Schloss Balmoral, die schottische Sommerresidenz der Königin, vom gegenüberliegenden Ufer des Dee aus gesehen.
Und es sollte noch schlimmer kommen. Am nächsten Tag erfuhr man in Balmoral per Fernschreiben von einem ausserordentlichen Vorfall, der sich im Parlament ereignet hatte. Ein Abgeordneter hatte im Unterhaus formell die Frage nach der Abdankung Victorias aufgeworfen, indem er wissen wollte, «ob es stimme, dass Ihre Majestät die Königin aufgrund ihres labilen Gesundheitszustands gezwungen sei, sich für die Dauer dieser Sitzungsperiode aus England zurückzuziehen, und wenn dem so sei, ob die Regierung Ihrer Majestät die Absicht habe, aus Rücksicht auf die Gesundheit, das Wohlergehen und die Ruhe Ihrer Majestät, und im Interesse der Königlichen Familie und der Untertanen Ihrer Majestät im gesamten Reich, und insbesondere in dieser Metropole, Ihrer Majestät die Abdankung nahezulegen».34
In den Worten der Pall Mall Gazette wurde «diese Anfrage von allen Teilen des Hauses mit einem missbilligenden ‹Ordnungsruf› aufgenommen und vom Sprecher des Hauses wegen der respektlosen Formulierung getadelt, woraufhin [der Abgeordnete] sich für seinen Verstoss gegen den guten Geschmack und die Anstandsregeln des Parlaments entschuldigt habe».35
Die Königin fühlte sich über alle Massen provoziert. Sie liess ihrem Brief an Disraeli einen weiteren folgen, der die ultimative Drohung enthielt:
Faksimile des Briefes von Königin Victoria an Benjamin Disraeli vom 22. Mai 1868, in welchem sie abzudanken droht.
«Sie hält es für äusserst wichtig, dass man die Frage nach ihrem Gesundheitszustand ein für alle Mal begreift. Es verhält sich einfach so: Die Gesundheit & die Nerven der Königin benötigen im Frühling einen kurzen Zeitraum, in dem ihr kräftigende Bergluft & vergleichsweise Ruhe zuteilwerden. Andernfalls wird sie vollständig zusammenbrechen & wenn die Öffentlichkeit sie nicht akzeptiert, so wie sie ist, muss sie alles aufgeben – und zwar zugunsten des Prinzen von Wales … – Zweifellos hätten sie [die Abgeordneten] es gerne, wenn sie um ihrer eigenen Bequemlichkeit willen ständig in London wäre, […] aber das kann die Königin nicht. […] Das Aussehen der Königin ist trügerisch & niemand glaubt ihr, wie sehr sie leidet.»36
Die Königin forderte Disraeli auf, die Angelegenheit in Rücksprache mit ihrem Leibarzt Sir William Jenner verbindlich zu klären. Mit einem Seitenhieb auf General Grey fügte sie hinzu, dass dies schon lange zuvor hätte geschehen sollen und dass ihre eigenen Leute «in dieser Hinsicht nie klug oder umsichtig gewesen seien».37
Sicherlich hatte Königin Victoria recht mit ihrer Bemerkung, dass ihre äussere Erscheinung nicht ihrem tatsächlichen Zustand entsprach. General Grey, der seiner Frau von einem heiteren Ball anlässlich des Geburtstags der Königin in der letzten Maiwoche berichtete, bestätigte diese Behauptung auf ziemlich uncharmante Weise: «Prinzessin Louise sah bei diesem Ball wirklich reizend aus, und obwohl das bei Ihrer Majestät nicht der Fall war, hätte niemand, der sie auch nur einen Moment lang sah, angenommen, dass man sich um ihre Gesundheit Sorgen machen müsse.»38
Die Gemütsverfassung der Königin war natürlich eine andere Angelegenheit.
Gegen Ende des turbulenten Monats Mai hatte sich die öffentliche Stimmung gewandelt und die Kritik begann abzuklingen. Anlässlich des Geburtstags der Landesmutter am 24. Mai leistete die Presse, wenn auch verhalten, Abbitte für ihre früheren Vorwürfe und bekundete nun plötzlich ihre Loyalität und ihr Verständnis für die «prekäre» Lage Ihrer Majestät. Auch ein Brief ihrer ältesten Tochter, der Kronprinzessin von Preussen, spendete der Queen Trost. Sie antwortete:
Victoria, Kronprinzessin von Preussen, die älteste Tochter der Königin.
«Dein lieber, liebevoller, warmherziger Brief vom 20. erreichte mich am Morgen meines armseligen, traurigen … Geburtstags – so voller Erinnerungen – so weit weg. Die Gegenwart ist jetzt eine Wirklichkeit geworden & wie ein anderes Leben. Du sprichst so inniglich & liebevoll & ich sehne mich so sehr danach, Dich an mein Herz zu drücken – meine ureigene geliebte Erstgeborene! – aber Du musst Nachsicht haben mit Deiner alten Mama, denn ihr Kopf wird so müde & sie ist so erschöpft & verbraucht, dass ich befürchte, dass Du sie als langweilige, ermüdende Gefährtin empfinden wirst. … Doch ich akzeptiere dankbar, was Gott mir gesandt hat, um mich aufzuheitern … & zu trösten.»39
Während des verbleibenden Monats in Balmoral studierte und beantwortete die Königin die langen Berichte über die Parlamentsdebatten, die Grey für sie vorbereitet hatte, sowie die in Eile verfassten Lagebeurteilungen Disraelis. Und wie üblich kümmerte sie sich auch gewissenhaft um all die umfangreichen Schriftstücke, die auf ihrem Schreibtisch landeten. Unterdessen dürfte sie sich gefragt haben, wie sie die Nachricht verkaufen sollte, dass sie schon kurze Zeit nach ihrer Rückkehr nach England abermals verreisen würde – und diesmal noch dazu über eine längere Distanz, durch fast halb Europa. Während all dieser unruhigen Monate hatte sie sich beharrlich wie an einen Strohhalm an ihr Projekt einer Flucht in die Schweiz geklammert, von dem sie sich einen Tapetenwechsel und vollkommene Ruhe erhoffte. Doch sie hatte dieses Geheimnis nur mit zwei oder drei Personen geteilt, die mit den Vorbereitungen für ihre Reise und Unterbringung befasst waren.
Doch selbst diese wenigen Personen waren offenbar zu viele. Anfang Juni schrieb die Kronprinzessin Victoria ihrer Mutter aus Potsdam, sie habe von ihrem Schwiegervater, dem König von Preussen, gehört, sie käme «im August in die Schweiz. Ist das wahr?»40.
Um den Schaden zu begrenzen, antwortete die Königin umgehend mit einem Brief, und erklärte ihr, warum diese Angelegenheit unbedingt ein Geheimnis bleiben müsse.41 Dennoch muss Königin Victoria den ganzen Monat über Albträume gehabt haben, dass jemand in London die Katze aus dem Sack lassen und diese sich in einen wilden britischen Löwen verwandeln würde, der seine Missbilligung der Tatsache herausbrüllte, dass sie ihr Reich verlassen und sich in fremde Gefilde begeben würde.
Schottland tat ihr gut. Sie fühlte sich durch den Aufenthalt gestärkt und musste sich regelrecht losreissen. Dies schrieb sie der Kronprinzessin an ihrem letzten Abend, um dann noch hinzuzufügen: «Es ist jetzt fast 11 Uhr & nach wie vor sehr hell; dieses sanfte, klare Licht besitzt so viel Anmut.»42
Daheim in Windsor fand die Königin das Leben noch unerträglicher, als sie befürchtet hatte. Sie musste nicht nur öffentlich an der gefürchteten «English Season» teilnehmen, sondern sie geriet auch direkt aus der belebenden Luft ihrer geliebten schottischen Bergschluchten und Wälder in eine mächtige Hitzewelle. Ihr Körper war für kühles Wetter gemacht, nicht für hohe Temperaturen, und dementsprechend litt sie auch. Es gibt kaum einen Tagebucheintrag oder Brief von ihr aus jener Zeit, der nicht irgendeinen Hinweis auf die Hitze und deren Auswirkungen auf sie enthält.
Doch sie machte unermüdlich weiter. Am 20. Juni nahm sie eine eineinhalbstündige Parade von 24 000 Soldaten ab. «Sehr müde, aber höchst erfreut und befriedigt» heisst es dazu in ihrem Tagebuch. Doch am selben Tag schrieb sie der Kronprinzessin:
«Die Hitze heute ist so furchtbar, dass ich kaum die Feder halten kann. […] Seit meiner Rückkehr machen mir heftige Kopfschmerzen und Übelkeit so zu schaffen, dass ich ganz zitterig bin.»43
Zwei Tage später stellte sie sich wieder dem ganzen Trubel und begab sich anlässlich einer riesigen Gartenparty in den Buckingham-Palast.
«Um 5 Uhr war der beängstigende Augenblick da & ich ging in den Garten hinunter. … Unmengen von Leuten auf dem Rasen, die ich im Weitergehen erkennen musste & nach fast 8 Jahren Zurückgezogenheit war das sehr irritierend &