Aus den Tagebüchern 2004–2011:
Tag, Monat, Jahr
Bin zufällig in einer Gruppe Anonymer Alkoholiker. Bin zutiefst beeindruckt. Von den Leuten da. Diese Unaufdringlichkeit, Bescheidenheit, Hilfsbereitschaft, Verlässlichkeit! Die AAs erzählen einander ihre Leben und wer wofür gut war. Sie sind nicht zerstört worden. Von den Zufällen, den Augenblicken erzählen sie. Vom Glück statt vom Schicksal. Menschen, die schon alles verloren oder zerstört haben, plötzlich einen lieben Menschen nicht verlieren wollen, die Frau, das Kind. Oder die plötzlich nicht dermaßen entstellt aufgefunden werden wollen. Oder irgendjemand fällt ihnen plötzlich noch ein, ein Gesicht. Ein geliebter Mensch. Zwischendurch ist das Ganze religiös. Aber das ist gut so, nur so ist Religion gut. Die AAs helfen einander, sind da, wenn sie gebraucht werden. Da ist jemand, ganz sicher, immer, egal, was geschieht. Man ist nicht allein, nützt niemanden aus, bringt einander nicht um. Die anderen und der lebendige Gott und die Gewissenserforschung geben den Halt und alle Sicherheit. Die ersetzt, ersetzen die Sucht. Die[se] AAs [da] finden diese Art Gott wirklich plötzlich, die Erlösung, das Leben. Was mich besonders beeindruckt, ist das, was die AAs furchtlose Inventur nennen. Da erforschen sie, was sie selber anderen angetan haben. Antun, in der Sucht, durch die Sucht. Überlegen sich, wie sie das abstellen und wiedergutmachen können. Tun das dann auch. Aber unaufdringlich. Quälen niemanden mit ihrer Suchtvergangenheit, ihren Schäbigkeiten, wenn es den anderen, den früheren Opfern der Suchtkranken, von neuem Schmerzen bereiten würde; wollen niemandem neue Probleme machen. Sagen die volle Wahrheit denen, die sie hören wollen und denen sie vielleicht hilft. Jedenfalls haben mich die Anonymen Alkoholiker im tiefsten Herzen getroffen. Eine junge Frau, die nicht zugrunde gegangen ist, wird jetzt Jugendarbeiterin, ist überglücklich darüber. Glaubt, sie werde wirklich helfen können. Ich glaube ihr das auch. Sie wird von der Stadt angestellt. [...] Eine Frau, die ihr Kind durch Suizid verloren hat, arbeitssüchtig gewesen war, hat die Anonymen Alkoholiker in die Veranstaltung eingeladen, bei der ich zugehört habe. Wirklich gelungen, weil durchdacht, weil durchlebt, war das Ganze. Das Beste, was ich je wahrgenommen habe. [...] Die AAs sind eine wirkliche Hilfe. [...] Der Anstand, der Charakter der AAs, der hilft. Jedem Menschen, glaube ich. Zu wissen, dass es das doch gibt! Dass es möglich ist! [...A]lles ein Können! Alles Sicherheit. Hilfe. Man muss nicht sterben. Will leben, kann es. {Des Menschen Herz. Sozialstaatsroman, III 453f.}
Tag, Monat, Jahr
Wenn Kinder erzählen, fangen sie damit eben an und hören auf, wo es ihnen passt. Reden dann etwas ganz anderes. Und dann irgendwann einmal fangen sie wieder beim Schlimmen, Betrüblichen an, hören aber wieder auf und reden vom Guten, jauchzend, himmelhoch, und dann sind sie wieder betrübt oder vorsichtig und schweigen. Je nachdem, wie der Mensch ist, dem sie erzählen, erzählen sie selber. Zum Beispiel, wie schlimm die Sache ist. Sie schauen zwischendurch immer, ob sie dem, dem sie berichten, vertrauen können oder ob sie ihn in Schwierigkeiten bringen oder Schmerzen oder Schaden zufügen. Da hören sie dann sofort auf [...] {Des Menschen Herz. Sozialstaatsroman, III 366}
Tag, Monat, Jahr
Das Schönste, was ich je gehört habe in einer sozialen Bewegung, war: Wir haben gelernt, aufeinander aufzupassen. Wir sind eine soziale Bewegung. Die haben das so gemacht, gekonnt, das weiß ich. Die hatten auch nie Angst, sich lächerlich zu machen oder alleine dazustehen. Aber hier in der Stadt [...] war das nicht so. Meiner Meinung nach. Die NGOs und die Bewegungen waren nicht wirklich so.[Die GFs.] {Des Menschen Herz. Sozialstaatsroman, III 31}
Tag, Monat, Jahr
Man soll fauchen wie ein Löwe. Brummen wie ein Bär. Meckern wie eine Ziege. Oder man soll sich freundlich zuwinken. Lachyoga. Lachen und dabei in die Hände klatschen macht munter; die Lachlaute sind je verschieden gut: Hihi weckt einen auf, das Hirn. Haha labt das Herz, Hehe den Hals und die Gefühle und macht immun. Hoho ist gut gegen den Groll, gegen die Wut. HihihiHeheheHahahaHohoho soll man der Reihe nach lachen, weil das heilsam ist. Und mit den Armen schwingen wie ein Vogel und dabei eben lachen soll man. Oder sich auf den Rücken werfen wie ein lachender Käfer. Letzteres verstehe ich nicht. Ich habe immer geglaubt, ein auf dem Rücken liegender strampelnder Käfer kämpft um sein Leben. Wie kann dem zum Lachen sein. Lachen kann jedenfalls jeder. In jeder Lebenslage. Und man muss immer tun, was man kann. [Huhuhu ist fürs Gedärm in jeder Hinsicht...] {Des Menschen Herz. Sozialstaatsroman, III 23}
Tag, Monat, Jahr
Seit den 1970er Jahren experimentiert der Computer-, IT- und KI-freundliche Katastrophenpsychologe Dietrich Dörner intensiv und konsequent, um Menschen wie Dich und mich, aber vor allem um die jeweiligen politischen, technischen, ökonomischen Entscheidungseliten durch Computersimulationen zu schulen und vorstellungsfähiger und dadurch wirklichkeitstauglicher zu machen. Auf dass politische, technische, ökonomische Unfälle, Debakel und Desaster verhindert werden: Das Dörnerexperiment 2 betrifft ein fiktives Entwicklungsland namens Tanaland, das Dörnerexperiment 1 die fiktive kleine deutsche Stadt Lohhausen, das Dörnerexperiment 3 ist das reale Tschernobyl. Den Versuchspersonen wird jedwedes Know-how und Machtinstrumentarium, sogar das der Diktatur, zur Verfügung gestellt. Aber fast alle Versuchspersonen sind den Situationen, Strukturen, Zwängen, Zusammenhängen, Geschwindigkeiten und Abläufen nicht gewachsen und zerstören unerbittlich das, was sie aufbauen oder retten sollen. In den 30, 40, bald 50 Jahren der Dörnerexperimente hat sich daran nicht viel geändert. Und Dörners Experimente sind vielleicht sogar gruseliger als die Milgrams, denn die jeweilige Versuchsperson handelt frei und ungezwungen, keine beigestellte Autorität zwingt sie weiterzumachen, egal, wie es den überantworteten Menschen dabei ergeht. Die für die Entwicklungslandbewohner lebensbedrohlichen und quälenden Interventionsfolgen wurden vom fiktiven Entwicklungshelfer, vom Computertäter, als notwendige Durchgangsphase deklariert. Die Versuchspersonen agierten ziemlich brutal, egal, ob sie männlichen oder weiblichen Geschlechts waren: Die Hungernden beispielsweise müssen eben, hieß es seitens der Versuchspersonen, für ihre Enkel leiden. Es sterben, meinte man auch, ja wohl hauptsächlich die Alten und Schwachen, was gut sei für die Bevölkerungsstruktur. Je gefährlicher die Situation beispielsweise für die Entwicklungslandmenschen wurde und je mehr warnende Informationen, negative Rückmeldungen die es gut meinenden, immer nervöser werdenden Computertäter bekamen, umso gleichgültiger und rücksichtsloser agierten sie und fanden gute Gründe für ihr eklatant falsches, großen Schaden stiftendes Vorgehen. {Paraphrasiert, vgl. Des Menschen Herz. Sozialstaatsroman, III 412ff.}
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[...] Triage. Eigentlich heißt das bloß Ausschuss, z. B. beim Kaffee. Aber es sind Menschenleben. Triage: Man hilft in Katastrophensituationen, bei akutem Ressourcenmangel der Helfer denen, die noch am ehesten eine Chance haben. Triage: Zuerst die, die nicht mehr schreien, dann die, die schreien, dann der Rest. Diese Regel gibt es auch. Aber die ist sehr schnell für Arsch und Friedrich. Der Sozialstaat ist dafür da, dass es in Notsituationen nicht dazu kommt, dass den einen geholfen wird und den anderen nicht. Der Sozialstaat ist also das Gegenteil von Triage und Selektion. Die Regel Leben gegen Leben muss nicht angewendet werden. {Des Menschen Herz. Sozialstaatsroman, III 523}
Tag, Monat, Jahr
Wäre ich Kulturstadtrat, würde ich sofort jeglichen Alkoholkonsum bei Kulturveranstaltungen unterbinden. Und zwar bloß, weil ich wissen möchte, was dann geschieht. Also, was von der Kunst und vom geistigen Leben übrig bleibt. {Des Menschen Herz. Sozialstaatsroman, III 428}
Schlussworte wie folgt: Dem Sozialstaatsschuber, meinem, wurde im jahrelang behinderten Entstehen und natürlich erst recht nach Erscheinen wiederholt vorgeworfen, er sei voller Wiederholungen; end- und ausweglosem Leid; Leuten, die man sich weder merken kann noch merken mag, allein ihrer Anzahl wegen, und schon gar nicht aufgrund ihrer Charaktereigenschaften. Und ein Schlüsselroman sei das Ganze auch noch dazu. Für so etwas wie meinen Sozialstaatsroman brauche man sohin einen Waffenschein. Der Sozialstaatsroman, meiner wie gesagt, sei irgendwie gemein, denunziatorisch, hinterhältig, verleumderisch, sogar irgendwie erpresserisch. Was darin wahr sei, sei überdies überhaupt ungewiss,