2.2.2.2 Transformiertes Ideengut
Ein wichtiges Instrument in der Seelsorge waren und sind für die Jesuiten die Geistlichen Übungen.200 Die Exerzitien enthalten die religiösen Erfahrungen des Heiligen Ignatius von Loyola, wie er sie bei seiner eigenen Bekehrung gewonnen hat.201 Im vollen Umfang dauern die Geistlichen Übungen 30 Tage, jedoch hatte bereits Ignatius die 7-tägigen Exerzitien als eine weitere Möglichkeit vorgesehen. Das Ziel für die Exerzitanten besteht darin, in Objektivität und Freiheit des Geistes und unter göttlicher Inspiration eine Entscheidung für ihr Leben zu treffen.202 Als Instrumentarium zum Erreichen dieses Zieles dienen biblische Betrachtungen, die Methode zur Unterscheidung der Geister, die tägliche Gewissenserforschung, die Generalbeichte und ein geistliches Begleitungsverhältnis. Bei den 30-tägigen Exerzitien ist die erste Woche einer Standortbestimmung des eigenen Lebens gewidmet. Der Exerzitant soll sich darüber Klarheit verschaffen, ob eine Veränderung im äußeren Lebensrahmen oder bei den Zukunftsperspektiven nötig oder wünschenswert ist. Die Struktur der zweiten bis vierten Woche folgt der Geschichte Jesu, wie sie das Neue Testament vorgibt. In der zweiten Woche betrachtet man das Leben Jesu, seine Lehrtätigkeit und seine Wunder. Die dritte Woche beginnt mit dem Abendmahl und schließt mit der Grablegung ab. Die vierte Woche beinhaltet die Auferstehung und alle darauf folgenden Ereignisse. Diese Betrachtungen werden nicht als ein rationaler Prozess dargeboten, sondern sollen den Exerzitanten affektiv ansprechen.203
Auch für CCN spielen die Exerzitien eine herausgehobene Rolle. Die Konstitutionen fordern jedes CCN-Mitglied auf, einmal im Jahr die siebentägigen Exerzitien zu besuchen. Vor einer verbindlichen Aufnahme in die Kommunität absolviert der Aufnahmekandidat die 30-tägigen Exerzitien.204 Nicht nur die CCN-Vollmitglieder durchlaufen die Exerzitien, auch den Teilnehmern an Weiterbildungsprogrammen205 oder den Studenten in den von CCN geführten Wohnheimen wird die Teilnahme an den Exerzitien nahegelegt.206 Neben der geistlichen Formung der CCN-Mitglieder und Sympathisanten stellen die Exerzitien einen Teil des verbandlichen Apostolats dar. In der Broschüre „Formation Chretienne“, in der CCN unter interessierten Gläubigen für Kurse und Veranstaltungen wirbt, werden über das Jahr verteilt in verschiedenen französischen Städten elf Angebote für die siebentägigen Exerzitien unterbreitet und ein Kurs der 30-tägigen Exerzitien angeboten.207 In Deutschland werden die ignatianischen Exerzitien in der CCN-Niederlassung in Berlin-Lankwitz gehalten und richten sich an die Verbandsmitglieder sowie an außenstehende Interessenten.208
In einer Sonderausgabe des FOI, die der ignatianischen Spiritualität gewidmet ist,209 werden unter anderem die CCN-Exerzitien vorgestellt, was einen Einblick in die Ausgestaltung der Geistlichen Übungen durch CCN und einen Vergleich mit dem ignatianischen Original erlaubt. Christophe Blin, ein Priester der Gemeinschaft CCN, Mitglied des französischen Nationalteams und Exerzitienmeister,210 beschreibt, welche Ziele und Methoden er mit den Exerzitien verbindet und wo er Parallelen mit dem ignatianischen Vorbild sieht. Er meint, die Unmittelbarkeit der Gotteserfahrung sei ein Gedanke, in dem ignatianisches und charismatisches Gedankengut konvergieren. Bei den Exerzitien erlebe der Einzelne die Präsenz Gottes durch den Heiligen Geist in einer existentiellen und unmittelbaren Ergriffenheit. Das Ziel der ignatianischen Exerzitien besteht darin, die Teilnehmer zu einer Lebensentscheidung zu führen. Der Exerzitant soll eine Wahl treffen und im Idealfall sein Leben in Gottes Hände legen. Christophe Blin deutet dieses als eine Parallele zur Taufe im Heiligen Geist. Auch diese stelle eine Art Lebensübergabe dar. Der Empfang der Taufe im Heiligen Geist wird den Teilnehmern nahegelegt.211 Der CCN-Exerzitienmeister Christophe Blin versteht die theologischen Ansätze der mehrere jahrhundertealten ignatianischen Exerzitien nicht nur als mit den Ideen der neuzeitlichen pfingstkirchlichen Frömmigkeit vereinbar, sondern entdeckt darin auch konfessionsübergreifende bzw. -verbindende Elemente. Die zentrale Rolle des Wortes Gottes, die Freiheit des Gewissens und die Unmittelbarkeit der Gotteserfahrung machten die Exerzitien für Christen protestantischer Konfession interessant.212 Die Exerzitien werden bei CCN im Dienst der Ökumene gesehen. Vétö Étinne, der als CCN-Mitglied sowie Philosoph und Theologe vorgestellt wird, verknüpft die ignatianischen Exerzitien mit einer noch anderen Denkrichtung der neuzeitlichen Geistesgeschichte. Er verbindet die geistlichen Übungen mit psychologisch-therapeutischen Ansätzen. Mit Begriffen wie innere Heilung, Aufarbeiten von Schuld, Befreiung und Heilung innerer Verletzungen werden die ignatianischen Exerzitien mit Vorstellungen aus dem Bereich der ganzheitlichen Medizin und heilenden Seelsorge verflochten.213
Das Instrument der Exerzitien hat durch die Jahrhunderte verschiedene Ausgestaltungen erfahren und ist weiterentwickelt worden.214 Eine Weiterentwicklung im Denkrahmen der neuzeitlichen Theologie und Frömmigkeit ist pastoral durchaus legitim. Ob das Etikett „ignatianisch“ auf die Ausgestaltungsvariante der CCN-Exerzitien noch passt, ist allerdings fragwürdig. Die Schilderungen der beiden CCN-Exerzitienmeister lassen erkennen, dass CCN zwar das ignatianische Seelsorgemittel der Exerzitien übernommen hat, die Geistlichen Übungen aber mit neuem Gedankengut füllt. Charismatische Konzepte, ökumenische Impulse und Anregungen aus dem Bereich der therapeutisch-ganzheitlichen Seelsorge werden bei CCN in die Exerzitien eingebracht. Das geht weit über die ursprünglichen ignatianischen Inhalte hinaus. Es ist zu fragen, ob man hier von einer authentischen ignatianischen Tradition sprechen kann. Treffender erscheint es, von einem transformierten ignatiani-schen Ideengut zu sprechen.
2.2.2.3 Ein Beispiel kompletter Divergenz
Das tägliche Lesen der Heiligen Schrift wird bei der Selbstzuschreibung des ignatianischen Erbes in der Vorstellungsbroschüre an erster Stelle genannt. Die CCN-Konstitutionen verbinden die Schriftlektüre mit dem täglichen persönlichen Gebet.
In den Konstitutionen heißt es dazu:
„Wir engagieren uns entschlossen jeden Tag persönlich zu beten; das bedeutet wirklich eine tägliche und regelmäßige ‚Atempause‘ (Zeit des Innehaltens). Ohne diese tägliche Beziehung mit Gott wird unser Gemeinschaftsleben schnell seine ganze Bedeutung verlieren. So ist die Gemeinschaft auch ein ‚Gebetsbund‘, wo jeder zu einem persönlichen Gebet gerufen ist, wobei die Dauer und die Modalitäten mit der Fraternität und dem Begleiter näher zu bestimmen sind. Dieses persönliche Gebet wird durch die tägliche Lektüre der Heiligen Schrift genährt werden.“215
Die Meditation der Heiligen Schrift ist nach den Konstitutionen die Grundlage für vielfältige und individuelle Gebetsformen, deren Dauer und Modalitäten innerhalb der Fraternität und mit dem geistlichen Begleiter abgestimmt werden. Es handelt sich um eine persönliche Frömmigkeitsübung, die den geistlichen Bedürfnissen des Einzelnen angepasst werden kann und die auf der Betrachtung biblischer Texte basiert.
Die Tradition der Jesuiten setzt in der Formula die geistliche Schriftlesung in Beziehung zur Predigttätigkeit.216 Die geistliche Schriftlesung fand in ihrer traditionellen Weise als Vortrag in der Kirche statt und war an die Gläubigen gerichtet zu deren Belehrung und Unterweisung. Diese Form der Schrifterklärung hatte nicht den Anspruch, akademisches Wissen zu vermitteln. Vielmehr richtete sich der Stoff nach den Fragen und Bedürfnissen der gewöhnlichen Gläubigen. Der Vortrag war in der Regel eine Vers-für-Vers-Interpretation. Nach den Intentionen des Ordensgründers sollte bei der Schrifterklärung weder die humanistische Art der historisch-kritischen Prüfung der Texte noch die scholastische Art der Schriftauslegung angewandt werden. Vielmehr sollte die geistliche Schriftlesung den Text im wörtlichen Sinn darstellen.217 Aus dieser öffentlichen Unterweisung in der Kirche wurde bei CCN eine private Andachtsübung, aus der Unterweisung der Gläubigen mit Hilfe einer bestimmten Auslegungsmethode eine persönliche Art der Schriftmeditation. Die Differenz zwischen der ursprünglichen Art der Schriftauslegung und dem privaten Gebetsleben bei CCN ist so groß, dass nicht ersichtlich ist, was die CCN-Praxis mit der reklamierten ignatianischen Tradition gemeinsam hat.218
Kann Ignatius’ Umgang mit der Heiligen Schrift auf andere Weise eine Vorbildfunktion gehabt haben? Der Ignatius-Kenner Gottfried Maron macht darauf aufmerksam, dass Ignatius von Loyola im Umgang mit der Bibel ziemlich in mittelalterlichen Denkweisen verhaftet war.219 Ein philologisches Interesse an den biblischen Quellen, wie es beim Humanismus seiner Zeit festzustellen war, fehlte Ignatius. Er spricht sich zwar für ein Erlernen der alten