Bourdieu für ÖsterreicherInnen und den Rest der Welt, Tagung: Klasse, Milieu, Soziale Reproduktion: Was bleibt von Pierre Bourdieu?, AK Wien
Intervention 13. Februar 2019
Sehr verehrte Damen und Herren, Sie werden in den kommenden Minuten angesichts meiner Wortmeldungen vielleicht ziemlich rasant zur Ansicht gelangen, Sie seien in der falschen Veranstaltung oder aber ich – einen schönen guten Abend! – sei da hier eben völlig fehl am Platze: Wischiwaschi, Larifari, ausweglos und Blablabla. Nichtsdestotrotz kennen die meisten von Ihnen wahrscheinlich die Geschichte, dass der Erfinder des Schachspieles als finanzielle Gegenleistung für seine Idee vom Herrscher lediglich ein Reiskorn auf das erste Feld, 2 auf das 2. Feld, 4 auf das 3., 8 auf das 4., 16 auf das 5. und so weiter bis zum 64. Feld sich erbat. Die Obrigkeit stimmt dem Erfinder freudig zu und verspricht ihm verbindlich die geforderte läppische Summe. Alleine auf dem 64. Feld liegen dann jedoch an Gewicht an die 500 Milliarden Tonnen Reis und auf allen 64 Feldern zusammen die Welternte von etlichen Jahrhunderten und das sind in Summe so viele Reiskörner, dass diese eine 1 Kilometer breite Straße von der Erde bis zur Sonne ergeben. Rechnerisch ist das Ganze angeblich etwas relativ Simples und durch und durch rational und normal. Zugleich wohl allerdings mutet es total irrational an und in den Konsequenzen unheimlich. Man kann das Ganze natürlich auch ganz anders sehen und empfinden, nämlich so, wie es zumeist erzählt wird: als Beispiel für Geschäftstüchtigkeit.
Von der Erfindung des Schachspieles existiert seit alters her auch ein total konträr beschaffener Bericht: Eine Mutter will da wissen, wieso ihr Kind zugrunde gegangen ist. Verzweifelt stellt sie die Verantwortlichen zur Rede. Von denen werden daraufhin die Gegebenheiten, Begebenheiten, Abläufe, der Konflikt, das Schlachten, die herrschende Ordnung nachgestellt und in aller Kenntlichkeit vor Augen geführt. Auf die Klage dieser Mutter hin. Vor ein paar Jahren hat übrigens ein bekannter österreichischer Kabarettist aufs Schach zurückgegriffen, als er das erschütternde Ableben seiner Frau an die Öffentlichkeit brachte. Gewissermaßen stellte er in einer Art Kampfschrift nach, wie seine Frau inmitten des, wie man ja gemeinhin hört, erstklassigen österreichischen Gesundheitswesens qualvoll und entstellt und – kann sein – unnötig zu Tode gekommen ist. Auf Schachzüge rekurrierend versuchte er einerseits, die eigene Fassung wiederzugewinnen, und andererseits, den seiner Meinung nach Verantwortlichen das Handwerk zu legen, damit anderen Menschen nicht zwangsläufig dasselbe widerfährt wie seiner Frau.
Um den Sinn und Zweck des Schachspiels zentrieren sich selbstverständlich Lebensgeschichten sonder Zahl und auch soll der Lohn dazumal eventuell eher in Weizenkörnern bestanden haben statt in Reis und auch soll der ungerechte Machthaber den damaligen Erfinder letztlich doch um den Lohn betrogen haben. Der Betrogene selber soll das Regelwerk des Schachspiels freilich erfunden haben, um just dem rasenden Herrscher Humanität, Seelengröße und Sinn für Gerechtigkeit beizubringen. Und zwar vor allem, dass die Regierenden von den Regierten völlig abhängen, die Regierenden die Regierten brauchen, die Regierenden ohne die Regierten hilflos, machtlos und verloren wären und dass die Regierenden sich deshalb den Regierten gegenüber gefälligst anständig statt wahnsinnig zu benehmen haben. So also eigentlich soll der Erfinder des Schachs sich die Sache gedacht haben. Ging alles daneben. Ging alles schief.
Zur Geschichte des Schachspiels gehört andererseits auch das energischste aller Aufklärungsstücke, nämlich Lessings Nathan. In einer Szene spielt da ein Mann, der Regent, mit einer Frau Schach und verliert chancenlos, ruft seinen Finanzminister, damit der das Geld ihr sofort ausbezahlen soll. Der erwidert, die Partie sei ja gar nicht verloren und der Regent solle doch weiterspielen. Tut der Regent aber nicht, sondern sagt, er wisse nicht, wie weiter, und die Frau habe gewonnen und auf der Stelle ihr Geld zu bekommen. Nach keiner der eben genannten Personen ist Lessings Stück benannt. Lessing hat den Nathan bekanntlich seinem Freund Mendelssohn nachgebildet. Beide, Lessing wie Mendelssohn, waren exzellente Schachspieler. Und dem Finanzminister in besagtem Stück entspricht ebenfalls eine reale Figur, eine Absturzexistenz, ein unglücklicher Berufsspieler, den Mendelssohn und Mendelssohns Frau und Kinder bei sich aufgenommen haben und der ohne sie alle verloren gewesen wäre. Mendelssohns Motto des eigenen Lebens lautete: Verschonet euch untereinander! Das Gegengift war das, meinte er, zu dem, was zurzeit, damals eben, sich permanent zuspitzend politisch, ökonomisch, kulturell, sozial und psychologisch gang und gäbe war. Verschonet euch untereinander! ist kein Kitsch nicht, sondern Mendelssohn wusste bloß, wovon er redete, konnte sich tatsächlich oft überhaupt nicht rühren, sowohl körperlich als auch seelisch, war da völlig hilflos und abhängig. Konnte nur abwarten. Verschonet euch untereinander! wäre in Mendelssohns Augen die Lösung gewesen für alles. Auf Mendelssohns Verschonet euch untereinander! werde ich Sie, verehrte Damen und Herren, heute Abend noch des Öfteren hinzuweisen mir gestatten. Und auch, es Ihnen untereinander anzuraten. Als Ausweg eben für alles.
Ebenfalls in die Geschichte des Schachspiels gehört Bertolt Brechts Stück Leben des Galilei. Brechts Galilei legt da den Leuten nämlich nicht alleine Denkfreiheit nahe, was die Natur und die Kirche betrifft, sondern nebenbei eine neue Art des Schachs, neue Spielregeln über alle Felder hinweg. Heraus aus Einschüchterung und Enge. Das Schach war im Mittelalter zugleich sowohl ein Hasard als auch natürlich das Sinnbild der ständisch streng hierarchisierten Gesellschaft gewesen. Und tatsächlich wurden Jahrhunderte später zu Lebzeiten Galileis die Regeln geändert und auch die Werthaftigkeit der Figuren im Spiel. Natürlich blieben die Untersten die Wertlosesten und Eingesperrtesten. Aber für die anderen Figuren fing das Spiel an, sich sozusagen wirklich zu rentieren. Ähnlich wie heute, wo der Springer bekanntlich 3 Bauern wert ist, der Läufer eher 4 Bauern, der Turm 5, die Königin 9. Und je näher der Brettmitte das jeweilige Feld positioniert ist, umso wertvoller ist es. Wer die Mitte beherrscht, beherrscht das Spiel. Diese ganze Unterwerfungsscheiße! Von Heinrich Böll ist das. – Der Begriff Unterwerfungsscheiße! ist von Böll. Böll spielte jeden Morgen Schach und angeblich findet man das Schach in der Formgestaltung und im Geschehensablauf vieler Böll-Werke wieder. In der Verlorenen Ehre der Katharina Blum genauso wie im Gruppenbild mit Dame oder in Frauen vor Flusslandschaft. – Ich weiß, was ich tue, aber ich weiß nicht, was ich anrichte. Ich weiß, was ich tue, aber ich weiß nicht, was ich anrichte! Bei Böll sagt das ein Politiker von sich und von der gegenwärtigen Politik überhaupt. Die Bundesrepublik Deutschland seiner letzten Lebenszeit hat Böll so auf den Punkt gebracht. Als, so hat Böll gesagt, geistig-politisches Gesamtphänomen.