Ich zähle jetzt bis drei. Egon Christian Leitner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Egon Christian Leitner
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783990471173
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also sozialstaatliches, Europa kommt. Was Bourdieu da dringlich und präventiv und als kollektiven Lernprozess im Sinne hatte, hat der Arzt und erste Wiener Pflegeombudsmann Werner Vogt zeitgleich und völlig unabhängig von Bourdieu für Österreich zu realisieren versucht. Gemeinsam mit Stephan Schulmeister, Emmerich Tálos und der inzwischen verstorbenen, politisch jedoch nach wie vor nicht umzubringenden Frauenministerin Johanna Dohnal (und wie sie alle heißen). Nach einer Jahre dauernden Vorbereitungszeit inmitten massiven Desinteresses der Parlamentsparteien ist das Volksbegehren realisiert worden. Bourdieu hat just in diesem jenem anderen Österreich, dem z. B. des Sozialstaatsvolksbegehrens, Europas Avantgarde gesehen.

      1. Verschonet euch untereinander! 2. Das Konkurrenzprinzip Jeder gegen jeden und Jeder muss selber schauen, wo er bleibt außer Kraft setzen! 3. VIS und DOLUS, Zwang und Täuschung, selber nicht und nicht anwenden untereinander! 4. Aus den Fehlern lernen, konsequent und systematisch, also kultiviert. 5. Schnellstens daran gehen, das Sozialstaatsvolksbegehren zu wiederholen! Das sind die Antworten, die meine Wenigkeit Ihnen, geschätzte Damen und Herren, auf die Fragen auf der Einladungskarte geben würde, wären besagte Fragen die Ihren. Ah ja – und 6.: Anders miteinander reden. Es gibt nämlich nicht nur ein Totschweigen, sondern auch ein Totreden.

      Menschen, die weder totschweigen noch totreden, gibt’s glücklicherweise freilich auch. Peter Henisch zum Beispiel heißt einer und einer Klaus Ottomeyer und einer eben Werner Vogt. Henisch hat vor Jahrzehnten ein Grundwerk der Zweiten Republik verfasst. Das ist auch tatsächlich so kanonisiert, als Grundwerk der Zweiten Republik. Unter dem Titel Die kleine Figur meines Vaters. (Zum jetzigen Bundeskanzler übrigens hat vielleicht noch niemand in der Öffentlichkeit so klare Worte gefunden wie Henisch.) Das Grundwerk der Zweiten Republik aus der Hand des Psychologen Klaus Ottomeyer sind die Psychogramme des Jörg Haider. Diese sind zugleich die Psychogramme des Kurzschen Österreichs hier und jetzt. Und aus Vogts Grundwerk der Zweiten Republik, seinem Pflegetagebuch sowie seinem Berufsroman, sozialhistorischen Lebensbericht, kann man nach wie vor erlernen, miteinander kooperierend Menschen hier und jetzt beizustehen und ihr Unglück ins Glück zu drehen. Das eigene eventuell auch. Einer, von dem ich nicht weiß, wie er heißt – jedoch würde ich ihn unter Tausenden wiedererkennen –, sagte bei einer der Demos gegen die ÖVP-FPÖ-Regierung der Schüsselzeit folgenden Satz: Wir haben gelernt, aufeinander aufzupassen, wir sind eine soziale Bewegung. Wir haben gelernt, aufeinander aufzupassen, wir sind eine soziale Bewegung! Ach wäre es doch dann wirklich so gewesen! Ach wäre es doch dann wirklich so gewesen!

      Selbstermächtigung in einer offenen Gesellschaft, Verein AMSEL. Arbeitslose Menschen suchen effektive Lösungen und Katholische Hochschulgemeinde, Graz

      Ein Freund, Bruder fast, ist einmal um halb vier in der Früh durch die Strauchergasse zum Zigarettenautomaten gegangen. Plötzlich ist es laut geworden über ihm und aus einem Haus ist aus dem 3. Stock eine Marienstatue geworfen worden, keinen Meter neben meinem Freund, Bruder fast, aufgeschlagen. Als er perplex hinaufgeschaut hat, waren alle Fenster geschlossen, streiten hat er auch niemanden mehr gehört, Licht war auch nirgendwo an. Die Sache hat sich tatsächlich so ereignet. Ein Freund, auch ein Bruder fast, ist einmal über die Strauchergasse, durch den Durchgang, Hof oder wie das heißt, in den Tschuschenpark spaziert, hat aus der Ferne den Stupa angeschaut und der Stupa hat da heftigst Laute von sich gegeben, gezischt, gepfaucht und gebebt. Mein Freund war daraufhin tagelang konsterniert, erklärte mir dann, wie es wirklich gewesen sein muss: In den Pagoden sind üblicherweise Hohlräume frei gelassen, in welchen Heiligenreliquien, sakrale Gerätschaften, Schriftgüter aufbewahrt werden. Die Volksgartenarbeiter werden dort stattdessen Gras, Laub und Abfall deponiert haben, das Ganze hat gegärt, sich so angehört wie ein Buddha mit Verdauungsbeschwerden.

      Das Radfahren in Graz soll in der Strauchergasse begonnen haben, die Herstellung von Puchfahrrädern. Gleich nebenan dann ein Haus mit Gedenksteinen für eine jüdische Familie. Mir ist die Gegend ein Weh, weil mir eine Freundin erzählt hat, dass sie in ihrer Jugend weit weg von Graz in der Ordination eines Arztes gearbeitet habe, der oft zu ihr gesagt habe, sie solle ja nicht glauben, was jetzt andauernd geredet werde. Denn in den KZs sei in Wahrheit niemand vergast worden. Die Kammern seien nur Waschanlagen gewesen, nichts sonst. Dieser Arzt eben soll dann in der Strauchergasse Liegenschaft besessen haben, habe ich wieder von jemand anderem gehört, und auch gute Kontakte nach Spanien und Lateinamerika, geschäftliche. (Hörensagen wie gesagt, die familiären, unternehmerischen Konkurse auch. Alles sicher nicht wahr, wozu auch, vergangen, vorbei, falls überhaupt jemals wahr.)

      An einem Ende der Strauchergasse die AK. Die ist nicht am Ende, wird nicht wirklich abgeschafft werden. Als ich nämlich vor zwei Tagen vorbeigegangen bin, ist aus der Bibliothek lang laut herausgelacht worden von ganzem Herzen von ein paar Frauen, am Gehsteig davor hat eine Frau auch laut mitgelacht. Bis dato hat es außerdem immer geheißen, die Zweite Republik, die Sozialpartnerschaft, den Sozialstaat haben die Schwarzen und die Roten auf der Lagerstraße von Dachau erlernt, dort ein für alle Male kapiert, dann eben realisiert. Ohne die Braunen.

      Vor einem Haus in der Strauchergasse bleibe ich oft kurz stehen. Das hat am Tor zum Anklopfen einen Löwenkopf, über dem Tor ist das Auge Gottes zu sehen. Auf einem Schild irgendein Fonds, nicht spekulierend, sehr seriös. Das Haus soll schon alles Mögliche gewesen sein, aus dem 17. Jahrhundert stammen. Ein Paradies, wenn man bescheiden ist, habe ich vor Jahren, weiß nimmer, von wem, gehört, der das Haus einmal von innen gesehen hat und, so viel weiß ich noch, immer froh war, dass er überhaupt lebt. Jetzt von außen schaut es gewiss nicht paradiesisch aus. In den Scheibenstaub hat jemand gekritzelt: bist du Arm wir wollen dich helfen. Vor Jahren habe ich, wieder von jemand anders, gehört, dass dort die Prostituierten arm dran waren und alles illegal und ergiebig. Am Anfang in den Jahrhunderten soll das kleine Haus, Gebäude, dem geistlichen Leben, klösterlichen gar, und andererseits der Freimaurerei gedient haben. Als Fleisch- und Selcherei auch. Das kleine Haus wirkt trotz allem erhaben, geistig, als ob es Substanz habe. Unzerstörbar. Gaststätte soll es auch einmal gewesen sein. Herberge.

      »Ort« heißt, von der Etymologie her, das, wo sich alles zuspitzt.

      Die Strauchergasse geradeaus & ums Eck, in: GRAZ. Mit Schriftstellerinnen und Schriftstellern an besondere Orte der Stadt, Klaus Kastberger (Hg.), Graz 2018

       Tag, Monat, Jahr

      Der FPÖ-Politiker, dem ich immer in der Straßenbahn begegne und der immer so wie ein Raufbold dasteht und daherkommt. Heute ist er ausgestiegen, wo ich eingestiegen bin. In der Hand hatte er eine Parteizeitung, von seiner Partei ein Exemplar. Das hat er zornig in den Müllkorb an der Haltestelle geworfen, als gebe er dem Müllkorb eine Ohrfeige. Lustig war das, dass er seine eigene Zeitung weggeworfen hat. Vielleicht habe ich mich ja getäuscht und es war eine andere Zeitung, ein Haltestellengratisblatt, welches die Partei auf der Titel- und auf der Rückseite hatte. Kann ja sein. So oder so hat er vom Mülleimer Satisfaktion verlangt oder zumindest erschien der ihm satisfaktionsfähig.

       Tag, Monat, Jahr

      Aus 6 Milliarden Menschen kann man mittels 33 Fragen einen ganz bestimmten Menschen, eine bestimmte Person, herausfinden. 33 Fragen reichen. 33 Fragen reichen bei 6 Milliarden Menschen. 33 Bits! 33 Ja-Nein-Fragen. Mit jeder Antwort wird die Anzahl der Möglichkeiten halbiert.

       Tag, Monat, Jahr

      Kanzler Kohl soll während der Sitzungen in einem fort Butterstücke gegessen haben. Die kleinen, die man im Hotel zum Frühstück bekommt. Über ein Dutzend hintereinander. Wie andere Leute Bonbons. Kanzler Schmidt soll am liebsten Coca Cola getrunken und in jede Coca 6 Stück Würfelzucker gegeben haben.

       Tag, Monat, Jahr

      Ich warte wieder einmal auf ein Wunder. Ohne das geht es nicht. Es sind auch schon viele geschehen.

       Tag, Monat, Jahr

      Wenn kein Wunder geschieht, ist alles aus. Ich kann nicht mehr.

       Tag, Monat, Jahr

      Gaddafi