Grundfragen des Staatskirchen- und Religionsrechts. Группа авторов. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

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Издательство: Bookwire
Серия: Mainzer Beiträge zum Kirchen- und Religionsrecht
Жанр произведения: Философия
Год издания: 0
isbn: 9783429062422
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das Staatskirchenrecht, vor neue Herausforderungen. Diese ergeben sich vor allem aus den politischen Entwicklungen seit 1989, die bis heute zu einer Aufhebung gebietsbezogener religiöser Identitäten geführt haben, die in der europäischen Geschichte ohne Vorbild und Beispiel sind. Daneben erweist sich der fortschreitende Rückgang an Kirchlichkeit und religiöser Bindung in der säkularen Gesellschaft als ein weiterer Aspekt, der eine erneuerte Begründung dieses Rechtsgebiets erforderlich erscheinen lässt. In der deutschen Gesellschaft arbeiten Staat und Kirchen seit über 60 Jahren gedeihlich zusammen und bemühen sich auf ihre je eigene Weise das Gemeinwohl zu fördern. Manche Gruppierungen meinen jedoch, in dem gegenwärtigen Verhältnis von Staat und Kirchen in Deutschland, eine von der Zeitgeschichte überholte und damit ungerechtfertigte Privilegierung der christlichen Kirchen zu erkennen, die angesichts der Multikonfessionalität und Säkularität in dieser Gesellschaft nicht mehr gerechtfertigt sei.

      Bevor wir uns dem Begriff Staatskirchenrecht annähern erscheint es angemessen sich zu vergewissern, was wir eigentlich bisher schon unter der Bezeichnung Kirchenrecht verstanden haben.

      Kirchenrecht ist allgemein gesprochen all jenes Recht, dass von der (den) Kirche(n) für ihren eigenen Zuständigkeitsbereich selbst gesetzt worden ist. Dieses Recht mag in Einzelfällen das staatliche Recht berühren. In den meisten Fällen existieren jedoch beide Rechtssphären unabhängig voneinander.

      Es handelt sich also um rein kirchliche Angelegenheiten, welche die Glaubenslehren, die gottesdienstlichen Riten, die kirchliche Mitgliedschaft, die Ämter und Institutionen, das Vermögen und die daraus wachsenden Rechte und Pflichten betreffen. Für diese Bereiche hat die Kirche die ausschließliche Zuständigkeit. In manchen Angelegenheiten besitzt die Kirche zwar von ihrem Selbstverständnis her eine ausschließliche Zuständigkeit, hat diese aber zugunsten des Staates oder aufgrund der obwaltenden Umstände eingeschränkt bzw. fügt sich in die vorgegebenen Einschränkungen. Solche ergeben sich aufgrund staatsrechtlicher Bestimmungen für die kirchliche Organisationsstruktur (als Körperschaft des öffentlichen Rechts oder als gemeinnütziger Verein), Ämterverleihung, Ausbildung der Amtsträger und, besonders heute öffentlich wahrgenommen, die Vermögensverwaltung. Daneben gibt es Angelegenheiten, die zwar nicht in die ausschließliche Ordnungszuständigkeit der Religionsgemeinschaften fallen, aber aus der Natur der Sache am besten von diesen selbst geordnet werden können, wie z.B. der Datenschutz, arbeitsrechtliche Regelungen (Mitbestimmung, Loyalitätspflichten in kirchlichen Arbeitsverhältnisses etc.) soweit hier eigene Zuständigkeiten begründet sind, Denkmalschutz und Stiftungsrecht. Bei der letzten Gruppe zeigt sich aber schon, dass die Nähe zum staatlichen Recht immer enger wird. Es gibt also immer ein Recht, das die Beziehungen von Staat und Kirche betrifft. Daher stehen die besonderen Rechte, die der Staat den Religionsgemeinschaften einräumt, stets unter einem allgemeinen Gesetzesvorbehalt.

      Die hier vorgelegte Einführung möchte die gegenwärtigen Rechtsverhältnisse darstellen und anhand ausgewählter, zentraler Rechtsfragen einen Überblick über das komplexe System der Zusammenarbeit von Staat und Religionsgemeinschaften in Deutschland geben. Dabei reicht es heute nicht mehr nur auf das nationale Recht zu blicken. Internationale, besonders europarechtliche Bezüge sind unbedingt mit zu berücksichtigen.

      Weniger in der Forschung als mehr in der Lehre wird das Staatskirchenrecht als ein abgelegenes Rechtsgebiet aufgefasst. Hat dieses Rechtsgebiet nicht nur eine Vergangenheit, sondern auch eine Gegenwart und eine Zukunft? Anders als es bisweilen öffentlich wahrzunehmen ist, muss man erkennen, dass vor allem die beiden großen Kirchen in Deutschland insbesondere mit ihrem beachtlichen Engagement im sozialen Bereich und der Bildung die stärksten Partner des Staates bei der Verwirklichung seines Gemeinwohlauftrags sind. Damit das ohne größere Reibungsverluste funktionieren kann, bedarf es rechtlicher Regelungen und Übereinkommen. Auch wenn das Staatskirchenrecht nicht im Fokus des öffentlichen Interesses steht, kann man dieses Rechtsgebiet dennoch als eines beschreiben, dass sich seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland stets dynamisch fortentwickelt hat. Es bleibt nur für jene abgelegen, denen nicht auffällt, wie sehr der säkulare Verfassungsstaat Partner bedarf, um seine ureigenen Ziele zu verwirklichen.

      Es klang schon an: fraglich erscheint, ob der Begriff des Staatskirchenrechts noch das abzubilden vermag, worum es in aller Komplexität des Verhältnisses von Staat und Religionsgemeinschaften heute geht. Der Terminus „Staatskirchenrecht“ beschreibt ganz allgemein und zugleich umfassend jenen Teil des staatlichen Rechts, der sich mit Religion und Religionsgemeinschaften befasst. Dabei handelt es sich nicht nur um die Beziehungen der Institutionen Staat und Kirche, sondern auch um die in den Menschenrechten und dem jeweiligen Verfassungsrecht wurzelnden Rechte der Religionsgemeinschaften und der einzelnen Gläubigen. Es geht hier also in umfassender Weise um alles Kirchliche und Religiöse, das für die staatliche Rechtsordnung relevant ist.3 Das Staatskirchenrecht befasst sich ferner mit dem öffentlich-rechtlichen Status der Religionsgemeinschaft. Die Bandbreite der Beziehungsmöglichkeiten liegt hier zwischen dem Status als Staatskirche (Bsp. England, Griechenland) und der Lebenswirklichkeit einer staatlich bekämpften Untergrundkirche (Bsp. China, Nordkorea).

      Fragt man nach dem Verhältnis von Staat und Religion, so muss auch die Frage beantwortet werden, was der Staat eigentlich unter Religion und Religionsgemeinschaft versteht. Mit dem Ende der Einheit von Staat und Volksreligion und der sich seit 1803 staatlicherseits immer konsequenter durchsetzenden Trennung der kirchlichen und der weltlichen Gewalt und Rechtssphären muss diese Beziehung der beiden Institutionen, die für sich Autonomie beanspruchen, geklärt werden. In den Teilen der Welt, wo sich die Frage des Verhältnisses von Kirche und Staat in eine Trennung der Sphären, sei sie nun absolut oder in einer Art versöhnter Verschiedenheit ausgeprägt, wird die Antwort auf das, was Religion aus der Sicht des Staates ausmacht, anders beantwortet werden. Für viele heutige Nationen der vormaligen Kolonien und Missionsgebiete gilt aber auch, dass sie – vom Geist der französischen Aufklärung geprägte – Revolutionen gegen das Joch der Kolonialstaaten durchgemacht haben und insofern vor einem ähnlichen staatskirchenpolitischen Erbe stehen, wie es in Europa der Fall ist. Daher und weil es hier im Schwerpunkt um das deutsche Staatskirchenrecht geht, ist es nicht verfehlt, von dem Religionsverständnis des religionsneutralen Staates auszugehen.

      Die Schwierigkeit besteht nur darin, ein Solches zu bestimmen. Hier scheint vor dem staatlichen Selbstverständnis des nachaufklärerischen Staates ein Dilemma auf. Einerseits kann der Staat, wenn er religiös-weltanschaulich neutral sein will, den Inhalt dieses Begriffs „Religion“ nicht selbst definieren. Andererseits kann er sich, wegen der Gefahr von Missbräuchen, aber auch nicht von einer bestimmten Definition anderer außerstaatlicher Institutionen abhängig machen. Insofern hat sich das Bundesverfassungsgericht für eine Definition entschieden, die in der Literatur als die sog. „Kulturvölkerformel“4 bezeichnet wird. Danach wird eine Religionsgemeinschaft angenommen, wenn folgende Voraussetzungen vorliegen: Es muss sich um einen Glauben handeln, der unter zivilisierten Völkern etabliert ist. Dieser muss allgemeine ethische und moralische Prinzipien entwickelt haben. Diese Grundregel wird heute in einem weiten Auslegungsrahmen aufgefasst, wonach eine bestimmte ganzheitlich angelegte Betrachtungsweise ausreicht um von Religion oder Glaube zu sprechen. Dieser Rechtsgedanke wurde bereits grundlegend in der sog. Lumpensammlerentscheidung des Bundesverfassungsgerichts5 entfaltet:

       „Das Grundrecht aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG steht nicht nur Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften zu, sondern auch Vereinigungen, die sich nicht die allseitige, sondern nur6 die partielle Pflege des religiösen oder weltanschaulichen Lebens ihrer Mitglieder zum Ziel gesetzt haben. Voraussetzung dafür ist aber, daß der Zweck der Vereinigung gerade auf die Erreichung eines solchen Zieles gerichtet ist. (…)

      Bei der Würdigung dessen, was im Einzelfall als Ausübung von Religion und Weltanschauung zu betrachten ist, darf das Selbstverständnis der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften nicht außer Betracht bleiben. Zwar hat der religiös-neutrale Staat grundsätzlich verfassungsrechtliche Begriffe nach neutralen, allgemeingültigen, nicht konfessionell oder weltanschaulich gebundenen7 Gesichtspunkten zu interpretieren8. Wo aber in einer pluralistischen Gesellschaft die Rechtsordnung gerade das religiöse oder weltanschauliche Selbstverständnis