfahren abzuleiten.
Als die Gebrüder Page 1867 die Produktion in Cham aufnahmen, stellte ihre Siederei das erste Kondensmilchunternehmen in Europa dar.118 Wie die weltmännisch klingende Firmenbezeichnung Anglo-Swiss Condensed Milk Company erahnen lässt, visierten sie von Anfang an eine internationale Kundschaft an.119 Den hauptsächlichen Absatzmarkt sahen sie im frischmilcharmen Grossbritannien, wo die Milch als tägliches Lebensmittel immer wichtiger wurde: Mit der wissenschaftlichen Propagierung der Milch120 als besonders nährreiches «Volksnahrungsmittel» begannen wohlhabende Haushalte in den englischen Grossstädten regelmässig Milch vom Lande zu beziehen. In den Industriezentren war die Milch damals aber oft von schlechter Qualität, mit Wasser gepanscht oder von gefährlichen Krankheitskeimen durchsetzt.121 Deshalb erfreute sich die gezuckerte Kondensmilch der Anglo-Swiss, welche 1867 an der Weltausstellung in Paris und 1868 an der «Exposition Maritime» in Le Havre für ihre hohe Qualität Auszeichnungen erhielt, in den englischen Industriestädten sofort einer grossen Nachfrage. Aber auch als Proviant auf den neuen Ozeandampfschiffen gewann die eingedickte Zuckermilch rasch an Bedeutung, wodurch sich das Produkt in kurzer Zeit auf der ganzen Welt verbreitete.122
Bereits im ersten Jahr konnten 137 000 Dosen gezuckerte Kondensmilch unter der Marke Milkmaid123 abgesetzt werden. Die Chamer Milch war zwar teuer, lag aber voll im Trend der damaligen Zeit, was es dem Unternehmen dank seiner Vormachtstellung in Europa ermöglichte, beeindruckende Dividenden von bis zu 20 Prozent auszuschütten.
Es fiel der Anglo-Swiss deshalb auch leicht, zur Vergrösserung des Unternehmens und der Festigung seiner Marktstellung in Grossbritannien und Europa zusätzliche Investoren zu finden: Zwischen 1866 und 1875