Der Mann, dessen Frau plötzlich und dann über Jahre lebensgefährlich krank war und sich aber gut erholt hat und dann plötzlich an etwas ganz anderem gestorben ist. Er ist am Boden zerstört seit ihrem Tod. Schreibt ihr jeden Tag einen Brief. Fährt in einem fort irgendwohin, wandert umher dort; immer, wo sie miteinander gegangen sind. Ihre Orte. Die Orte und die Briefe helfen ihm und der Sohn und die kleine Enkeltochter. Dass es die alle gibt, seine Familie, die Schwiegertochter. Aber er kommt nicht zur Ruhe. Es geht nicht.
Tag, Monat, Jahr
So, die magersüchtige Frau ist verhungert. Habe ich heute aus der Firma erfahren. Tot. Wie und warum, weiß ich nicht. Niemand. Zu der Veranstaltung vor ein paar Tagen ist sie gewiss gekommen, um noch einmal ein paar Menschen zu sehen, mit denen sie zusammen gearbeitet hat, und überhaupt Menschen. Die hat sich wahrscheinlich einfach verabschieden wollen von wem von früher. Wie die Selbstmörder oft. So wird das gewesen sein. Die hat Menschen gesucht. Es ist dann ja eben auch jemand mit ihr mitgegangen. Haben geredet. Waren guter Dinge, ist mir vorgekommen. Ein paar Kolleginnen von ihr, alle, haben sich gefreut, sie wiederzusehen. Zusammengehören, miteinander essen; alles wirklich. Miteinander teilen alles und zugleich ist genug für alle da. So muss das gewesen sein für die Frau. Der Kabarettist an dem Abend, nach der Vorstellung noch kurze Gespräche mit Leuten aus dem Publikum; er hätte sich gewünscht, dass der Abend noch nicht zu Ende ist, kommt mir vor. Alles war gelungen und die Leute so angetan. Aber sie gingen dann eben. Als schon fast alle weg waren, drehte er sich mit dem Rücken zum Ausgang und mit dem Gesicht zur Bühne und hob plötzlich die Hände, streckte die Arme wie in einen Himmel hinauf über einem Altar und rief laut: Der Künstler bleibt wie immer alleine zurück! Seinem Gott hat er das geklagt. Der Kabarettist hätte gewiss gern mit der esskranken Frau geredet. Der ist immer sehr nett. Das wäre ihre Chance gewesen, am Leben zu bleiben. Der kann das. Der Abend, die Essenstücke in ihrer Hand angeschaut wie etwas Giftiges hat sie. Hab nicht verstanden, was ich wahrgenommen habe. Ratlos war sie, was sie machen soll. Das sah ich. Mit anderen zusammen hätte sie gewiss gegessen an dem Abend. Versuche dann heute noch darüber zu reden mit ein paar Leuten, so schnell ich nur kann. Die glauben zuerst alle, es sei eine sehr junge Frau gewesen. Aber sie war über 50. Da bringen sich oft welche um. Als Jugendliche eben oder in dem Alter. Die Leut’, mit denen ich zu reden versuche, sagen dann, dass heutzutage niemand mehr über Magersucht reden wolle. Sie auch nicht. Irgendwie witzig ist das und ich muss laut lachen. Später dann wieder erfahre ich, dass eine von denen, die heute nicht darüber reden wollten mit mir, eine Tochter hat, die schwer magersüchtig ist. Und das hilft der Tochter aber, dass sie das ist. Hat viel Erfolg damit. Daher hört sie ganz gewiss nicht auf damit. Gilt allen als hochintelligent, verlässlich, sozial wie nur wer, stets hilfsbereit, fleißig und strebsam und graduiert und zertifiziert sich in einem fort in allem ihr auch nur irgendwie Greifbaren. Die Mutter der Tochter, es ist, kommt mir vor, wie wenn man auf einen Menschen zugeht, der einen bitte auffangen soll, weil man zusammenbricht, und der Mensch geht aber jedes Mal weg in dem Moment. So kommt sie mir vor. Die entzieht sich immer. Wie das Essen eben. Da plötzlich nicht da. So wird die verhungernde Frau das Essen in ihrer Hand angeschaut haben. Ob der geliebte Mensch wirklich bleibt. Da ist eben, wenn man ihn braucht. Vom jetzigen Alter eines Abhängigen ist die doppelte Zeit seiner Abhängigkeit zu subtrahieren, dann weiß man, was diesem Menschen fehlt und gebraucht wird. Früher hat man’s so gemacht. So war die Formel. Und dann waren die Leut’ beim Nachrechnen eben 12 oder 3 Jahre alt oder noch gar nicht auf der Welt.
Tag, Monat, Jahr
Frage den Vietnamesen, was es Neues gibt. Sagt, dass er nichts im Lotto gewonnen hat. Das ist weder etwas Neues noch hat er gespielt. Sage das so zu ihm. Er lacht. Ich habe nichts gewonnen, sagt er wieder. Gehen wir essen, sag ich.
Bachmannwettbewerb 2020
Intervention 19. Juni 2020
Vorstellen soll ich mich. Sollten Sie das wirklich wünschen, dann hiermit wie folgt: Ausweisdokument ist mein Sozialstaatsroman, die ersten 3 bereits öffentlichen Teile und dazu im August heuer der vierte. Das ist beileibe keine Werbeeinschaltung von mir, dass ich Ihnen das mitteile, sondern im Sozialstaatsroman stehe ich drinnen, auch meine Eigentums- und Einkommensverhältnisse, Lohnzettel kommen auch vor. Mein Sozialstaatsroman bislang hat 1.200 Seiten und berichtet nämlich von zirka 1.200 Menschen. Der 4. Teil wird zirka 700 Seiten haben und berichtet von wohl 700 Menschen. Von denen bin ich ebenfalls einer. In Summe scheint mir das ausreichend Auskunft. Von Menschen sehr oft, die sehr oft weder aus noch ein können. Aber dann doch herauskommen aus der jeweiligen Ausweglosigkeit. Lebens- und existenzbedrohenden. Oder tatsächlich zugrunde gehen. Ungerecht, aber – mit Verlaub – nicht ungerächt.
Noch etwas aus meinen Personalien: Ich schlafe gern und gut. Der Schlaf ist meines Empfindens der Hüter des Lebens. Bei Klee zum Beispiel ein schlafender Mensch, um ihn herum die Schicksalsgewalten. Aber in dem schlafenden Menschen funktioniert alles gut, nichts ist beeinträchtigt, er kann sich auf alles verlassen. Er ist irgendwie überall und lebensfähig und es geschieht ihm nichts Böses. Überall soll ein wichtiges Wort gewesen sein für Klee. Todesspiralen soll er oft gemalt haben und mitten im Krieg hat Klee aber gesagt, der Krieg gehe ihn innerlich nichts an. In ihm sei keiner.
Der springende Punkt nämlich, wissen Sie, was das ist? Das ist das Herz des Vogels im Ei. Das pulsierende Kükenherz, das ist der springende Punkt. Irgendwie der Inbegriff des Lebens. Der kommt von Aristoteles her. Also von vor 2.400 Jahren. Aristoteles hat Hühnereier systematisch geöffnet und dadurch die Entwicklung von Embryos kapiert. Und dass die Entwicklung des Individuums die verkürzte Entwicklung der Familie ist, der es zwangsläufig zugehört. Der springende Punkt ist das pulsierende Leben. Zerbrechlich zugleich wie nur was. Dass da ein Wesen lebt, das ist der springende Punkt. Von Aristoteles ist bekanntlich auch, dass der Mensch ein politisches Wesen sei. Aristoteles hat ihn zugleich benannt als das einzige Lebewesen dazumal, das lachen kann. Und als Ursinn, Hauptsinn, den Tastsinn.
Warum ich Ihnen das mitteile? Damit Sie mir nicht auf die Nerven gehen.
Gut wäre auch, wenn Sie jetzt endlich das österreichische Sozialstaatsvolksbegehren aus dem Jahr 2002 wiederholen und zwar europaweit. Das wäre gut.
ORF/3sat-Porträtvideo, Bachmannwettbewerb 2020
Interview 14. Juni 2020
Wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?
Die Tage gehen im Moment jedes Mal gut aus. Ich hoffe, das hat kein Ablaufdatum.
Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?
Die Wiederholung des Sozialstaatsvolksbegehrens aus dem Jahr 2002. Es war präventiv und verbunden z. B. mit der Frauenministerin Dohnal, dem WIFO-Ökonomen Schulmeister und dem Arzt und ersten Wiener Pflegeombudsmann Werner Vogt. Wäre es parlamentarisch realisiert worden statt nicht einmal auf eine Tagesordnung gesetzt (über 700.000 Stimmen hatte es unter schwierigen Umständen erreicht), wären uns da hier die Katastrophen jetzt erspart geblieben, auch die wirtschaftlichen. Das Sozialstaatsvolksbegehren zu wiederholen ist des Öfteren versucht worden, z. B. zwischen 2008 und 2010, angesichts der Weltwirtschaftskrise infolge der Bankencrashs. Die Kooperation mit wichtigen Interessenverbänden kam jedoch nicht zustande, die waren nicht interessiert. Z. B. die roten. Europaweit die Roten nicht.
Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst zu?
Das Sozialstaatsvolksbegehren halte ich tatsächlich für dringlich, unverzichtbar und für den jetzt einzigen tatsächlich realisierbaren Ausweg. Und Gedichte. Mit Verlaub! Die sind eine wirkliche Hilfe. Habe ich von einem Kriegsberichterstatter gelernt.
Was liest Du derzeit?
Ich kann nichts dafür: mein eigenes Buch. Weil ich das gerade fertigstelle. Ein Friedens- und Dolmetscher*innenbuch, den letzten Teil meines Sozialstaatsromans. Da kommen zwar Bücherquellen drinnen vor en masse, aber welche, ist noch Werkgeheimnis. Aber vor ein paar Tagen habe ich wieder