Queen Victoria in der Schweiz. Peter Arengo-Jones. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Peter Arengo-Jones
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783039199341
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1868 sass Königin Victoria, nur oberflächlich getarnt als Gräfin von Kent, auf einer Schweizer Alpenwiese. Sie genoss dort während des Abstiegs von einer Bergtour ihren Nachmittagstee, nachdem ihre Begleiter Herausforderungen wie das Fehlen eines Teekessels und die schiere Unmöglichkeit, in dieser Gegend Wasser aufzutreiben, souverän überwunden hatten.3

      So waren sie, die britischen Reisenden, so traten sie – mit ihren typischen Gewohnheiten – die friedliche Eroberung der Schweiz an. Überall im Land waren sie unterwegs, einige auf strapaziöse und abenteuerlustige Weise, andere gemächlicher. Nur wenige von ihnen aber werden einen ähnlichen Aufwand wie ihre Queen betrieben haben, um in die Schweiz zu entkommen. Für die Königin war dieser Urlaub der Gipfelpunkt mehrerer Jahre des Planens, des Hoffens und des Ränkespiels.

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      «Er beschützte mich. Er tröstete und ermutigte mich.» Königin Victoria mit Prinz Albert im Buckingham-Palast, 1854.

      Sechs Jahre lang hatte Königin Victoria völlig zurückgezogen gelebt. 1868 war das siebte Jahr ihrer Trauer um Prinz Albert, den Prinzgemahl, dessen Tod 1861 ihrem Leben den leuchtenden Mittelpunkt geraubt hatte. Sie war 49 Jahre alt, nicht sehr gross und mittlerweile etwas rundlich geworden, ausserdem Mutter von neun Kindern und Herrscherin über ein Viertel der Weltbevölkerung. Es hiess, sie habe seit dem Verlust, der sie so tief erschüttert hatte, nicht mehr gelacht. Albert hatte weit mehr als nur die Bürde der Verantwortung mit ihr geteilt. Ohne seinen Ratschlag und Schutz fühlte sie sich verloren und unsicher. Sie war davon überzeugt, ihren Aufgaben als Königin alleine nicht gewachsen zu sein. Zwar versuchte sie, ihr Bestes zu geben, und kam ihren königlichen Pflichten nach, wann immer es die Situation erforderte. Doch sie fürchtete öffentliche Auftritte und empfand sie als qualvoll. Sie wirkte steif und unnahbar, obwohl sie ihrer Natur nach eigentlich das Gegenteil war.

      «[…] ihr einfacher und starker Charakter bestand aus einigen grundsätzlichen Wesensmerkmalen. Von Natur aus besass sie nach Auffassung derjenigen, die die Kühnheit besitzen, verallgemeinernde Aussagen zu diesem Thema zu treffen, beinahe alle Eigenschaften einer typischen Frau: Sie war einfühlsam, gefühlsbetont, nicht intellektuell, parteiisch, detailverliebt, mehr an der konkreten als an der abstrakten Sicht der Dinge interessiert und von einer tiefen natürlichen Ehrfurcht vor dem Sicheren und Anständigen. Neben diesen klassischen Eigenschaften ihres Geschlechts besass die Königin auch diejenigen ihres Zeitalters … obwohl königlich, war sie nicht aristokratisch im britischen Sinne. Das gesunde, biedere deutsche Blut, das durch ihre Adern floss, hatte ihrem Geschmack eine alltägliche, ja bürgerliche Färbung verliehen. Allerdings war sie ungewöhnlich energisch. Ihre Freuden waren schwelgerischer als die einer durchschnittlichen jungen Frau, ihr Interesse am Detail unerschöpflich, ihr Eigensinn heftiger, ihre Unschuld frischer. Sie war, auch dies mochte eine auf Deutschland zurückgehende Veranlagung sein, mit einem ausserordentlich starken Temperament begabt, welches das Gewöhnliche an ihr in einem Ausmass steigerte, dass es zu etwas Aussergewöhnlichem wurde. Zu dieser verblüffenden Leidenschaftlichkeit des Gefühls kam eine verblüffende Leichtigkeit des Blicks hinzu.»4

      David Cecils Charakterskizze steht in deutlichem Kontrast zur verbreiteten, allzu einseitigen Wahrnehmung Königin Victorias als Inbegriff des viktorianischen Geistes: unamused, prüde, sittsam. Seiner 1954 veröffentlichten Skizze gingen andere voraus – darunter die mehr als ein Vierteljahrhundert zuvor entstandene Darstellung Lytton Stracheys –, die ein differenzierteres Bild von Victorias Persönlichkeit zeichneten. Doch das Klischee der strengen, zurückgezogenen, in ernstes Schwarz gekleideten Frau ist so tief verwurzelt, dass es bis heute existiert. Es überlagert unsere Sicht auf die heitere und spontane Seite der Queen, die sich, nachdem sie aus ihrer tiefen Trauer einigermassen in den Alltag zurückfand, durchzusetzen wusste und ihr Selbstvertrauen als Monarchin aus eigener Kraft stärkte.

      Königin Victorias Urlaub in der Schweiz im Jahr 1868 half ihr dabei, doch bis dahin war es noch ein langer Weg. Der Tod Prinz Alberts war für sie so niederschmetternd gewesen, dass sie Jahre benötigte, um sich von diesem Schock zu erholen. Den Rest ihres mehr oder weniger in Trauer verbrachten Lebens verwendete sie darauf, mit diesem Verlust zurechtzukommen. Erst in den 1870er-Jahren begann sie das Schicksal zu akzeptieren und wurde ausgeglichener. In den Jahren davor jedoch wurde der Umstand, dass sie auf ihrer Zurückgezogenheit beharrte, zu einem ernsthaften nationalen Problem, sodass zeitweise sogar die Möglichkeit ihrer Abdankung erwogen wurde.

      Die Familie der Queen und ihr Hofstaat unternahmen alles, um sie zu unterstützen, allen voran ihr damals noch nicht offizieller Privatsekretär General Grey, dem sie 1863 (wie üblich in der dritten Person) schrieb:

      «[…] sie kann nicht leugnen, dass er ihre wichtigste Stütze ist und dass sie sich, wenn er abwesend ist, stets besonders ängstlich fühlt. Im Augenblick macht sie sich keine Sorgen & ist ruhiger; doch ihr ständiger & immer stärker zunehmender Kummer, der zu einem schrecklich nervösen Temperament noch hinzukommt (& das ihr teurer Gatte nur zu gut kannte & der allzu häufig unter ihren Ängsten leiden musste, welche er aber natürlicherweise beschwichtigen konnte, da sie ihm zu jeder Tages- & Nachtzeit alles anvertrauen konnte), hindert sie, irgendetwas gelassen aufzunehmen.»5

      Dass die Queen General Grey ins Vertrauen zog und mit ihm über ihre Reisepläne sprach, überrascht nicht angesichts ihrer fortwährenden Sehnsucht nach einer Vaterfigur und einer männlichen Schulter, an die sie sich anlehnen konnte. So erzählte sie Grey etwa von ihrer Absicht, 1863 drei Wochen in Coburg zu verbringen, dem Familiensitz Prinz Alberts in Deutschland (im damaligen Herzogtum Sachsen-Coburg und Gotha), einem Ort, dem sie sich sehr verbunden fühlte. Sich dorthin zu begeben, sei ihr ein Bedürfnis, schrieb sie an General Grey,

      «[…] da sie es fast als Pflicht empfindet, etwas für ihre erbärmliche Gesundheit & Nerven zu tun, damit ihre Depression & Erschöpfung nicht noch weiter zunehmen.

      Weiss Gott, dass sie, ginge es nur nach ihrem eigenen Willen, nichts für ihre Gesundheit täte, da es ihr einziger Wunsch ist, dass ihr Leben bald enden möge. Aber sie spürt, dass sie, wenn sie denn weitermachen muss, ab und zu einen kompletten Tapetenwechsel vornehmen muss (falls sie dies nicht an der Ausübung ihrer Pflichten hindert & sie hofft, dass es dies nicht tut). Folglich muss sie im Frühjahr für zwei oder drei Wochen nach Balmoral & im Sommer für 3 Wochen nach Coburg (nur nach Coburg) gehen, einmal abgesehen von einem Besuch bei ihrem lieben Onkel in Brüssel, der eine Pflicht & absolut notwendig ist.

      Ihr Geliebter Engel würde nichts dagegen einzuwenden haben, dass sie diesen zusätzlichen Ortswechsel vornimmt, wenn man ihn fragen würde & er sähe, wie schwach & angst- und gramgebeugt sie ist – und dass das immer weiter zunimmt.»6

      Das Umfeld der Königin wusste nur zu gut, was der eigentliche Grund der Probleme war. In diesem Sommer schrieb Grey aus Coburg an Sir Charles Phipps, einen zuverlässigen Hofbeamten und Hüter der königlichen Privatschatulle:

      «Ich hatte in der Zwischenzeit ein langes Gespräch mit Prinzessin Alice [Königin Victorias zweiter Tochter, der späteren Grossherzogin von Hessen-Darmstadt]. Sie sagt, es gehe der Königin sehr gut. Sie habe das 18 Teilnehmer zählende Mittagessen für den österreichischen Kaiser hervorragend bewältigt, viel gesprochen & sei auch noch zum Fenster gelaufen, um ihn wegfahren zu sehen. Prinzessin Alice sagt auch, die Königin habe ihr anvertraut, sie habe Angst, es könnte ihr zu gut gehen, als ob das ein Verbrechen sei & dass sie befürchte, es könne anfangen, ihr Spass zu machen, auf ihrem schottischen Pony zu reiten usw. usf. Sie ist so liebenswürdig & anrührend in ihrer Art, dass es einem schwerfällt, sie zu etwas zu drängen, das sie nicht mag. Doch nach dem nächsten Jahrestag müssen wir alle, ganz behutsam, versuchen, sie dazu zu veranlassen, wieder ihre alten Gewohnheiten aufzunehmen.»7

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      «… dieses Gefühl anhaltender Trostlosigkeit», Königin Victoria an Kronprinzessin Victoria, 3. September 1867.

      Doch das war leichter gesagt als getan und sollte noch eine ganze Weile dauern. Zwar unternahm die Königin vereinzelt Reisen, doch einige Jahre lang wagte sie sich