Sie hielt diese sofort in einer kurzen Notiz für General Grey fest:
«28. August 1865. Die Königin hat das Gefühl, dass sie eines Tages versuchen muss, 4 Wochen an einem völlig ruhigen Fleck in der Schweiz zu verbringen, wo sie alle Besucher abweisen und völlige Ruhe haben kann. Während der ersten Woche hier spürte sie den Vorzug der Ruhe, doch seit letztem Dienstag gab es keine einzige Unterbrechung mehr. Seit Montag wurde sie von der Zahl der Besucher und Verwandten völlig überwältigt, sodass sie es bedauert, nicht 3 oder 4 Tage länger hier zu bleiben, um sich vor Antritt der Reise zu erholen. Im Ernst meint sie, dass sie, falls sie im nächsten Jahr noch leben sollte (und, ach!, sie muss weiterleben), versuchen muss, völlige Ruhe zu finden, denn sie spürt, dass sie mit ihren Nerven und Kräften allmählich am Ende ist. Sie hat mit Kanné gesprochen [dem Direktor für Reisen auf dem Kontinent] und auch mit Major Elphinstone [dem Erzieher ihres Sohnes, Prinz Arthur], doch sie wünschte, dass auch der General mit ihnen spricht, denn die Königin möchte, dass man einen ganz friedlichen Fleck in einem schönen Teil der Schweiz findet, den sie ohne eine allzu lange Reise erreichen kann. Sie möchte nicht in der Schweiz herumreisen oder sehr ermüdende Dinge sehen, denn ihre Kraft und ihre Nerven würden das nicht aushalten. Sie würde mit einer kleinen Gesellschaft reisen, keine Pferde mitnehmen, aber vielleicht 2 Ponys, um selbst zu reiten, und sie möchte auf möglichst zurückgezogene Weise wohnen. General Grey wird das begreifen, da er ihre Streifzüge durch die Highlands kennt, doch sie fürchtet, dass dies bei Kanné eher nicht der Fall sein wird. Er wird dann der Meinung sein, dass die Königin in Darmstadt übernachten müsse, und dann noch zweimal, mit einem Ruhetag dazwischen! … Die Königin verspürt ein wirkliches Verlangen, es auszuprobieren.»8
Dieses Verlangen hielt an und wurde immer stärker. Die Königin fand zusehends Gefallen an der Idee und fing an, General Grey mit einer Fülle in rascher Folge verfasster Notizen zu bombardieren. In den ersten beiden Notizen vom darauffolgenden Tag teilte sie ihm mit, sie habe während einer Ausfahrt mit dem Vorreiter Trapp gesprochen und dieser habe ihr gegenüber ein Haus namens «Riss» in Tirol in Österreich erwähnt, das sich eignen könnte.
«Es gibt dort ringsherum die grossartigste Alpenlandschaft und völlige Einsamkeit. Die Königin würde die Schweiz bevorzugen, da der Prinz das Land kannte und sie lieber nichts sehen möchte, was er nicht gesehen hat. Da aber andererseits völlige Ruhe und Einsamkeit der Hauptzweck der Reise sind, liesse sich dieser am besten im ‹Riss› erreichen. Ein Teil des Gefolges würde in der nächstgelegenen Stadt bleiben.»9
Später am selben Tag kam ihr noch ein Gedanke, und sie schrieb an Grey, sie wünsche, dass er
«[…] sich nicht davon abschrecken lassen soll, wenn er hört, wie klein die Unterkunft, wie gross die Entfernung zur Stadt und wie schwierig es sei, im ‹Riss› Lebensmittel zu beschaffen.
Die Königin könnte und würde mit den schlichtesten Speisen und Lebensmitteln vorliebnehmen. Sie würde ihre Mahlzeiten (ausser vielleicht das Frühstück und das Mittagessen) mit ihrem ganz kleinen Gefolge einnehmen. Ausser ihren Kindern würde sie lediglich einen Kammerherrn und 1 Hofdame & einen Arzt- & ganz wenige Diener mitnehmen. Kurzum, sie würde sich mit dem Nötigsten begnügen und nur diejenigen Diener mitnehmen, die wirklich unerlässlich sind. Die Königin hat Berechnungen angestellt & ob wir in einer Nacht und einem Tag von hier dorthin fahren können. … Die Königin meint, wir könnten es leicht schaffen, von Antwerpen ohne Unterbrechung hierherzukommen. Wir sind ja bewusst langsam in Antwerpen und Darmstadt losgefahren & sind sehr spät aufgebrochen. Wenn wir 3 oder 4 Stunden früher aufbrechen & hier 2 Stunden später ankommen & ein bisschen schneller fahren, können wir das leicht schaffen.»10
Nun sollte es also Österreich sein.
Oder vielleicht doch die Schweiz? «Wegen der Länge der Reise», schrieb sie am nächsten Tag an Grey, «wäre es, falls die Königin in die Schweiz ginge, notwendig, dort 4 Wochen zu verbringen, sonst könnte sie die Reise nicht antreten.»11 Zwei Tage später sah es wieder nach Österreich aus, wie sie Grey schrieb, wenngleich es sich diesmal um ein anderes Haus handelte – «[…] ein reizender Ort … als Reiseziel der Königin, der sämtliche Vorzüge & keinen der Nachteile des Riss’ besitzt».12
Und so ging es weiter. Tatsächlich aber sollte Königin Victoria im Jahr 1866 überhaupt nicht ins Ausland reisen, da Preussen und Österreich Krieg miteinander führten, und auch im folgenden Jahr kam die Reise nicht zustande. Doch schon im Sommer 1867 begann die Queen sich wieder intensiv mit dieser Angelegenheit zu beschäftigen und Pläne zu schmieden, 1868 einige Wochen in tiefer Abgeschiedenheit in der Schweiz zu verbringen. Prince Albert war 1837 vor ihrer Hochzeit durch die Schweiz gereist und hatte ihr begeisterte Berichte und Erinnerungen von dort geschickt, die ihr viel bedeuteten.13 Und 1864 war ihr dritter Sohn, Prinz Arthur, auf den Spuren seines Vaters durch die Schweiz gereist. Ein gut vorbereiteter Urlaub in diesem Land würde ihr die ersehnte Erholung und Zurückgezogenheit verschaffen und sie gleichzeitig auf indirekte Weise wieder mit ihrem geliebten Mann vereinen.
Der 14-jährige Prinz Arthur auf seiner Reise durch die Schweiz 1864 mit dem Reiseführer Antoine Hoffmann (rechts, mit Seil).
Doch dieser mächtige Drang, sich von allem zu entfernen, in die Einsamkeit einzutauchen und dieselbe reine Alpenluft zu atmen, die Albert geatmet hatte, stand in direktem Widerspruch zu einer nicht minder fordernden Erwartung. Diese ging von ihren Untertanen in Grossbritannien aus, die mehr von ihr sehen wollten, nicht weniger.
Ihre Hofbeamten hatten schon mehrere Jahre zuvor bemerkt, dass sich da etwas zusammenbraute. So hatte Viscount Torrington, ein Kammerherr der Queen, General Grey bereits 1863 auf diesen Sachverhalt hingewiesen:
«[…] von aussen geht, beinahe von den höchsten Persönlichkeiten im Lande bis hinunter zum kleinsten Gassenjungen in London, ein erheblicher Druck aus, die Königin einmal mehr dazu zu bewegen, nach London zu kommen. Die Öffentlichkeit akzeptiert niemanden als Ersatz, und es bestünde erhebliche Gefahr, wenn sich die Leute nicht mehr darum kümmern oder kein Interesse mehr daran haben sollten, ob die Königin unter ihnen weilt. Die Leute sollen sich nicht an die Abwesenheit Ihrer Majestät gewöhnen. Ohne die äusserlichen und sichtbaren Zeichen wird die unwissende Masse das Königtum für wertlos halten. Es gibt keinen Händler in London, der glaubt, keinen Schaden dadurch zu nehmen, dass die Königin nicht nach London kommt.»14
Queen Victoria hingegen versuchte mit aller Kraft, ihren Untertanen diese äusseren und sichtbaren Zeichen des Königtums vorzuenthalten. Sie war gekränkt, weil nicht gewürdigt wurde, dass sie trotz ihres Witwenstandes Haltung bewahrte und sich gewissenhaft den zwar weniger sichtbaren, aber beschwerlichen Schreibarbeiten und Gesprächen mit Ministern widmete, zu denen sie aufgrund ihrer verfassungsmässigen Stellung verpflichtet war. Sowohl vorsichtig formulierte und konstruktiv gemeinte Kritik an ihrer Weigerung, sich in der Öffentlichkeit zu zeigen, als auch sanfte Überredungsversuche, nach mehreren Jahren der Trauer allmählich wieder öffentlich in Erscheinung zu treten, erregten das scharfe Missfallen der Königin. Besonders allergisch reagierte sie auf derartige Ansichten von der Presse. In einem Memorandum schrieb sie an Grey:
«Sie ist schockiert über die Leute, die sie wie eine gefühllose Maschine behandeln und die es wagen, sie mit dem Prinzen zu vergleichen! Er war ein Mann und hatte ein glückliches Zuhause. Sie ist eine arme schwache Frau, gramgebeugt, angsterfüllt und von Natur aus schrecklich nervös! Doch sie wird diese Zeitungsvulgaritäten nicht beachten … und immer das tun, wozu sie in der Lage ist und was sie für richtig und angemessen hält. Sie wäre dankbar, wenn ihr der General mitteilen würde, wenn solche Artikel in der Zeitung stehen, da sie sie dann nicht lesen wird.»15
Aber sie las sie natürlich trotzdem. Bereits am nächsten Tag schickte sie Grey eine weitere Notiz:
«Obwohl