Der Satz oben auf der Seite ist eine Offenbarung: «Hier innen ist geschriben was sich mitt Hans Baschi Kitt und Rägulla Werdmüller, seini ee-gemahl, zuo dragen hatt in 1602.» Ich beginne zu blättern und entschlüssle einige Wörter. Laden, Täufer, Wien, Holland. Ein Fieber packt mich, schnell wende ich Blatt für Blatt. Eine Liste mit Namen und Daten. Ein Inventar eines Geschäfts. Und schliesslich das entscheidende Stichwort, das eine frühe globale Verwicklung verrät: Gewürze.
Bemächtigen
Vor mir liegt die Vergangenheit. Bereit, durchpflügt zu werden. Tag für Tag wälze ich Verborgenes an die Oberfläche und lese in den Schätzen, die ich geborgen habe. Schritt für Schritt eigne ich mir Krümel von anno dazumal an und be-mächtige mich der Geschichte längst verstorbener Menschen. Das Gefälle steckt im Wort.
Wem gehören die Toten?
Die Mitglieder der Familie Kitt, die ich nach und nach ans Licht der Gegenwart zerre, liegen längst unter der Erde. Und je länger sie tot sind, desto hemmungsloser mache ich mich über sie her. Die zeitliche und die persönliche Distanz lassen Skrupel offensichtlich dahinschmelzen. Während ich mich der Lebensgeschichte meines Urgrossvaters Armin möglichst respektvoll nähere, weil er erstens der Vater meiner mir bekannten Grossmutter war und zweitens sein Tod noch nicht allzu weit zurückliegt, beobachte ich, wie unbekümmert ich Vorfahren, die vor Jahrhunderten gelebt haben, aus der Vergessenheit reisse. Aber nicht die Freude an der Leichenfledderei treibt mich an, sondern die Frage nach ihrer globalen Verwicklung.
Der erste Kitt in Zürich soll ein Tischlersohn aus Feldkirch gewesen sein. So erzählt es einer seiner Nachkommen, der Pfarrer David Kitt.2 Dieser hatte bereits im 18. Jahrhundert eine kleine Familiengeschichte geschrieben – lange bevor im 20. Jahrhundert der Ehemann der jetzigen Archivhüterin die Papiere in der eigens dafür geschreinerten Truhe wegschloss, um sie für die Ewigkeit zu bewahren.
Wann Hans Sebastian Kitt nach Zürich kam, kann der Chronist nicht sagen, wohl aber, wann er Zürcher Bürger wurde. 1535, also vier Jahre nach Zwinglis Tod, schwor er vor dem Bürgermeister und dem Rat der Stadt Zürich, diesem zu gehorchen und sich dem Stadtrecht unterzuordnen. David hielt peinlich genau fest, dass Hans Sebastian zehn Tage nach Pfingsten die Stadtbürgerschaft erlangte, genauer: am Mittwoch nach dem Dreifaltigkeitssonntag. Als ob die genaue Datierung die Einbürgerung noch bedeutsamer machen würde. Tatsächlich hatte Hans Sebastian einige Hürden zu überwinden: Er musste beweisen, dass seine Eltern ein christliches Leben führten und seine Verwandten keine Leibeigenen waren. Zudem musste er zwanzig Gulden zahlen. Weiter wusste David zu berichten, dass Hans Sebastian in Zürich eine Witwe geheiratet und kurz darauf sein angestammtes Metier, die Seilerei, aufgegeben habe, um sich auf den Kleinhandel, das «Gremplen», zu verlegen. Nach dem Tod seiner Frau soll er das Haus seiner Stiefkinder sowie ein zweites gekauft haben. Mit seiner dritten Frau habe er zwei Kinder gehabt. Offenbar sei es ihm mit seiner «Gremplerey so wohl gegangen», dass er seinen Kindern ein ansehnliches Vermögen hinterlassen habe.3
Aus dem Rheintaler Einwanderer ist innert weniger Jahrzehnte ein gut situierter Zürcher Händler geworden. Ich bin versucht, Hans Sebastians Aufstieg in die oberen Gefilde der ständischen Gesellschaft als Erbschleicherei zu taxieren. Das Drehbuch lautet: Armer Schlucker heiratet bewusst reiche ältere Witwe, steigt in ihr Geschäft ein und baut sich nach ihrem Tod ein kleines Reich auf.
Höre ich Hans Sebastian Einspruch rufen? Nein, er kann sich gegen meine Interpretation nicht wehren. Tote haben kein Vetorecht, sie haben überhaupt keine Rechte. Er muss mir die Deutungshoheit überlassen, auch wenn ihm das Bild des Erbschleichers missfällt – zumal solche Karrieren damals gang und gäbe waren. Nur Quellen könnten meiner Lesart widersprechen, doch Zeugnisse gibt es kaum. Es gibt keine Tagebücher und keine Briefe. Keine weiteren Papiere, denen ich Leben einhauchen könnte. Nichts, was Hans Sebastian lebendig machen könnte, ausser der Chronik seines Nachkommens. Anscheinend war er Mittelmass, weder Amtsträger noch Zunftmeister, weshalb er nicht aktenkundig wurde. Einer, der nicht auffiel. Und deshalb keine Spuren hinterliess. Dachte ich – bis im Staatsarchiv des Kantons Zürich erhellende Dokumente auftauchten.
Huren und Buben
Im Herbst 1563 wurde Hans Sebastian verhaftet und im «Wellenberg» in Untersuchungshaft gesetzt.4 Aus diesem Gefängnis konnte er nicht entrinnen. Der Turm stand mitten in der Limmat und war nur mit dem Boot zu erreichen – eine Art Alcatraz im Herzen von Zürich. Die Häftlinge mochten lange an den Türen aus Eichenholz rütteln, diese gaben nicht nach. Massive Schlösser und Schliesskolben verhinderten die Flucht, und versuchte ein Insasse dennoch zu fliehen, fesselte man ihn an die Pritsche. Es ist nicht überliefert, ob Hans Sebastian im obersten der drei Stockwerke in einer einigermassen komfortablen Zelle mit Bett, Licht und Heizung einsass oder zuunterst in einem kalten, niedrigen Verliess mit einem Liegeplatz aus Stroh.
Im Sommer war er, der «Stammvater» der Zürcher Familie Kitt, des «ärgerlichen Einzugs» angeklagt worden.5 Er besass im Seefeld, das ausserhalb der Stadtmauer lag, eine Liegenschaft: die Hölzin Kilch. Entgegen des klangvollen Namens ging es in der hölzernen Kirche gar nicht heilig zu und her. Nachbarn hatten vor dem Ehegericht ausgesagt, dass dort «allerhand Huren und Buben» ein- und ausgingen. Darauf ermahnte das Gericht Hans Sebastian, sich künftig um ehrbare Mieter zu bemühen.
Offensichtlich stiess die Schlichtungsbehörde auf taube Ohren, denn im Herbst liefen die Nachbarn erneut Sturm. Sie klagten, dass Hans Sebastian nach wie vor dasselbe «Hausgesindel» zur Miete habe. Die Hausbewohner würden von einer Mitternacht zur anderen ausgelassen lärmen und prassen und ein «schändliches Dasein» führen.
Am 6. Dezember 1563 begann das Ehegericht, die klagenden Nachbarn einzeln zu befragen. Als Erstes sagte Zimmermann, der Ältere, aus:
Im Haus wohne eine «Metze».6
Küng vom Berg gehe öfters zu ihr.
Gossauer sei mit ihr mehrmals in die Gemeinde Zurzach gegangen.
Auch Kitt sei mit ihr ausgeritten, danach habe er sie in seinem Haus aufgenommen.
Küng bringe jeweils viel Wein mit.
Auch Weber, Göldi und Stünzi verkehrten dort häufig.
Wenn die Obrigkeit nicht strikter gegen das «leichtfertige Volk» und gegen Kitt vorgehe, werde er sein Haus wegen dieses «Schwaben» verkaufen müssen.7
Zimmermann junior bestätigte im Wesentlichen die Aussagen seines Vaters:
Keller habe eine Tochter, die sich auf der Gasse herumtreibe.
Küng habe sie mehrmals nach Zurzach ausgeführt.
Auch Kitt sei mit ihr ausgeritten.
Dann trat Sutter vor die Untersuchungsrichter und bat sie inständig, ernsthaft gegen den «Schwaben» vorzugehen. Wegen der vielen Gerichtstermine verliere er jeweils seinen Taglohn, klagte er.
Auch Münch jammerte über Verluste:
Sein Geschäft leide unter dem Betrieb in der Hölzin Kilch. Es sei ein unerträgliches Kommen und Gehen. Und dann die Zecherei!
Der «Schwabe» nehme absichtlich solche Mieter auf. Aus ihnen könne er mehr Zins herauspressen als aus rechtschaffenen Leuten.
Er sage nun schon zum dritten Mal vor Gericht aus. Wer bezahle ihm die verlorene Zeit? Dürfe er auf Kitts Kosten im Wirtshaus essen gehen?
Schliesslich bezeugte eine ehemalige Bewohnerin der Hölzin Kilch die Aussage von Zimmermann, dem Älteren:
Küng, Weber und Göldi kämen häufig vorbei.
Sie wisse das, weil sie Kellers Tochter, die «kleine Kellerin», dort gepflegt habe. Als ihre Brüder jedoch von den Vorgängen im Haus hörten, hätten