Weltwärts. Ina Boesch. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ina Boesch
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Философия
Год издания: 0
isbn: 9783039199747
Скачать книгу
verkauften es an europäische Händler. Diese erzielten mit dem Verkauf des Produkts in Europa ein Vielfaches des Einkaufspreises. Die Firma Werdmüller bezog das Gummi unter anderem aus Venedig, möglicherweise auch Baschi.27

      Gummiarabikum aus Afrika. Ingwer aus der Karibik. Zucker vermutlich aus Brasilien. Nelken, Muskat und Zimt aus Asien. Seide aus Italien. Kölnischwasser aus Deutschland. Strümpfe aus Frankreich. Baschis Handelsbeziehungen gingen in alle Windrichtungen und reichten in fast alle Kontinente. In seinem Laden in der «minderen» Stadt von Zürich war fast der ganze Globus vertreten – einhundert Jahre nach der sogenannten Entdeckung Amerikas durch Christoph Kolumbus und der Pionierfahrt Vasco da Gamas nach Indien. Noch war die globale Welt, die sich um 1600 in Baschis Handlung auf wenigen Quadratmetern zeigte, nicht von Europa dominiert. Noch mischten verschiedene Produzenten und Handelsmächte im lukrativen Geschäft mit den Gewürzen mit.

      Mit seiner «Flöchnerei» hatte Sebastian die Welt aus Baschis Geschäft gerettet. Was er vor der Obrigkeit jedoch nicht verstecken konnte, waren die Immobilien. Das Haus am Münsterhof samt Nebengebäuden kam unter den Hammer. Um Baschis Schulden zu begleichen, liess die Behörde zudem den Laden schliessen und den Restbestand veräussern.28 Sebastian hatte dennoch ein gutes Geschäft gemacht. Die Ware, die er zur Seite geschafft hatte, machte zusammen mit dem Erbe seines Grossvaters und anderen kleinen Beiträgen einen Gesamtwert von 2200 Gulden aus.29 Um diese Summe zu erwirtschaften, hätte ein Zimmermeister zwanzig Jahre arbeiten müssen.30 Für Sebastian bildete das Vermögen den willkommenen Grundstock für einen Laden, den er 1602 zusammen mit seiner Mutter eröffnete, und für die Unterstützung seiner vielen Geschwister.

      Ostende

      Langsam scrolle ich durch die Fotos, verschiebe auf dem Bildschirm die Fundstücke aus dem Familienarchiv. Da und dort bleibe ich an einem Wort hängen, hangele mich von Buchstaben zu Buchstaben. Einmal mehr versuche ich, im Handbuch zu entziffern, «was sich mit Hans Baschi Kitt zuo tragen hatt in 1602».31

      Hoch verschuldet war Baschi nach Mähren geflohen, wo er Zuflucht bei einer der unzähligen Täufer-Gemeinschaften gefunden hatte, reime ich mir zusammen. Nach ein paar Wochen zog er nach Wien, wo ihn sein zweitältester Sohn Sebastian bei einer Frau aus St. Gallen fand. Gemeinsam kehrten Vater und Sohn nach Zürich zurück. Da Baschi nicht in der Stadt bleiben durfte, machte er sich erneut auf. Diesmal setzte er sich mit seinem ältesten Sohn Hans Jacob in die Niederlande ab. So weit kann ich dem Verfasser des Berichts und seiner Beschreibung von Baschis Fluchtroute folgen. Dann macht er eine Bemerkung zum Geld, das die beiden aus der Haushaltskasse mitlaufen liessen, und nimmt den Faden wieder auf: Vater und Sohn gingen im September 1602 nach Ostindien. Ostindien? Ich zoome das Wort heran. Tatsächlich. So steht es schwarz auf weiss. Ich bin elektrisiert. Baschi und Hans Jacob hielten sich also in einer der europäischen Kolonien auf. Da sie zuerst in die Niederlande fuhren, standen sie wahrscheinlich im Sold der Niederländischen Ostindien-Kompanie (VOC).

      Endlich ein weiterer Hinweis, dass die Kitts selbstverständlich in die globale Geschichte eingebunden waren: Baschi bezog von den Niederländern nicht nur Gewürze, er stellte sich auch in ihren kolonialen Dienst. Fiebrig suche ich nach mehr Hinweisen und erfahre beim Überfliegen des Berichts, Baschi habe sein Geld verloren und eineinhalb Jahre unter Graf Moritz gedient, bis er 1604 auf einem Schiff gestorben sei. Ich lese nochmals die Geschichte von den Schulden und dem geschlossenen Laden und stosse schliesslich auf eine Liste mit Namen und Daten. Darin zählt der Berichterstatter die Kinder auf, die Baschi mit seiner Frau Regula gezeugt hatte. Als Ersten erwähnt er Baschis ältesten Sohn: «Hans Jacob starb 1603 in Ostindien erschossen, ward 21 Jahr alt.»32 Nun sind alle Zweifel ausgeräumt: Hans Jacob diente als Söldner, obwohl Zwingli das verboten hatte. Und er war im Einsatz in einer niederländischen Kolonie. Kurz nach der Gründung der VOC muss er einer der ersten Schweizer gewesen sein, die für die Niederländer und ihren Gewürzhandel starben.

      Atemlos beginne ich, andere Dokumente zu durchforsten. Als Erstes nehme ich mir das «Memoriebüchlein» vor, die von verschiedenen Familienmitgliedern geführte Chronik der Kitts. Sebastian erzählt darin nochmals, aber in anderen Worten als im Handbuch, wie man den Laden dichtgemacht hat, berichtet von der Flucht des Vaters nach Mähren und von der Heimkehr aus Wien. Dann fährt er fort, im September 1602 sei der Vater «mit dem eltisten son nach dem Underland in Ostende zogen».33 Ostende? Ich vergrössere die Schrift. Kein Zweifel. Hier steht, dass die beiden ins Unterland, die Niederlande, gereist seien, genauer nach Ostende, in die flämische Stadt am Meer. Sollte meine Hoffnung auf eine koloniale Verwicklung mit einer anderen Endung, mit dem Wortteil -ende so schnöde zerstört werden? Es bleibt noch eine Möglichkeit, dies zu überprüfen. Als ich die Familiengeschichte konsultiere, die David Kitt im 18. Jahrhundert geschrieben hat, dämmert mir, dass ich Abschied nehmen muss von der Vorstellung, die beiden Kitts seien in Ostindien gewesen. Ich lese, Baschi habe im April 1604 einen Brief aus Gorcum geschrieben und im September desselben Jahres aus Sluis.34 Beide Städte liegen im Süden der Niederlande.

      Ich schlucke die Enttäuschung herunter und recherchiere zum Grafen Moritz, in dessen Dienst sich Baschi offenbar befand. Es muss sich um Moritz von Oranien handeln, der bei der Belagerung von Ostende eine wichtige Rolle spielte. Um die Jahrhundertwende lag das von den calvinistischen Niederländern dominierte Ostende als Exklave im von den katholischen Spaniern beherrschten Flandern. 1601 wollten die Spanier und ihre Verbündeten die Stadt zurückerobern und begannen, sie zu belagern. Während der dreijährigen Kämpfe kamen unzählige Soldaten ums Leben, auch Hans Jacob starb auf dem Schlachtfeld. Man habe ihm sein linkes Bein und seine linke Hand weggeschossen, entziffere ich, und zwei Stunden später war er «ein lich».35 Als sich die Versorgungslage in Ostende zuspitzte, ging Moritz von Oranien – und mit ihm Baschi – nach Sluis, um die Spanier zu einer Feldschlacht zu bewegen und zur Beendigung der Belagerung. Der Schachzug misslang, und Baschi fand den Tod. Er sei auf einem Schiff «elendiglich gestorben», heisst es.36

      Verbandeln

      Es war die Crème de la Crème der Zürcher Gesellschaft, die sich am 26. Juli 1613 im Grossmünster versammelte. Männer und Frauen aus den sogenannten guten Familien hatten dem – seit Jahrzehnten im Hochsommer üblichen – Winterwetter getrotzt und waren zu Sebastians Hochzeit gekommen: die Werdmüllers, die Holzhalbs oder die Grebels.37 Sebastian hatte nach dem Tod seines Vaters und seines Bruders den Laden mit seiner Mutter offenbar so gut geführt und so gut gewirtschaftet, dass er für die noble Familie Grebel als Schwiegersohn infrage kam. Seine Braut Margarethe stammte aus dieser Junkerfamilie. Ihr Vater war der Stiftskämmerer Georg Grebel, ihre Mutter eine Holzhalb und Tochter des Landvogts Heinrich Holzhalb.

      Da Margarethes Vater gestorben war, führte Sebastians Pate, Statthalter Hans Ulrich Wolff, die Braut in die Kirche. Und da auch Sebastians Vater tot war, in Holland «elendiglich» umgekommen, nahm der Onkel des Bräutigams, der Seidenfabrikant Heinrich Werdmüller, dessen Platz ein. Da sassen also – ausser den Gästen – die erst seit drei Generationen eingebürgerten Kaufleute Kitt neben der alteingesessenen Junkerfamilie Grebel und lauschten den Worten von Felix Wyss, der die beiden Hausstände mit Gottes Segen verband. Für beide Familien handelte es sich um ein profitables Geschäft: Mit der Verschwägerung bauten die Grebels ihre wirtschaftliche Macht aus, während die Kitts sich einen Aufstieg in distinguierte Kreise verschafften.

      Nach der Vermählung lud Sebastian zu einem üppigen Gelage ein, das sich über ganze zwei Tage hinzog. Am ersten Mittagessen fanden sich 140 Gäste ein, abends wurde es intimer, da durften nur dreissig Personen essen und trinken. Am nächsten Tag sassen am Mittag achtzig Geladene am Tisch und abends nochmals dreissig. Sebastian musste für die unzähligen Köstlichkeiten und die vielen Mass Wein tief in die Tasche greifen: Siebzig Gulden inklusive Trinkgeld liess er sich das Fest kosten. Damit hätte er einen Handwerker 140 Tage lang beschäftigen können.38

      Die Auslagen dürften angesichts der Mitgift zu verkraften gewesen sein. Sebastian bekam von der Brautmutter 400 Gulden. Ein Jahr nach der Hochzeit eröffnete er mit seinem Bruder Caspar ein eigenes Geschäft. Sie traten der Zunft zur Saffran bei und trieben wie bereits der Vater Handel mit Lyon.39