Flagschiff Nescafé - Nestlés Aufstieg zum grössten Lebensmittelkonzern der Welt. Thomas P Fenner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas P Fenner
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Зарубежная деловая литература
Год издания: 0
isbn: 9783039199044
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die beiden Kolonialprodukte zur Verbilligung mit Zusatzstoffen gestreckt wurden. Bis Ende des 18. Jahrhunderts fand der Zichorienkaffee im Gebiet des heutigen Deutschland, in den Niederlanden, der Schweiz sowie in Frankreich und Grossbritannien Verbreitung.37

      Die bedeutendste und offensichtlichste kulturelle Anpassung war jedoch, dass dem Kaffee, Tee und Kakao im europäischen Raum Milch und Zucker beigemischt wurde, um die Heissgetränke zu süssen und ihre Bitterkeit zu mildern.38 Ursprünglich tranken die Chinesen den Tee nämlich als Grüntee und ohne die Beigabe von Milch und Zucker. Als China im 17. Jahrhundert jedoch den aus Zentralasien einfallenden Mongolen in die Hände fiel und diese den Tee mit Milch mischten, erhielt der Schwarztee immer mehr Zuspruch. Da sich der Schwarztee auf den langen Seefahrten besser konservieren liess als Grüntee, bevorzugten auch die Engländer später die vollständig fermentierte Sorte mit Milch.39 Die mongolische Gewohnheit wurde also von den europäischen Chinareisenden nach Europa übertragen: «[…] schon um die Mitte des 17. Jahrhunderts genossen etwa die Franzosen ihren Tee ‹à la Chinoise›, was bedeutete, dass Milch nach der Art der Mongolen hinzugefügt wurde»,40 schreibt Martin Krieger. Die Empfehlung, Tee und Kaffee mit Milch zu mischen, findet sich ebenfalls in den Briefen der Marquise de Sévigné Ende des 17. Jahrhunderts wieder. Da unverarbeitete Milch rasch verdirbt, wurde sie damals wohl noch als Sauermilch beigegeben.41

      Ebenso scheint die bittere Trinkschokolade nach aztekischer Art – bei welcher der Kakao zusätzlich mit Gewürzen gemischt wurde – den spanischen Kolonisten wenig geschmeckt zu haben. Nur zögerlich begannen sie das mittelamerikanische Getränk zu konsumieren. Erst als ihm süsser Zucker, Zimt und Vanille beigegeben wurde, erhielt die Trinkschokolade grösseren Zuspruch. Weil sie einen hohen Fettgehalt aufwies, der oft Verdauungsprobleme verursachte, wurde ihr gegen Ende des 17. Jahrhunderts ebenfalls warmes Wasser oder Milch beigegeben, damit das Getränk bekömmlicher wurde.42

      Erst mit Milch und Zucker gemischt, konnten die drei aus den Tropen stammenden Getränke in Europa und Amerika grössere Verbreitung gewinnen.43 Seither existiert eine starke Verbindung zwischen der Milch und den drei Heissgetränken Kaffee, Tee und Kakao, welche die weitere Entwicklung der vier Produkte prägte.

      Bereits in der Frühen Neuzeit verzeichnete der Kaffeehandel beachtliche Zuwachsraten. Aber erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts erlangte der Kaffee breitere Popularität,44 als die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Prozesse im Zuge der ersten Globalisierungswelle zusehends dynamischer wurden.45 Das Prinzip der Selbstversorgung, welches für eine agrarisch dominierte Gesellschaft kennzeichnend war, wurde mit der einsetzenden Industrialisierung zugunsten einer räumlichen Spezialisierung der Wirtschaft aufgegeben.

      Die Lebensweise in Europa und Nordamerika veränderte sich dadurch tiefgreifend: Die Arbeit in der Fabrik führte zu einer immer grösseren Nachfrage nach vorgefertigten und haltbaren Lebensmitteln, denn durch die langen Arbeitszeiten fehlte die Zeit für die Nahrungszubereitung zu Hause. Auf dieser Grundlage entfaltete sich die Lebensmittelindustrie,46 durch die sich der Kaffee in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und im 20. Jahrhundert endgültig vom Luxusprodukt zum Alltagsgetränk wandelte.47 Im Wesentlichen gab es drei Ursachen für die wachsende Beliebtheit des Heissgetränks:

      Erstens verbilligte sich der Kaffee auf der Angebotsseite durch die Liberalisierung der Handelsverträge, den Abbau von Schutzzöllen sowie die Aufhebung der Navigationsakte, mit welcher 1851 die Handelsmonopole der Ostindienkompanien auf Kaffee fielen. Ebenso konnten mit neuen Transportmitteln wie der Eisenbahn und Dampfschiffen die Transportkosten wesentlich reduziert werden. Durch den Bau von Eisenbahnen ins Landesinnere wurde der Provinzstaat São Paulo zum wichtigsten Kaffeeanbaugebiet Brasiliens und Santos zum grössten Kaffeeausfuhrhafen der Welt.48 Die starke Ausweitung der Kaffeeproduktion in Lateinamerika und der Aufstieg Brasiliens zum weltweit bedeutendsten Kaffeehersteller – um 1900 wuchsen in Brasilien drei Viertel der gesamten Kaffee-Ernte – stellten eine wichtige Voraussetzung für den Siegeszug des Kaffees dar.49

      Das südamerikanische Land reagierte dabei nicht einfach nur auf die Nachfrage auf dem Weltmarkt, sondern trug zur Schaffung dieser Nachfrage massgeblich bei. Denn durch die enormen Produktionsmengen sanken die Preise, und Kaffee wurde für immer grössere Bevölkerungskreise erschwinglich.50 Ausserdem führte die steigende Kaffeeproduktion in Lateinamerika zu einem wachsenden Kaffeekonsum in den Anbauregionen selbst, welcher dort traditionelle Getränke wie die Trinkschokolade oder Mate zu verdrängen begann.51

      Zweitens gliederte sich der Kaffee auf der Nachfrageseite in verschiedenste Bereiche der europäischen Alltagskultur ein: Im Gegensatz zum berauschenden Bier wurde der Kaffee als ernüchterndes Getränk angesehen, das die Verständigkeit erhöht und Wahrnehmungsvorgänge beschleunigt.52 Nicht zuletzt aufgrund dieser Zuschreibung entwickelte sich der Gedankenaustausch bei einer Tasse Kaffee zu einer bürgerlichen Freizeitbeschäftigung, zu der sich die Männer ins öffentliche Kaffeehaus begaben. Die Frauen dagegen hielten das gemeinsame Kaffeekränzchen als exklusiv weibliche Angelegenheit im privaten Umfeld. Der Kaffeekonsum etablierte sich dadurch als Symbol und Habitus einer bürgerlichen Lebensführung.53

      Drittens wurde der Kaffee parallel dazu in den industriellen Rhythmus der Städte integriert,54 indem das koffeinhaltige Getränk als leistungsförderndes Mittel in der modernen Arbeitswelt seinen Platz fand:55 Kaffeepausen unterbrachen die langen und monotonen Arbeitsgänge der Arbeiterschaft, wodurch das anregende Heissgetränk zu einem Medium der proletarischen Geselligkeit und zu einem Elixier der kurzfristigen Erholung wurde.56 Bei vielen Industriearbeitern verwandelte die Tasse Kaffee zudem eine kalte Mahlzeit in eine warme. Es gab Arbeiterfamilien, die tagelang nicht ordentlich zu Mittag assen, aber drei- bis viermal täglich Kaffee tranken. Das vorwiegend aus Zichorienkaffee bestehende Getränk war dabei nicht nur billiger, sondern auch zeitsparender als andere Lebensmittel und unterdrückte den Hunger und die Müdigkeit. Kartoffeln, Kaffee und Branntwein stellten laut Roman Sandgruber die Trilogie der Arbeiternahrung dar.57

      Einzig im Britischen Empire, in Asien und Russland, wo Tee getrunken wurde, sowie in Spanien, wo das Schokoladegetränk sehr beliebt war, hatte der Kaffee geringen Erfolg.58 In Grossbritannien wurde der Kaffee im 18. Jahrhundert zunehmend durch den Tee verdrängt und ersetzt.59 Als 1833 schliesslich die Monopolstellung der englischen Ostindienkompanie (EIC) beseitigt wurde und das Zeitalter des britischen Freihandels begann, fielen in Grossbritannien die Teepreise. Der Teekonsum nahm daraufhin rasch zu und liess England ab 1850 zu einer Teetrinkernation werden. Entscheidend für den grossen Zuspruch auf der Insel war zudem, dass unter der britischen Krone in Ceylon und Indien neue Teeanbaugebiete entstanden und dieser Tee wesentlich günstiger war als derjenige aus China.60 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts brachten die Engländer die asiatische Pflanze auch nach Süd- und Ostafrika. Schliesslich fand der Teeanbau auch in Lateinamerika sowie im Kaukasus Verbreitung,61 wo Russland und die Türkei ihren Teekonsum durch eigene Produktion zu decken versuchten.62

      Analog zum Kaffee vergesellschaftete sich der Teekonsum auch im Britischen Empire in den Anbauländern, dem Bürgertum und der Arbeiterschaft: Mit den britischen Teepflanzungen begannen auch die Inder selber Tee zu konsumieren, der dort mit der Milch gekocht und mit viel Zucker und Gewürzen gemischt wird. Gleichzeitig sickerte im Mutterland die aristokratische Tradition der «Tea Time» als Mittelpunkt des geselligen Beisammenseins in die bürgerliche Öffentlichkeit durch, wie die Verbreitung der öffentlichen «Tea Rooms» ab den 1870er-Jahren zeigt.63 Da Tee neben Wasser das preisgünstigste Getränk in Grossbritannien darstellte, erreichte er im 19. Jahrhundert auch die ärmsten Bevölkerungsschichten, wo das anregende Getränk zusammen mit Kartoffeln und Speck zur Arbeitermahlzeit gehörte.64

      Der dritte Katalysator, der den Kaffee-, Tee- und Kakaokonsum antrieb, war schliesslich die industrielle Vorfertigung, welche das Verhältnis zwischen Aufwand und Ertrag bei der Zubereitung wesentlich verbesserte.65 Ab dem späten 18. Jahrhundert wurde die teure und mühsame Handarbeit bei der Kakaoherstellung