Ich zähle jetzt bis drei. Egon Christian Leitner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Egon Christian Leitner
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783990471173
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alles verloren. Die neue Heimat waren dann notgedrungen die USA. Ayn Rand hat dort etliche wirkmächtige Bücher geschrieben mit einer Gesamtauflagenhöhe von zig Millionen Exemplaren. Zwischendurch hieß es sogar, insbesondere ihre verfilmten Romane werden in der offenen Gesellschaft der USA sowohl in Quantität als auch in Qualität einzig durch die Bibel übertroffen. Einer von Rands innigsten Freunden war Alan Greenspan, der zeit ihres Lebens nie ein Hehl daraus gemacht hat, von Ayn Rand maßgeblich beeinflusst zu sein und mit ihr liebend gern zu kooperieren. Greenspan war für 5 Amtsperioden = 20 Jahre lang der Präsident der US-Notenbank FED – und namhafte Kritiker des Neoliberalismus wie etwa Paul Krugman haben Greenspan als einen der Hauptverantwortlichsten der Weltwirtschaftskrise der Jahre 2007 folgende benannt. Sozusagen als den über Jahrzehnte hinweg Tätigsten aller Zeitbombenleger. Frau Ayn Rand jedenfalls hasste alles, was auch nur das Geringste mit Roosevelts New Deal gemeinsam hatte, und ihre Lehre war die des Übermenschen, der Hochintelligenz und des Ja-Nicht-Helfens. Allerdings soll die Rand, als sie krank war, paradoxerweise staatliche Hilfe in Anspruch genommen haben, finanzielle und auch medizinische. Unter anderem Namen. Gefälschtem. Auf neoliberal Österreichisch gesagt war das also Sozialbetrug, und zwar Missbrauch der Mindestsicherung und Benutzung einer fremden e-card.

      Was ich bis jetzt, sehr verehrte Damen und Herren, radebrechend aufgeführt und versuchsweise in Anwendung gebracht habe, gehört explizit zum Methodenrepertoire Pierre Bourdieus, des anno 2002, im Jahr des österreichischen Sozialstaatsvolksbegehrens, verstorbenen, aber weltweit nach wie vor meistzitierten Menschen- und Wirklichkeitswissenschaftlers. Nämlich: Spaß- und Spielverderber sein; vor Augen führen, dass die Spiele der Gesellschaft solche auf Gedeih und Verderben sind; immer gerade über das reden, worüber nicht geredet wird oder nicht geredet werden soll; sich weder ein- noch aussperren lassen; sich nicht dem Zeitdruck der Wegwerfgesellschaft fügen, die aus dem Denken Wegwerfdenken macht und aus dem Reden Wegwerfreden und aus dem Leben Wegwerfleben; wo und wann nur irgend möglich, das Konkurrenzprinzip außer Kraft setzen; wo und wann nur irgend möglich, das Konkurrenzprinzip außer Kraft setzen!; die Aufzwingungen, Einschüchterungen, Tricks und Schwindeleien, die die Mächtigen und Wichtigen aller Zeiten ausmachen, demaskieren; Gewalt und Betrug kenntlich machen und durchkreuzen.

      Bourdieus Lebenswerk hat sehr viel und wesentlich zu schaffen mit den immer wieder neu aufbrechenden Massenprotestbewegungen in Frankreich von 1995 an bis jetzt. Zugleich nichtsdestoweniger mit verlässlichstem Wissenschaftsverständnis. Nämlich dem Max Webers. Worum es Weber als Wissenschaftler ging, war, Menschen die Freiheit der Wahl zu ermöglichen. Wissenschaft soll laut Webers Wissenschaftslehre mithelfen, Menschen bewusst zu machen, was Menschen eigentlich wollen und ob sie das auch wirklich wollen, was sie zu wollen meinen, und was die Konsequenzen ihrer Wertungen und Wollungen sind und was die Mittel sind, die Menschen zum Erreichen ihrer Ziele und zum Realisieren ihrer Werte einsetzen müssen, und wo es dabei zu ungewollten Widersprüchen und zu ungewollten Konsequenzen kommt und wie Alternativen aussehen und aussehen könnten. Webers autonomer Wissenschaftler treibt insofern Politik, als er die freie Wahl Menschen zu ermöglichen versucht. Das tut er, indem er wie gesagt klärt, was Menschen wollen, und indem er Widersprüche, Folgen und Alternativen klarmacht, und zwar gerade dann, wenn man solche Wahrheiten weder finden noch hören will. Das ist seine Pflicht, Arbeit, Autonomie und Deplatziertheit. Und Objektivität, Objektivität!, war für Weber zuvorderst die Verpflichtung, Bereitschaft, Fähigkeit und Fertigkeit, Menschen nicht zu entstellen. Menschen nicht und Sachverhalte nicht.

      Für den linken Weberianer Pierre Bourdieu (gestorben wie gesagt 2002) gab es nichts Provokanteres als Wissenschaft, Autonomie und öffentliche Wahrheitsfindung. Immer geht es in Bourdieus Gesamtlebenswerk um Menschen in Zwangssituationen, unten, oben, mitten drinnen. Den Sozialstaat erachtete er als Erzeugnis der Evolution, sozusagen als das Beste, was es bisher unter Menschen gab. Entstanden durchaus aus Zufällen, Glücksfällen, die als solche erkannt, geschätzt, geschützt wurden und zugleich aber das Ergebnis unglaublicher, schrecklicher Kämpfe waren. Daher dürfe der Sozialstaat ja nicht von neuem dem Zufall preisgegeben werden. Ja nicht diesen furchtbaren Preis von neuem zahlen müssen. Kleine soziale Wunder, Kostbarkeiten – Bourdieu nannte die Menschengruppen, die jetzt für den Sozialstaat kämpfen, so, die Bewegungen, Hilfseinrichtungen, NGOs. Er meinte, gegenwärtig sei eine rechte Revolution nach der anderen im Gange – eine permanente neoliberale Revolution, durch die der Staat mittels des Staates außer Kraft gesetzt werde. Und die Linken und Alternativen seien aber immer zwei, drei, vier Revolutionen hintennach; können gar nicht so schnell begreifen, geschweige denn dazwischengehen, geschweige denn wirklich, rechtzeitig und gemeinsam. Sie seien auch nicht imstande, untereinander das Konkurrenzprinzip, das Jeder muss selber schauen, wo er bleibt! und das Jeder gegen Jeden!, wo nur irgend möglich, außer Kraft zu setzen. Insbesondere freilich auf die Ausübenden der helfenden Berufe hoffte Bourdieu dennoch; und zwar auf diejenigen Berufshelferinnen und Berufshelfer, die in Ausübung ihrer Berufspflicht von Rechts wegen sich durch nichts und niemanden von ihren Schutzbefohlenen trennen lassen und in der Folge Politikern und Wirtschaftsherren rechtzeitig, wirklich und gemeinsam Paroli bieten. Statt Paroli bieten hat er Gegenfeuer gesagt. Und statt helfende Berufe in etwa die linke Hand des Staates. Und wirklich, rechtzeitig und gemeinsam waren Bourdieus Lieblingsadverbien. Statt Sozialstaat sagte er auch mitfühlender Staat.

      Die Präventions-, Demokratie-, Solidaritäts-, Friedensmethode des Konflikt-, Macht- und Dissenstheoretikers Bourdieu ist praktiziert in der Studie Das Elend der Welt. In besagtem Werk respektive durch es erzählen angeblich banale alltägliche Menschen wie – Pardon – Du und ich einander ihre angeblich mehr oder weniger unwichtigen Leben, Wegwerfleben und was sie fürchten, was sie sich wünschen, was ihnen wehe tut. Und zwar Menschen tun das vom Bauern bis zum Untersuchungsrichter, von der Polizistin bis zur Postangestellten, vom Weinhändler bis zum jungen baldigen Neonazi, vom Migrantenbuben und dessen Hausmeister bis zur kleinen Geschäftsfrau oder bis zum Sozialarbeiter oder bis zum Autoschlosser in der riesigen Fabrik oder bis zur Lehrerin oder bis zum Arbeitslosen oder zum Schuldirektor oder bis zum moslemischen Familienvater, der nicht aus und ein weiß, oder bis zur moslemischen Tochter, die auf und davon will, oder bis zum Versicherungsvertreter oder zum entsetzten Gewerkschafter oder bis zur Leiterin eines Frauenhauses und so weiter und so fort: Es erzählen also Menschen, die einander ansonsten unbekannt, gleichgültig oder gar widerwärtig sind, einander ihr Leben. Indem sie einander angeblich Banales erzählen, das in Wahrheit für sie lebenswichtig ist, entmachten sie Stück für Stück diejenigen Wirtschaftsherren und politischen Machthaber, von denen sie beruflich und alltäglich in ihre jeweiligen Lebenssituationen, Konflikte und Kämpfe gezwungen werden. In Bourdieus Augen ist das Berufsgeheimnis das größte Problem. Denn dadurch ändere sich nie etwas. Für die Ausübenden der helfenden Berufe zum Beispiel. Bourdieu wortwörtlich: Die Lähmung der Gesellschaft funktioniert über das Berufsgeheimnis. Für Bourdieu war Schicksal jedenfalls nur Gewalt und Willkür und der Sozialstaat gedacht als das Gegenteil davon. Dass man öffentlich eben ja über das reden solle, worüber üblicherweise nicht geredet wird, sagte er. & immer mehr, immer mehr Menschen sollen das so machen. & immer mehr reden. Über ihre wirklichen Probleme. Die Menschen im Elend der Welt reden übrigens sehr wohl auch genau davon, was ihnen hilft und das Leben leichter macht. Was das ist und wäre.

      Bourdieus Beziehungen zu Österreich waren vielfältig, z. B.: 1.) Bourdieus Elend der Welt aus den 1990er Jahren wurde schulintern systematisch mit der weltberühmten österreichischen Studie von Jahoda in den 1930er Jahren in Zusammenhang gebracht, mit den Arbeitslosen von Marienthal. 2.) Für Pierre Bourdieu war die wohl wichtigste Verbindung zu Österreich – der, wie Karl Kraus gesagt hat, Versuchsstation für Weltuntergang – Bourdieus österreichischer, früh verstorbener Schüler Michael Pollak. Pollak hat in einer Studie die österreichische Gesellschaft und Kultur der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg als eine die Menschen misshandelnde und missbrauchende beschrieben und die internen Machtkämpfe der Eliten analysiert. Die Intellektuellen seien herrisch, Sadomaso und prostituierend gewesen. Wien 1900. Eine verletzte Identität heißt Pollaks Werk. 3.) Zukunftsweisend an Österreich war für Bourdieu und die Bourdieuschule das Sozialstaatsvolksbegehren des Jahres 2002. Sozusagen das andere Österreich. Bourdieu hat nämlich in den letzten Jahren seines Lebens vehement und konsequent daran gearbeitet, dass es EU-weit, in den einzelnen Staaten und insgesamt, mit Hilfe der Sozialbewegungen und NGOs möglichst bald