2.4.2 Spuren monastischer Spiritualität
Der Prozess der spirituellen Selbstfindung scheint noch nicht abgeschlossen zu sein. In den letzten Jahrzehnten wurde der Kommunität eine Reihe von Klöstern übertragen. In Frankreich hat CCN vier traditionsreiche, früher monastisch ausgerichtete Abteien übernommen. Teils wurden sie der Kommunität zur Nutzung überlassen, teils befinden sie sich in ihrem Eigentum: Hautecombe, Notre Dame des Dombes, Boquen, Sablonceaux.284 In den Niederlanden zog CCN in das Kloster Oosterhout ein, und in Spanien übernahm die Kommunität 2013 das ehemalige Trappistenkloster Aula Dei.285 Im algerischen Tibhirine übernahm CCN das Trappistenkloster, das durch einen Anschlag muslimischer Extremisten weltweit Bekanntheit erlangt hatte.286 CCN hat nicht nur die Klostergebäude übernommen, sondern auch etwas vom klösterlichen Geist. Timothy Watson, der die Entwicklungen bei CCN sehr zutreffend reflektiert, bemerkt, dass sich durch das Hineinwachsen der Gemeinschaft in eine klösterliche Atmosphäre auch die Liturgie gewandelt habe. Diese habe „stabilere Formen“287 angenommen. Das von Watson verwendete englische Wort „stable“ bedeutet in der deutschen Übersetzung: stabil, dauerhaft, ausgeglichen, gleichbleibend. Im Blick auf den charismatischen Charakter der Gemeinschaft, den Watson in seinem Artikel ausführlich beschrieben hat, liegt es nahe, dass er die neue monastisch inspirierte Liturgie von CCN der spontanen und emotionalen Gebetspraxis der Charismatiker gegenüberstellt.
CCN erhebt den Anspruch auch das Erbe des heiligen Benedikt, wie sie es in der Abtei Dombes vorgefunden habe, auf ihre Weise fortführen zu wollen.288 Ein gewisser klösterlicher Lebensrhythmus bestimmt die Abläufe der dortigen CCN-Fraternität. Es gibt feste Gebetszeiten, zu denen Glockengeläut einlädt. Auch den benediktinischen Grundsatz des ora et labora betrachten Vertreter der Kommunität als Hilfe und Bereicherung für ihr Gemeinschaftsleben. Das benediktinische Erbe sei zumindest teilweise in das Gesamtprofil integrierbar, meinen die Mitglieder der CCN-Fraternität von Dombes.289 In den klösterlich geprägten CCN-Niederlassungen werden bestimmte Horen des Stundengebetes gehalten, vornehmlich Laudes und Vesper.290 Bestimmte Mahlzeiten werden im Schweigen und unter Vortrag einer lectio divina eingenommen.291 Der Dienstagabend wird in einigen der klösterlichen CCN-Kommunitäten im Schweigen verbracht, auch darin lässt sich eine Spur monastischer Tradition finden.292 Das Liedrepertoire wurde für die vom monastischen Geist inspirierte Liturgie erweitert. Das ursprünglich sehr rhythmische charismatische Liedgut wurde ergänzt. CCN greift dazu auf Gesänge und Lieder von André Gouzes zurück und verwendet dessen kompositorisches Werk, die „Liturgie chorale du Peuple de Dieu“. Gouzes lässt sich bei seinen Kompositionen von der alten musikalischen Tradition der Kirche inspirieren, unter anderem auch von der Gregorianik. Das Ziel seiner liturgischen Gesänge ist es, eine Atmosphäre der Sammlung zu schaffen und den Reichtum der spirituellen und theologischen Tradition anzubieten.293 Dieses auf der monastischen musikalischen Tradition beruhende Liedgut wurde von CCN aufgegriffen. Zum Chorgebet und anderen öffentlichen liturgischen Feierlichkeiten tragen die CCN-Mitglieder weiße Kapuzenmäntel. Diese Kleidung erinnert ebenfalls an monastische Gebräuche. Die Kapuzenmäntel ähneln den Kukullen, dem Gewand, das von Mönchen zu den Chorgebeten getragen wird.294 Die weißen Gebetsmäntel verleihen den monastischen Einflüssen bei CCN ein hohes Maß an visueller Wahrnehmbarkeit.
2.5 Zusammenfassende Überlegungen zur Spiritualität
Zusammenfassend ist festzuhalten: CCN ist im großen Umfang von der Glaubenspraxis der pfingstkirchlichen Erneuerungsbewegung geprägt. Der pfingstkirchliche Zündfunke gab den Ausschlag zur Gründung der Gemeinschaft. Die Taufe im Heiligen Geist gilt auch bei CCN als eine Initiation in die Kommunität. Die außergewöhnlichen Gaben des Heiligen Geistes, die Glossolalie, die Prophetie und die Heilung, werden praktiziert. Das freie, spontane und gestenreiche Beten prägt viele Gebetszeiten.
Der pfingstkirchlichen Erweckungsbewegung ist eine inhärente Offenheit für die Ökumene mitgegeben. CCN greift diesen Impuls auf und kultiviert ihn. Daraus resultiert eine grundsätzlich positive Wertung der Ökumene. An erster Stelle geht es um eine Verlebendigung des Glaubens in den verschiedenen christlichen Konfessionen mithilfe einer charismatischen, ökumenischen Spiritualität. Eine sichtbare Einheit der Kirchen ist ein „eschatologisches Fernziel“.295 Die Ökumene-Bemühungen nehmen bei CCN eine alltagspraktische Gestalt an. Das kommuintäre Leben, pastorale und soziale Projekte werden von CCN-Mitgliedern verschiedener Konfessionen zusammen getragen.296 Dogmatische Auseinandersetzungen über Lehrfragen oder die institutionelle Einheit der Kirche treten zurück.297
Inwieweit sich CCN auf eine authentische ignatianische Tradition berufen kann, ist zweifelhaft. CCN hat die spirituellen Konzepte und pastoralen Instrumentarien des heiligen Ignatius von Loyola in transformierter Weise übernommen. In bestimmten Vollzügen ist durchaus eine geistige Verwandtschaft zu erkennen. In vielen Fällen jedoch hat CCN einige ausgewählte Ideen adaptiert und historischen ignatianischen Frömmigkeitsformen mit charismatischen Ideen neues Leben eingehaucht, wie es Timothy Watson formuliert.298 Bei manchen geistlichen Vollzügen fällt es allerdings schwer, überhaupt einen Vergleichspunkt zur reklamierten ignatianischen Tradition zu finden. Die ignatianische Tradition wurde erst 1992 in den Konstitutionen verankert. Das weist darauf hin, dass diese Spiritualitätsrichtung nicht zu den von vornherein selbstverständlichen Grundbausteinen gehörte.
Bei genauer Beobachtung lassen sich an den Rändern kleine Entwicklungen aufzeigen, die Einblicke hinter die Kulissen erlauben. So gibt es Versuche die theresianische Spiritualität bei CCN zu beheimaten. Die Veröffentlichungen lassen allerdings nur ein marginales Interesse der Gesamtkommunität an dieser Spiritualitätsrichtung erkennen. Andere Einflüsse könnten hingegen in Zukunft prägender werden. In den klösterlichen Niederlassungen, die zwar zahlenmäßig gering sind, aber doch durch eine hohe Konzentration von Personal und Organisation Gravitationszentren für die Kommunität darstellen, sind deutliche Spuren monastischer Einflüsse sichtbar.
131 In der Theologie wird der Begriff Spiritualität als das religiöse Leben eines Menschen definiert. Die Spiritualität umfasst Askese, Mystik, Gebet und Gebetsgebärden, Meditation, Kult und andere Ausdrucksformen der Gläubigkeit. Der Begriff wird oft synonym gebraucht mit Frömmigkeit oder Geistlichkeit und geht auf das lateinische Substantiv spiritualitas zurück (vgl. SUDBRACK, Spiritualität, 852-853; WALDENFELS, Spiritualität, 853).
132 Vgl. FABRE, Interview, 179.
133 Vgl. GEMEINSCHAFT CHEMIN NEUF (Hg.), Konstitutionen, 17.
134 Vgl. FABRE, Grace.
135 WATSON, Life, 28.
136 Andere Theologen datieren den Ursprung der Pfingstbewegung um das Jahr 1900 in einer Bibelschule in Topeka im US-amerikanischen Bundesstaat Kansas und verbinden ihn mit der Person des Methodistenpfarrers Charles F. Parham (vgl. MOHR, Montanismus, 49).
137 Vgl. ZIMMERLING, Bewegungen, 15; LEHMANN, Erneuerung, 363; HOCKEN, Herr, 25. Die Wurzeln dieser Bewegung reichen noch weiter zurück bis zum Pietismus und zu diversen Erweckungsbewegungen im Protestantismus des 19. Jh. (vgl. MOHR, Montanismus, 49).
138 Vgl. ZIMMERLING, Bewegungen, 18; MOHR, Montanismus, 51.
139 Vgl. MÜHLEN, Dokumente, 113.
140 Vgl. ebd.
141 Vgl. LEHMANN, Erneuerung, 362.
142 PAPST PAUL VI., Chance, 6.
143 Vgl. FABRE, Grace, 118.
144 Vgl. ZIMMERLING, Bewegungen, 131.
145 Vgl. ebd., 238.
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