Er musste sich beim Verpacken der exquisiten Ware beeilen. Die Muskatnüsse schlugen sanft gegeneinander und machten ein ploppendes Geräusch, als er sie in ein Tuch einschlug. Die Zimtstangen rollte er in ein Papier, und den Safran verstaute er in Dosen. Die Zitronen warf er in einen Korb, das Gummiarabikum in eine Schale. Dann nahm er einen Sack und stopfte die Mercerieware hinein: Bändel und Bordüren, Schnüre und Stoffe, Hüte und Hauben, noch mehr Bändel und noch mehr Bordüren. Zu guter Letzt packte er die sperrigen Güter ein: Papier, Hefte und Schreibzeug. Auch Messer und Löffel. Farbe und Rötel. Die Goldware und die Anhängsel stopfte er in ein Täschchen, das Kölnischwasser verstaute er im Beutel mit den Textilien.
So oder ähnlich muss sich Sebastians Aktion abgespielt haben. Dann setzte er sich hin und schrieb in akkurater Schrift in sein kleines Handbuch: «Folgett hab ich gefflöchnet uß dem Laden und kram kamer an waren.» Stück für Stück listete er die Ware auf, die er «aus dem Laden und der Warenkammer weggeschafft» hatte, insgesamt 72 Posten. Er begann das Inventar mit der Auflistung von sieben gelben französischen Gürteln und anderem Zierrat. Dann folgen Anhängsel aus Mailand. An dritter Stelle schrieb er «Goldtafeln», daneben einen saftigen Preis. Darauf folgte ein «Bindseckli», ein Säckchen. Er notierte viel Seidenes: Seidenbändel, Seidenwesten, Seidenhauben, seidene Hosenbändel, seidene Hemdenfäden, seidene Haarschnüre. Seide aus Mailand, Seide aus Verona, Seide aus Venedig. Nicht nur Seide, auch Samt. Dann eine ganze Reihe von Kappen, Hüten und Hauben, Hutböden und Hutschnüren. Hosenbänder, ganz und gerissen. Dazu Fäden und Schnüre in verschiedenen Formen und Farben. Die Bestandesliste zeugt von der Wichtigkeit der Textilien in jener Zeit, das Angebot entsprach einem wirtschaftlichen Trend.
Neben jeder Ware notierte er die Menge und den Wert. Da gab es manche Kostbarkeit: etwa die Pariser Strümpfe. Selbstverständlich auch den Schmuck (den Zierrat, die Anhängsel, die «Lyoner Glöckchen», die «schwarzen Steine») und das Gold (Lyoner Gold und Goldtafeln). Ebenso «1 Stück des feinsten Kölnisch Wasser» à acht Gulden. Er protokollierte und addierte. Zählte er die Beträge der Textilien und anderer Güter zusammen, kam er auf rund 450 Gulden. Sebastian schrieb die Wörter ohne Fehler, nur ein paarmal korrigierte er die fortlaufenden Zahlen. Er war sich seiner Sache sicher. Für uns bleibt einiges offen. Bezeichnete er mit «Margin» das Maroquinleder, ein feines Ziegenleder, das ursprünglich aus Nordafrika kam? Verstand er unter dem «rauen Faden aus kamben» einen Faden aus Kamelhaar? Und waren die «Chrallestei» rote Korallen?
Schliesslich widmete er sich dem «Gwürtz». Er notierte 11 Kilogramm Pfeffer, rund 45 Kilogramm Zucker und Kandelzucker, 6 Kilogramm Safran, knapp 4 Kilogramm Gummi, 5 Kilogramm Nelken, 7 Kilogramm Muskat, 8 Kilogramm Ingwer, 2 Kilogramm Zimt. Dazu Zitronen und Gewürzgebäck. Schliesslich Produkte, die auf den ersten Blick nichts in der Liste zu suchen haben. Etwa Gummiarabikum, aber auch Mastix, das Harz der Pistazienbäume, auch Grünspan oder Wurmsamen. Doch gemäss der damals gängigen Humorallehre, der Krankheitslehre der Körpersäfte, trennte keine klare Grenze die Kulinarik von der Arznei. Neben die einzelnen Posten schrieb Sebastian den Wert. Dann zählte er die Zahlen zusammen. Mit rund 300 Gulden machten die Gewürze fast die Hälfte des gesamten Warenwerts aus.
Gewürze waren kostbar, denn die meisten Würzmittel kamen von weit her. Deshalb avancierten sie ab dem Mittelalter zu einem Statussymbol und bald zu einem globalen Produkt schlechthin – auch wenn sich die Bedeutung von «global» je nach Standpunkt verschiebt.18 Aus europäischer Sicht begann der Prozess, den wir heute «Globalisierung» nennen, mit dem Pfeffer und dem Muskat, mit den Nelken und dem Zimt. Aus der Perspektive Europas waren es die Gewürze, welche die Epoche der Entdeckungen mit auslösten. Europa wollte sich einen direkten Zugang zur wertvollen Ware verschaffen, die seit dem späten Mittelalter Reichtum und Macht bedeutete, und den von den Arabern dominierten Handel von Asien nach Europa an sich reissen. Deshalb machten sich die portugiesischen, spanischen und italienischen Seefahrer auf den Weg nach Osten – und landeten manchmal im Westen.
Aus nichteuropäischer Sicht war die Welt bereits vor den europäischen Entdeckungsreisen und Eroberungszügen globalisiert.19 So kauften asiatische Händler Gewürze wie Nelken oder Muskat direkt bei den lokalen Produzenten, verschifften sie in Häfen in Südostasien, Indien oder China und verkauften sie an arabische Kaufleute. Diese brachten sie auf dem Landweg in den Mittleren Osten und zum Mittelmeer, von wo sie europäische Zwischenhändler zu regionalen Märkten brachten. Dort kauften sie schliesslich lokale Krämer wie Baschi.
Dieser wird sich mit dem exquisiten Gut vor allem in Lyon eingedeckt haben, ab und an sicher in Begleitung seines Sohnes.20 Sebastian kannte die französische Handelsmetropole gut, denn als Jugendlicher hatte er dort fast zwei Jahre verbracht, um Französisch zu lernen, die Handelssprache von damals.21 Und um das ABC des Kaufmanns zu büffeln, vor allem alles Wissenswerte rund um die Seide. Sebastian hatte dort etwas von der grossen Welt geschnuppert und seinen Horizont über die Grenzen seiner Heimatstadt und des Marktfleckens Zurzach hinaus erweitert. Eine Ahnung von der Welt konnte er auch in Zürich gewinnen.
Manches Produkt aus der Neuen Welt fand bereits früh seinen Weg in die Limmat-Stadt. So berichtete man etwa Kurioses vom grossen Conrad Gessner, der zwanzig Jahre vor Sebastians Geburt starb. Der Universalgelehrte soll bei sich zu Hause in der Frankengasse «Liebesäpfel», wie er die Tomaten nannte, gezüchtet und Meerschweinchen, die wuselnden Nagetiere aus Peru, gehalten haben.22
Als Sebastian die Gewürze auflistete, die er «geflöchnet» hatte, wird ihm manches durch den Kopf gegangen sein. Die drei Buchstaben «Pip» – für Piper Negrum, schwarzen Pfeffer – lösten sicher eine Reihe von Assoziationen aus.23 Teure Körner. Eines der beliebtesten Gewürze. Auch in Zürich sehr gefragt. Dauernde Kriege zwischen den Niederländern und den Engländern, die beide den Handel aus Asien kontrollieren wollten. Noch war nichts entschieden. Der Pfeffer konnte über die übliche Landroute nach Lissabon oder Venedig und von dort nach Zürich gelangt sein. Er konnte aber geradeso gut von den Niederländern nach Amsterdam verschifft und von dort in Baschis Laden verfrachtet worden sein.
Während Sebastian das Wort «Safran» notierte, sah er womöglich die flinken Hände vor sich, welche die Narben aus den Blüten brachen.24 Eine aufwendige Arbeit, die den hohen Preis für das rote Gold rechtfertigte. 150 Gulden notierte er für die sechs Kilogramm, damit machte das Pulver die Hälfte des Gesamtwerts der Gewürze aus. Gut möglich, dass Baschi den Safran aus Italien bezogen hatte; er wurde aber auch in Frankreich oder Nordspanien angebaut. Man handelte ihn vor allem auf dem Markt in Nürnberg, bekam ihn aber auch in Lyon, wahrscheinlich auch in Zurzach.
Ich stelle mir vor, dass Sebastian bei den Wörtern «Nelken», «Muskat» und «Zimt» den Honiggeschmack des Züritirggels auf der Zunge hatte.25 Fast möchte ich wetten, dass er in Gedanken mit der Zunge das flache Gebäck gegen den Gaumen drückte, bis der harte Fladen weich war, als er in seiner Liste die fünf Kilogramm «Nägelli», die sieben Kilogramm «Musgatnussen» und die zwei Kilogramm «Zimet» festhielt. Die Produktion und den Handel mit diesen Gewürzen aus Asien teilten sich damals noch viele Akteure: Araber, Asiaten, Europäer. Deshalb konnten sie über viele Wege nach Europa gelangt sein – und schliesslich von den Häfen in Venedig, Sevilla, Amsterdam oder Lissabon nach Zürich.
Beim Begriff «Gumi» für Gummiarabikum wird er die verschiedenen Kunden vor Augen gehabt haben, welche die eigentümlichen Stücke kauften.26 Er sah die Textilproduzenten die glänzenden, fahlen und geruchlosen Klümpchen erstehen, um der Seide Glanz zu verleihen und sie zu glätten. Die Arzneikundigen, um Schmerzen zu stillen und Entzündungen zu heilen. Und dann die Handwerker, um Farben zu verdicken oder Leder zu polieren. Sie alle brauchten das Harz der Akazienbäume, die in der nördlichen und südwestlichen Sahara wuchsen, für ihre unterschiedlichen Zwecke.
Es gab zwar Reiseberichte über die Sahara – etwa von Herodot, den Griechen oder den Römern –, doch die wenigsten kannten sie. Ich behaupte, dass Sebastian nicht wusste, dass das Gummiarabikum