Auf meinem Weg in die 500-jährige Vergangenheit der Kitts begegnete ich vielen Krämern, Händlern, Kaufleuten – Männern, deren Geschäfte meist nicht an der Stadtmauer endeten: Einige pflegten wirtschaftliche Beziehungen zu Nachbarregionen, andere bis in die Zentren der damaligen Weltimperien, dritte bis nach Übersee. Ich stiess auch auf Söldner, die im Dienst global aktiver Auftraggeber, also von Berufs wegen Grenzgänger waren. Und ich traf auf lokal tätige Ärzte und Pfarrer, Goldschmiede und Gerber, Buchbinder und Apotheker, Fabrikanten und Makler, Lehrer und Staatsangestellte und in der Zürcher Landschaft auf Weber und Landwirte. Politiker fand ich keine. Auch keine herausragenden Persönlichkeiten, wie es sie in den Sippen Escher, Werdmüller, Bodmer, Gessner oder anderen sogenannten guten Zürcher Familien gab. Die Kitts schienen eine durchschnittliche Oberschichtsfamilie gewesen zu sein. Gerade weil sie keinen Sonderfall darstellt, wurde meine Neugier, ob und wie globale Beziehungen im Leben ihrer Mitglieder eine Rolle gespielt hatten, besonders geweckt.
Wenig erstaunlich setzte sich das Personal, das im Lauf meiner Nachforschungen meinen Computer bevölkerte, fast ausschliesslich aus Männern zusammen. Sie waren es und unter ihnen vorwiegend Mitglieder der Oberschicht, die Spuren hinterliessen. Aus nachvollziehbaren Gründen: So konnten sie etwa im 17. Jahrhundert im Gegensatz zu Frauen höhere Schulen besuchen; sie hatten in den Zünften das Sagen; sie stellten die Politiker; sie lenkten die Kirchen; sie verwalteten den Besitz der Frauen; sie dominierten das öffentliche Leben; sie allein waren per Gesetz handlungsfähig. Am männlichen Machtanspruch und seiner Durchsetzung veränderte sich im 18. und 19. Jahrhundert wenig.
Um diese Männerdominanz zu untergraben, richte ich den Scheinwerfer unter anderem auf eine Frau. Anna Margaretha Kitt lebte im 17. Jahrhundert und war in ihrem Zürcher Alltag als Haushaltsvorsteherin mit der weiten Welt verbunden. Ausser ihr stelle ich Salomon Kitt ins Licht, der im 18. Jahrhundert als Trittbrettfahrer bei der kolonialen Expansion mitmachte. Zudem hole ich Armin Kitt, der sich im 19. Jahrhundert in Kairo im Schatten der Kolonialmächte aufhielt, aus dem Dunkel. Auf meiner Reise durch die Vergangenheit – unterbrochen von Abstechern in die Gegenwart – gelange ich bis ins 16. Jahrhundert, als der erste Kitt nach Zürich zog. Von hier bewegten sich seine Nachkommen allmählich weltwärts.
16. / 17. Jahrhundert
Die drei
Sebastians
und ihre
Geschäfte
Von den Anfängen der Kitts wusste ich lange nichts
Ich wusste, dass es ein Familienarchiv gab. Wo es lag, wusste ich hingegen nicht. Der Historiker Hans Conrad Peyer erwähnt es in seinem Klassiker «Von Handel und Bank im alten Zürich», gleichzeitig geizt er mit nützlichen Informationen: Zwar offenbart er den Namen des Schatzhüters, doch dessen aktuellen Wohnort nennt er nicht. Allerdings legt er eine feine Spur. Er schreibt, dass der Privatarchivar eigentlich ein Generaldirektor sei. Mag sein, dass dem Wissenschaftler die Bezeichnung wichtig war, kann sein, dass der Generaldirektor selbst darauf bestand. Heute mutet der Begriff antiquiert an, als das Buch erschien, stand er für eine bestimmte Schicht. Ich wusste, ich hatte meine Fahndung auf die oberen Zehntausend zu konzentrieren.
Trotz der Eingrenzung des Reviers musste ich lange in jenen Gefilden suchen. Auf meiner Odyssee begegnete ich vielen Archivaren, die verneinend den Kopf schüttelten. Familienforschern, die mir bereitwillig Fingerzeige gaben und mich unfreiwillig in die Irre führten. Zwischendurch gönnte ich mir Pausen, in denen ich mir verzaubernde Schätze ausmalte. Sah mich Briefe entziffern, in Briefwechseln schwelgen und in Tagebüchern versinken.
Ich wusste, dass das Archiv von den ersten Generationen der Familie Kitt in Zürich erzählte. Von den Dokumenten erhoffte ich mir erhellende Details über jene Zeit, als die ersten Kitts ihre Fühler in die Welt auszustrecken begannen. Zu den Anfängen wollte ich gelangen, über Umwege erreichte ich schliesslich das Ziel.
Die Truhe
Die Hüterin des Archivs hat mir den Weg wahrscheinlich so beschrieben, wie sie ihn seit Jahrzehnten im Kopf hat. Sie kann ihn bestimmt blind gehen, braucht weder die Namen der Strassen noch die Bezeichnung charakteristischer Stellen. Gehen Sie links hoch, dann rechts, dann gerade aus, dann wieder links, hat sie am Telefon erklärt. Selbstverständlich laufe ich in die falsche Richtung, und wenig überraschend finde ich niemanden, der mir den Weg weisen kann. Als ich sie von unterwegs anrufe, gibt sie mir erneut dieselben Anweisungen: links, rechts, geradeaus, dann wieder links. Aber dann schenkt sie mir noch einen weiteren Hinweis und ergänzt, kurz vor der Abzweigung nach links gebe es einen Laden voll unnötiger Dinge. Ich ahne, was in den Augen einer Frau aus der Zürcher Oberschicht entbehrlich ist: sogenannter Tand. Tatsächlich komme ich an einem Laden voller Nippes vorbei und weiss, es ist nicht mehr weit.
Von aussen sind die Ausmasse des Anwesens nicht zu erfassen. Erst wenn man drin ist, spürt man seine Dimension, entdeckt ein Nebengebäude hinter dem anderen und gewahrt die Aussicht auf die Berge und den See. Um die Beine der Hausherrin streicht eine schwarze Katze mit weissen Pfoten. Der Kater sei fast zwanzig Jahre alt, sagt sie und warnt mich, er würde ab und an plötzlich urtümliche Geräusche von sich geben. Effektiv ist es mehr ein Grollen als ein Miauen. Sie geleitet mich die Treppe hoch, die von einer geräumigen Halle aus in den oberen Stock führt, an den Wänden hängen Ahnenporträts; man vergewissert sich seiner Herkunft und seines Standes. Auf einem Spannteppich mit hohem Flor schweben wir einen langen Gang hinunter zu einem Zimmerchen, in dem drei Truhen stehen: zwei schwarze mit Beschlägen, wie sie für Überseekoffer üblich sind, und eine etwas kleinere aus braunem Holz. Auf dem runden Deckel eine Messingplakette mit der Prägung des Kitt’schen Wappens und der Inschrift «Archiv Kitt». Endlich.
Rasch sortiere ich die Dokumente aus, die mich nicht interessieren: maschinengeschriebene Vorträge aus jüngerer Zeit, gebundene Bücher und Fotos. Danach staple ich Papiere, von denen ich annehme, dass sie mir Aufschluss über die Anfänge der Familie Kitt in Zürich geben können. Und dann wähle ich mit Bedacht ein erstes Schriftstück, das älteste. Auf der Aussenseite eines mehrfach gefalteten Bogens hat jemand mit Bleistift das Jahr 1459 notiert. Mit spitzen Fingern versuche ich ihn zu öffnen, kämpfe mit der Faltung, die ihn in ein kleines Format zwängt, und ringe mit der über die Jahrhunderte eingerasteten Form. Die Entblätterung kommt mir wie ein gewaltsamer Akt vor. Schliesslich streiche ich ihn auseinander, platziere schwere Bücher auf allen vier Ecken und versuche, mich schlauzumachen, indem ich mich von einem grosszügig geschwungenen Buchstaben zum anderen hangle. Offensichtlich geht es um ein Fischereirecht in Greifensee. Ich nehme mir ein zweites Dokument vor, das auf 1512 datiert ist. Auch dieses handelt von einer Angelegenheit in Greifensee, es geht um ein Wegrecht, wie ich Wort für Wort entziffere. Der Name Kitt fehlt. Ich dechiffriere lediglich fremde Namen und entlegene Orte.
Zweifel an meinem Tun kriechen hoch. Was kümmert mich der alte Kram? Widerwillig klaube ich eine weitere Akte hervor und versuche, meinen Unmut zu ergründen. Bin ich frustriert, weil ich die alte Schrift kaum lesen kann? Weil niemand darauf wartet, etwas von der Familie Kitt, geschweige denn von ihrer globalen Verwicklung zu hören? Doch die Neugier überwiegt, und ich führe mein Vorhaben zu Ende, diesmal effizienter als zuvor. Indem ich die auseinandergezwängten Papiere kaum anschaue, sondern sie emotionslos glatt streiche und fotografiere, gelingt mir die Inspektion besser. Nur ab und an bleibt mein Blick an einem Dokument hängen. So animiert mich ein Buchstabe mit einem beeindruckenden Schweif zu lesen, dass «Caspar Kitt, Doctor der Artznei und Bürger der Stadt Zürich» 1667 sein Wohnhaus in der Trittligasse, das Haus zum Sitkust, verkauft habe.1
Ein über siebzigseitiges Büchlein von 1613 verspricht eine Fundgrube zu werden: Es beginnt mit den Worten «Im Namen Gottes Vaters Sohn und heiligen Geist Amen» und listet bis ins Jahr 1730 Mitglieder der Familie Kitt samt ihren Angetrauten, Kindern, Patenkindern, Patinnen und Paten auf. Und dann stosse ich auf ein kleines Heft, ein Büchlein so breit