Ich zähle jetzt bis drei. Egon Christian Leitner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Egon Christian Leitner
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783990471173
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auf der Dialysemaschine meiner Mutter. Dann schaute ich wieder zur Frau hin, automatisch. Eine halbe Minute vielleicht, aber gewiss keine Minute war vergangen, seit ich das letzte Mal zu der Frau hingeschaut hatte. Ich redete die Frau an, sie reagierte nicht, ich lief zur Schwester. Die kam gelaufen, schaute die Frau an, schickte mich weiter. Die Schwester war selber gerade vorher noch im Raum gewesen, durch den gegangen, hatte zu den Patientinnen geschaut. Die Frau hatte hier im mittleren Raum mit dem Gesicht zum Fernsehapparat liegen wollen, weil sie in den hineinschauen wollte. Das war, weiß ich jetzt, gefährlich, weil man dadurch nicht sofort in ihr Gesicht schauen konnte. Die Schwestern und Pfleger konnten das nicht, wenn sie durch den Raum schauten. Ich konnte das damals. Schaute ins Gesicht. Keine Minute war vergangen. Drei, vier Schritte und ein paar Augenblicke, mehr nicht. Die Frau hat keine Hilfe bekommen. Doch. Die Hilfe hat sie aber nicht mehr erreicht. Weg war die Frau, die war einfach weg. Die Leute waren nicht da, weg waren die, der Notfallkoffer nicht da und auch kein Arzt da. Ich lief, lief. Die Frau, ich weiß nicht mehr, ob sie die Augen offen oder geschlossen hatte, als sie nicht mehr ansprechbar war. Ich bilde mir ein, sie waren offen. Ja, sie waren offen. Ich sagte etwas zu ihr, fragte, sie reagierte nicht. Die Augen waren offen. Die Frau starb am Tod, das war es einfach. Es ist nicht einmal gewiss, ob man noch Tage hätte gewinnen können. Und doch ging es ihr meines Wissens sehr gut bis damals. Sie war, soviel ich immer mitgehört hatte, in einem guten Allgemeinzustand und hatte meines Wissens zusätzlich zur Grunderkrankung an keiner anderen schweren Erkrankung zu leiden. Ich glaube, ihre Augen waren offen und leer. Die Frau und der Dozent hatten zufällig denselben Namen. Meier bloß. {Des Menschen Herz. Sozialstaatsroman, II 14ff.}

      Das Großkapitel aus dem Band Furchtlose Inventur, zu dem diese Stelle gehört, trägt die Überschrift: Von einer Dialysestation, auf der ein Pfleger gewissenhaft arbeitete, aber eineinhalb Jahrzehnte nach der berichteten Zeit schuldig gesprochen wurde, weil 2005 ein Patient während der Dialyse gestorben war. Die Richterin bedauerte, das Urteil fällen zu müssen, denn statt des Pflegers sollten sich die Ärzte, die Verwaltung und die Politik vor dem Gericht verantworten müssen. Doch so weit reichten die Gesetze nicht, sagte die Richterin.

      Als in der Stadt auf dem [großen P]latz die Demonstrationen stattfanden, damit das [...] Kraftwerk nicht gebaut wird, fand sich, wenn einer gegen die Demonstranten redete, sofort jemand, der sie in Schutz nahm und die Beleidigungen und die Handgreiflichkeiten abwehrte. Die Leute nahmen einander damals wirklich in Schutz. Das beeindruckte mich. Ein Esel stand am [...P]latzbrunnen und Stroh lag herum. Ein älterer Mann mit schneeweißem Haar packt ein junges Mädchen von hinten, drückt die junge Frau in die Richtung des Esels, als sie gegen das Kraftwerk reden will. Ein Esel bist du! Zum Esel gehörst du!, schreit er und stößt sie. Sie sagt: Sie sehen doch die Bilder in der Zeitung, was die Polizisten mit uns machen. In dem Moment packt sie der Mann nochmals. Ein Mann sagt zu dem Mann mit dem schneeweißen Haar, der solle sich schämen, fragt, was der tun würde, wenn seine Tochter von jemandem so behandelt und so beleidigt würde. So angegriffen, sagt er. Das solle der sich einmal überlegen. Eine Frau antwortet an dessen Stelle, es sei schon möglich, dass die Umweltschützer recht haben, aber der Mann mit den schneeweißen Haaren könne viel besser reden. Die jungen Leute da hier können nichts!! Gar nichts!!, sagt sie. Aus einer Pensionistengruppe, alte Gewerkschafter, ruft ein kleiner dicker Mann einer Frau etwas zu, als sie sagt, dass die jungen Leute hier sehr wohl sehr viel zustande bringen. Aufgetakelte Schlampe, schreit der dicke kleine Mann der Frau zu, grinst sie an. Die Frau zuckt zusammen. Halt deinen Schlampenmund, setzt der dicke kleine Mann nach, grinst dreckig. Die Frau kann sich nicht mehr aufrichten. Ein dicker Mann kommt ihr zu Hilfe, sagt etwas ihr zum Schutz und dann etwas gegen das Kraftwerk. Von den Gewerkschaftern schreit ihn einer an: Schäm dich, wie fett du bist. Ich würd’ mich schämen, hier was zu reden, wenn ich so fett wär’ wie du. Wenn’s euch Ausgfressnen wirklich ernst wär’, würdet’s nicht da sein demonstrieren, sondern wäret’s draußen in der Au bei denen und würdet’s mit denen z’sammen die Au vollscheißen. Der Gewerkschafter neben ihm schreit: Die Au wollen’s schützen. Vollscheißen tun sie’s in Wahrheit. Ein anderer Gewerkschafter schreit: Dort kommt nie wer hin. Die wollen, dass dort nicht gebaut wird, obwohl dort nie ein Mensch hinkommt. Jetzt sind die dort und scheißen alles voll. Ein kleiner zierlicher Mann stellt sich dagegen, sagt: Ich bin Bauingenieur und gegen das Kraftwerk. Der Gewerkschafter, der die Idee mit dem Vollscheißen gehabt hat, schreit dagegen, das halbe Gesicht nur Zähne: Ingenieur bist du? Eine Schande bist du! So was ist Ingenieur. Schaut’s euch den an! So was ist Ingenieur! Der Ingenieur knickt ein. Die Gewerkschafter lachen alle. Ein alter Mann sagt, die Demonstranten müssen auf sich aufpassen, hier sei es wie 1934, es sei ihnen damals genauso gegangen. Er bekomme Angst. Ein junger Mann versteht den alten Mann falsch, sagt aufgebracht: Wir schreiben 1984. Lassen Sie uns endlich mit der Nazizeit in Ruhe. Der alte Mann entschuldigt sich, das sei ein Missverständnis, der junge Mann entschuldigt sich nicht. Nazischweine, sagt der junge Mann [...] Ein paar Wochen später dann war ich mit Trixi beim Vortrag des Außenministers. Damals war er bloß Parteivorsitzender und er verspottete, dass der rote Parteivorsitzende, der damals der Kanzler war, Die Partei ist mein Leben. Ohne Partei bin ich nichts gesagt hatte. Der schwarze Parteichef erklärte im Hörsaal, wie es in Zukunft weitergehen werde; ich verstand nicht viel, weil seine Sätze am Satzende nicht mehr zum Satzanfang passten. Das ging unentwegt so. Ihm gefiel das aber, kam mir vor. Vor mir in den zwei Reihen saßen Burschen, drei und zwei. Bei irgendetwas von dem, was der schwarze Parteivorsitzende redete, bildete der eine von den zwei Burschen mit dem Daumen und dem Zeigefinger der rechten Hand eine Pistole, setzte sie einem Burschen vor sich ins Genick, drückte ab und sagte: Bumm, und der vor ihm schüttelte sich und stürzte im Sitzen nach vorne. Sein Kopf lag auf der Schreibbank, seine Arme hingen darüber. Der Mund stand offen. Die vier feschen Burschen lachten und der fünfte mit dem offenen Mund auch. Es war ein lehrreicher Vortrag. Burschenschafter die Burschen. Ich weiß nicht, wen und was sie gemeint haben. Auch kann man nicht immer etwas für seine Zuhörer. {Des Menschen Herz. Sozialstaatsroman, I 234ff.}

      Die zitierte Stelle gibt Ereignisse aus den Jahren 1984/85 wieder und stammt aus dem Band Lebend kriegt ihr mich nie. Daraus auch wie folgt:

      Einmal, ich war sieben Jahre alt [– 1968 war das –], wollte ich nicht mit meinem Vater in die Kurstadt des Kaisers mitmüssen, ich war nur mehr Angst, reine Angst, so lange würde ich dort allein sein müssen mit ihm, niemand mit. Und da habe ich ihm, damit er nicht fahren kann und damit wir daheim bleiben, das Abführmittel, das ich fand, die ganze Packung in sein Mineralwasser gegeben. Sind trotzdem gefahren, blieben nur dauernd stehen [...] In der Kurstadt des Kaisers und der Künstler war ich mit dem Vater [dann] allein [...] und krank. Der Vater verbot mir zu husten. Ich brach gegen meinen Willen vor der Komponistenvilla zusammen. Ich hatte nicht mit hinfahren wollen ins Touristenparadies. Ich durfte im Offiziersheim niemanden stören mit meinem Husten [...] Wenn ich hustete, tat er das Übliche mit mir. Es war nicht lustig. Er riss an mir, warf mich, ich musste beim Husten meinen Mund auf die Matratze pressen und, wenn ich auf dem Rücken lag, das Kissen fest an meinen Mund. Als Kind hatte ich oft viel Husten. Gegen das Husten musste ich eine geschickte Art des Atmens finden und besonnen sein. Das war nicht ohne Strapazen möglich, dann schaffte ich es doch nicht, musste loshusten, weil ich innerlich etwas überschritten hatte und auch zu viel von draußen da war. Das ist so, wenn man nicht husten darf. Da darf man auch nicht alles atmen. Man muss innen alles absuchen, da ist aber nichts. Wenn mein Vater anwesend war, durfte ich nie husten. Ganz einfach war das geregelt. Die Selbstbeherrschung war so [...] Blödes Herumgerenne, Monarchievillen. Die blöden Führungen drinnen. Ein bisschen auf einem Hügel oben brach ich dann zusammen, purzelte und [...] blieb unten ohnmächtig liegen. Die Wirtin im Offiziersheim, [die Pensionsleiterin] oder wie sie hieß, sagte neben mir zum Vater, als ich wieder bei Besinnung war und wir gerade wieder zurückgekommen waren und ich gerade Ruhe vor dem Vater hatte, weil er über meinen Zusammenbruch und das Aufsehen erschrocken war: Der Bub ist so laut im Zimmer. Das darf nicht sein. Er macht zu viel Lärm. Sie schaute mich an und sagte zu meinem Vater, dass ich solchen Lärm mache im Zimmer. Ich hatte eindringliche Schmerzen und Husten hatte ich zum Ersticken, hustete in ihrer Küche die ganze Zeit über aber keinen einzigen Laut. Der Bub muss endlich still sein, sagte die Wirtin im Offiziersheim trotzdem zu meinem Vater. Die Frau hatte weißes Haar, war schlank und sehr gerade, trug Beinkleider. Sie bewegte sich sehr