Ich zähle jetzt bis drei. Egon Christian Leitner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Egon Christian Leitner
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783990471173
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was bevorstehe, zu verstehen, Bourdieus Herrschaftsanalysen insgesamt gedanklich flugs den Masken der Niedertracht assoziieren sollte, also dem weltweiten Bestund inzwischen Longseller der französischen Viktimologin Hirigoyen. Diese vertritt ja die Überzeugung, dass gegenwärtig die Politik, die Unternehmen, die Betriebe, die Familien, die Mafia und unsere Gesellschaft als ganze zunehmend ident funktionieren. Nämlich derart, dass sie Menschen in ihrem Alltag dazu bringen, zu belügen, zu quälen, zu demütigen. Die narzisstisch Perversen, die malignen Narzisse, die im jeweiligen großen oder kleinen System Machthabenden eben, lösen eine Katastrophe aus, die sie dann, sich selber als Retter aufspielend, den erschöpften Opfern anlasten. Und während eben die Peiniger sich selber als Retter aus der Not geltend machen, müssen die Opfer den Peinigern allein schon dafür dankbar sein, dass diese die Tortur endlich beenden. Oder wenigstens zwischendurch unterbrechen. Die Widerstandsfähigkeit eines Menschen ist nun einmal nicht unbegrenzt, sondern erschöpft sich. Und der maligne Narziss andererseits, der perverse Aggressor, der jeweilige große und kleine Machthaber, gibt seinen permanenten Kampf nur dann auf, wenn das Opfer ihm zeigt, dass es sich von nun an nichts mehr gefallen lassen wird. Das sei das Einzige, was hilft – öffentlich und wahrheitsgemäß und so schnell wie möglich zu sagen, was gerade geschieht; was angetan wird. Den Blick, die Gesten und die Wörter des Peinigers, die das Opfer verinnerlicht hat, muss das Opfer so schnell wie möglich wieder losbekommen. Das sei die erste und wichtigste aller Revolten. – Bei Bourdieu nun findet sich tatsächlich genau dasselbe als Grundwahrheit festgeschrieben, nämlich dass man sich selber ja nie mit den Augen der Herrschenden sehen dürfe. Ja nicht sich selber mit den Augen der Herrschenden sehen! Und ja nicht über dasselbe reden wie die Herrschenden und ja nicht auf dieselbe Weise reden wie diese! Sondern immer gerade das reden, worüber nicht geredet wird; das sagen, was gerade nicht gesagt wird.

      Was List bei ihren für sie existenziellen Arbeiten über das Selbstverständliche und über das Lebendige immer interessiert hat, in Besonderheit an Bourdieu, ist der Habitus-Begriff. Dass Habitus so viel bedeutet wie die Hirngrenzen eines jeweiligen Menschen, aus denen er nicht herauskann; seine Denk-, Wahrnehmungs-, Empfindungs-, Gefühls-, Werte- und Handlungsschemata, in denen er eingesperrt ist. Worden ist. Was List einmal, im Jahr 2000 war das, zirka halb spaßig, halb ernstlich gleichsam in Auftrag gegeben hat, ist eine Art handliches kleines Habitus-Wörterbuch à la Fremdsprachen-Langenscheidt; eine jederzeit greifbare verlässliche Übersetzungshilfe, ein Bestimmungsbuch, Menschenbestimmungsbuch. In dieser Handreichung, Verständigungshilfe von Mensch zu Mensch, von Menschengruppe zu Menschengruppe solle gleichsam drinnen stehen, was ein Mensch denkt, empfindet und so weiter und aber eben auch das, was er nun einmal nicht kann, und aber eben auch das, was er sich wünschen würde. Das einem Menschen Zumutbare also und das ihn Überfordernde sollen drinnen stehen. Mit diesem Menschenbestimmungsbuch könnte man ansonsten Schicksalhaftes wirkungslos und unschädlich machen. Die sozialen Bestimmungen eben mit all den Folgen, Situationen, Abläufen, Zwängen, Gewalttätigkeiten, erlernter Hilflosigkeit. Besagtes Habituswörterbuch solle aber ja elementar und klein gearbeitet sein, sozusagen für kleine Leute, und z. B. sowohl für Zugewanderte als auch Hiergeborene. Und eben ja ganz konkret gegen die konkreten Missverständnisse, Probleme und Konflikte zwischen den verschiedenen Schichten, Milieus, Klassen gut soll es sein, das Wörterbuch. Interkulturell wie gesagt sowieso. Aber eben innerhalb der eigenen Kultur solle es auch interkulturell sein, weil ja z. B. jede Schicht, jedes Milieu eine eigene Kultur hat und ist. Die feinen Unterschiede und Das Elend der Welt hat List somit in eine Art kleine Fibel für den Elementarunterricht und als Art österreichisches Wörterbuch, Schulwörterbuch, für den alltäglichen zwischenmenschlichen Gebrauch gezielt umzubauen vorgeschlagen. Anfang unseres Jahrtausends wie gesagt hatte sie das im Sinn. Als Handreichung eben gegen zwischenmenschlichen Schmerz und Stress. Ein Wörterbuch der gegenseitigen Hirngrenzen wie gesagt. Was List da an Bourdieu dazumal wirklich interessierte, an den Feinen Unterschieden genauso wie am Elend der Welt, ist eben das Selbstverständliche, Lebendige, Existenzielle, Lebensweltliche, Übersetzbare. Die Grundforderung des Norbert Elias ist das bekanntlich, nämlich: Wir haben nur eine Aufgabe: Mit Menschen freundlich zu leben. Das Wichtigste, meinte List, sei jetzt eben die Psychologie, Sozialpsychologie, die Psychologie der Solidarität. Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen, jede nach ihren Fähigkeiten, jeder nach ihren Bedürfnissen. Jede Sozialbewegung, die das nicht vermag, gehe und sei verloren. So einfach sei das: Entweder gemeinsam oder kaputt. Unter Garantie habe Bourdieu das auch so gesehen, sonst wäre er ja blöd gewesen.

      Das von List in Auftrag gegebene österreichische Hirngrenzenwörterbuch für den Schul- und Alltagsgebrauch ist meines Wahrnehmens bislang nicht realisiert worden, ebenso wenig Schwendters AlternativdenkerInnenlehrbuch für jedweden österreichischen Schultyp. Auch nicht Zilians Studie über den kaputten österreichischen Fußball. Einzig das österreichische Sozialstaatsvolksbegehren wurde realisiert. Jedoch ignorierten die schwarzblaue Regierung und de facto auch die rote Parlamentsopposition repräsentativdemokratisch die mehr als 717.000 Unterschriften aus dem Jahr 2002. Seither hat zuvorderst Werner Vogt, eine Zeitlang auch Wiener Pflegeombudsmann, erster überhaupt in Österreich, sich beharrlich bemüht, dass das Sozialstaatsvolksbegehren schnellstens wiederholt wird. Stephan Schulmeister hat es genauso versucht, gar europaweit, insbesondere unmittelbar in der Weltwirtschaftskrise. Doch wollen, scheint’s, z. B. die Gewerkschaften gar nicht, dass der Sozialstaat in die Verfassung kommt. Weder in die österreichische noch in die europäische. Als ob die Roten allerorten andere Sorgen hätten als den Sozialstaat. Die Grünen und die APO detto. Wie auch immer, das kommunikationsfreudige Sozialstaatsvolksbegehren da hier war jedenfalls seit inzwischen groteskerweise fast Jahrzehnten stets auch als rechtzeitiger, gemeinsamer, präventiver Lern- und Sammelprozess gedacht. Gerade auch, damit die Wahlkämpfe endlich anders geführt werden. Nämlich endlich aufs wirklich Lebenswichtige sich zentrierend. Des Juristen Oliver Scheiber jüngster Letzter Aufruf an die Sozialdemokratie hat offensichtlich sehr Ähnliches bis dasselbe im Sinne – und erging daher nicht alleine nur an die SPÖ und Wien. Aus Vogts Berufsbericht, Arztroman, der zugleich eine Sozial-, APO- und Elitengeschichte der Zweiten Republik ist und eine Historiographie des Sozialstaates da hier, könnte hier und jetzt jedenfalls gelernt werden, was alles hier und jetzt trotz der allgegenwärtigen Ohnmachtsgefühle sehr wohl real möglich ist, nämlich reales Unglück in reales Glück zu drehen. Ins Leben eben, wie bei einer Geburt, wenn die Lage zuerst falsch ist.

      Mit den meisten, sehr verehrte Damen und Herren, der in meinem Referat bislang Genannten habe ich einmal in irgendeiner Form zusammengearbeitet oder Gespräche geführt, welche bereits publiziert sind oder es noch werden. Auswege lautet der Reihetitel. Mein Teil bei diesen vertratschten, aber sehr wohl existenziellen Gesprächen war in heuristischer Absicht bisweilen gleichsam die eines Agent provocateur, nämlich, soweit meiner Wenigkeit möglich, Bourdieusches samt Raisons d’agir bald en passant, bald konfrontativ, immer jedoch in Sympathie miteinzubringen. Die findigen Reaktionen darauf seitens der von mir Genannten habe ich in meinem Referat heute hier bislang wiedergegeben. Fritz Orter z. B. fehlt freilich noch, Kriegsberichterstatter in 14 Kriegen. In diesen hat er die Mörder, Schänder und Quäler immer und immer wieder dasselbe sagen hören, in etwa nämlich: Wer zu uns gehört, braucht keine Angst zu haben! Den bringen wir nicht um. Wir bringen nur die um, die uns umbringen. Wir machen mit ihnen nur, was sie mit uns machen. Denen ist egal, wenn wir verrecken, deswegen ist es uns egal, dass die verrecken. Mit Verlaub, wenn das nicht der Zweckmechanismus der Distinktion ist, den Bourdieu sozioanalytisch immer beschrieben hat, nämlich der Entscheidungskampf letztlich auf Leben und Tod, die möglichst endgültige Unterwerfung, Vernichtung, Auslöschung des Feindes, was dann ist Distinktion? Was denn dann, sehr verehrte Damen und Herren, mit Verlaub als das? Bourdieu hat bekanntlich mit großer Wucht eine andere Art von politischem Fernsehjournalismus gefordert, der so beschaffen ist, dass er die Fernsehzuschauer nicht apathisch macht, sondern empathisch und handlungsfähig. Fritz Orter hätte tatsächlich just solche Journalistinnen, Journalisten im Sinne, nämlich die rechtzeitig und konsequent recherchieren und berichten, was getan werden kann. Und ein fixes Friedensformat im ORF, ein Friedensprogramm. Und in der Schule da hier ein Fach, das Helfen heißt. Für all das also könnte Bourdieu in Österreich gut sein: Vom Sozialstaat endlich in der Verfassung bis zu den Erfreulichkeiten des Fußballs; vom Helfen als Unterrichtsfach und von endlich einmal wirklich alternativen Schulbüchern bis zum öffentlich rechtlichen Friedensfernsehen;