Ich zähle jetzt bis drei. Egon Christian Leitner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Egon Christian Leitner
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783990471173
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es gehe in der Politik letztlich doch vernunftgeleitet zu wie eben beim Schachspielen. Aber in Wirklichkeit sei, sagte Böll, alles Chaos. Wie im Krieg. In seinen Kriegstagebüchern hatte der junge Soldat Böll übrigens Folgendes notiert, alles mit Ausrufezeichen: Durst! Wasser! Flieger! Panzer! Jammer! Blut! Feuer! Jammer! Not, Dreck, Elend! Des Weiteren hatte er dort anderentags festgehalten: Gott lebt und Gott wird mir helfen. Wie Sie wissen, sehr verehrte Damen und Herren, war Böll ja wirklich Christ und die wirkliche Lösung für alles war für Böll wirklich Jesus. Gewissenhaft das Schicksal durchbrechen, dazwischengehen, wenn Menschen zerstört werden: Darum ist es Böll immer gegangen. In der Wirklichkeit.

      Zurück zu Brechts Galilei. Dort findet sich folgende berühmte Passage: Meine Absicht ist nicht, zu beweisen, dass ich bisher recht gehabt habe, sondern: herauszufinden, ob [...] Wir werden nicht in Siebenmeilenstiefeln vorwärtsgehen, sondern im Schneckentempo. Und was wir zu finden wünschen, das werden wir, gefunden, mit besonderem Misstrauen ansehen. Also werden wir an die Beobachtung der Sonne herangehen mit dem unerbittlichen Entschluss, den Stillstand der Erde nachzuweisen! Und erst wenn wir gescheitert sind, vollständig [...], werden wir zu fragen anfangen, ob wir nicht doch recht gehabt haben und die Erde sich dreht! Was Brecht seinen Galilei da sagen lässt, ist Popper vom Besten, Popper pur, purer Karl Popper: das Falsifizieren, die Stückwerktechnik, die Fehlerkultur, in der Folge die offene Gesellschaft dann und die demokratischen Wahlen als revolutionäre Vorgänge. Falls Popper im Himmel der heutigen Veranstaltung da hier herunten jetzt gerade eben lauscht, zufällig, wird er wutentbrannt rotieren und, ist zu fürchten, augenblicklich aus allen Engelswolken fallen von oben herab mitten herein in diese Veranstaltung da hier jetzt. Es wäre also meinerseits zugegebenermaßen eine gewisse Vorsicht geboten – der rote Propagandist Brecht soll dasselbe wie Popper proklamiert haben und auch noch zeitgleich mit Popper oder vielleicht gar vor Popper!? Ja, hat er, der Brecht. Es ist so. Aber gehalten, gehalten hat Brecht sich nicht daran. Popper selber hat sich aber auch nicht daran gehalten. Auch das ist so. An sich selber nicht. Und seine Nachfolger haben sich auch nicht daran gehalten. Denn sonst wären, zumal die Popperianer stets einen privilegierten Zugang zur Macht, zur Öffentlichkeit und zum Bildungssystem hatten, Österreich, die EU und die westliche Welt insgesamt nicht in einem derartigen Schlamassel wie jetzt. Mir (was natürlich wirklich nichts heißen will) ist kein einziger Popperianer bekannt, der sich öffentlich oder gar beizeiten gegen den Neoliberalismus gewandt hat. Kein einziger. Den Popperianer George Soros, den Philanthropen, Mäzen, Barack-Obama-Unterstützer, Wohltäter, werden Sie, sehr verehrte Damen und Herren, mir wahrscheinlich sofort entgegenhalten. Den Hedgefondsgiganten. Und Sie werden schon recht haben damit. Jedoch, wie Sie wissen, war Soros, sich öffentlich zu Worte meldend, stets, stets!, strikt gegen jegliche Form der Börsentransaktionssteuer, Tobinsteuer, Börsenspekulationssteuer; genauso strikt war Soros stets gegen jegliche Versuche, stets gegen jegliche Versuche!, die Hedgefonds, die verheerenden Hedgefonds zu kontrollieren, zu reglementieren, in Schach zu halten. Inmitten der Wirtschaftskrise dann soll Soros die Sache gezwungenermaßen ein klein wenig anders gesehen haben.

      Poppers Kritischer Rationalismus, insbesondere die Fehlerkultur, gehört wie gesagt gewiss zum Interessantesten, Wichtigsten, Sympathischsten und Besten, aber das Problem war und ist, dass sich die Popperianer selber nicht an die eigenen Vorschriften halten. In der Wirklichkeit. Der wahrscheinlich wichtigste Förderer Karl Poppers war übrigens Friedrich Hayek. Übrigens auch hat man sich sehr bemüht, Popper zu einem Nobelpreis zu verhelfen. Ich weiß nicht, ob für Literatur auch oder nur für Ökonomie. Für Ökonomie war man sehr zuversichtlich. Wie auch immer – Karl Popper las keine Tageszeitung, hörte kein Radio und sah nicht fern. Und die Probleme der Schulen und des Bildungssystems schrieb er einzig dem seines Erachtens unfähigen Personal dort zu, niemals den unterversorgenden Strukturen oder der gesetzgebenden und Budget erstellenden Politik. Und die Grünen hat Popper überhaupt nicht geschätzt. Und wenn Menschen von Entfremdung redeten, hielt er das für Quatsch. Den Keynesianismus und den Sozialstaat sowieso. Das können Sie, sehr verehrte Damen und Herren, alles bei Popper selber nachlesen. All seine abfälligen Äußerungen.

      Durch das Reden, sehr verehrte Damen und Herren, ersparen wir uns das Sterben. Wir lassen da nämlich unsere falschen Sätze, unsere falschen Ideen, an unser statt untergehen. Sind wie Affen, die von Baum zu Baum springen; ist der Satz, den der Affe tut, falsch, dann ist der Affe auf der Stelle tot oder bald. Für Karl Popper ist das die Funktion der Sprache. Reden erspart Leid. Könnte. Diese Ansicht teile ich. Aber das war es dann auch schon. Und dennoch wie gesagt gehört das, was Popper gesagt hat, zum Interessantesten, Besten und Wichtigsten. Aber es hat sich eben niemand daran gehalten, er selber ja eben auch nicht. In der Wirklichkeit. Ich bin sehr froh und den beherzten und lebensklugen Organisatoren wirklich dankbar, dass es die heutige Veranstaltung gibt. Aber der neoliberale Hayek, der wichtigste und lebenslange Freund und Förderer Poppers, würde, habe ich mir sagen lassen, das, was auf den Einladungskarten steht, Ihren, sehr verehrte Damen und Herren, und meiner auch, sowieso für blödsinnig erklären. Für völlig irrelevant. Ich sag’s hiermit klar und deutlich: Die Liberalen sind entweder nicht willens oder nicht imstande, die Neoliberalen in den Griff zu bekommen. Die Liberalen sind entweder nicht willens oder nicht imstande, die Neoliberalen in den Griff zu bekommen! Die Wortfolge Offene Gesellschaft allerdings hört man mindestens einmal am Tag, ich kürzlich aus dem Mund des Verkehrsministers. Und wenn man, hat mir ein Freund erzählt, im Internet nach der offenen Gesellschaft sucht, erscheint zuerst die österreichische Wirtschaftskammer. Die offene Gesellschaft, heißt’s dort, ist eine Form der sogenannten Personengesellschaft. Sei dem, wie es sei: Selbstverständlich gibt es wahrhaftige Popperianer. Ralf Dahrendorf zum Beispiel war so einer. Der EU-Kommissar Dahrendorf. Maßgebender Repräsentant der Liberalen Internationale war er auch. Als Haider erwirken wollte, dass die FPÖ dort als Mitglied wieder aufgenommen wird, hat Dahrendorf das in aller Öffentlichkeit mit folgender Begründung abgelehnt: Ich habe eine Abneigung gegen schlechte Gesellschaft. Dahrendorf war bekanntlich namhafter Sozialwissenschaftler und außerdem ein wirklicher Kenner des Humanisten Erasmus von Rotterdam. Das ist der, von dem die meisten Leute eigentlich nicht wirklich wissen, wer das war, aber sich glücklicherweise in irgendeinem Förderprogramm oder -projekt befinden, das seinen Namen trägt. Ein wichtiges Lebensmotto des Erasmus hat gelautet, dass es immer einen Ausweg gibt. Der Popperianer Dahrendorf nun hat sich mit Poppers Konzepten immanent und intern auseinandergesetzt und als wichtigen, paradox anmutenden Kritikpunkt die Ansicht vertreten, es könne passieren, dass dieser Gesellschaft da, der offenen Gesellschaft, die Ideen ausgehen und sie nicht mehr aus und ein weiß. Keine Auswege mehr sieht. Was dann? – Also sozusagen: was jetzt?

      Geschätzte Damen und Herren, ich weiß wie gesagt sehr wohl, was auf Ihren Einladungskarten und heute hier auf dem Programm steht und wozu ich als Referent angehalten bin. Ich arbeite es, bilde ich mir ein, hiermit stückwerktechnisch ab (nämlich was wir tun können, wir, wir, wir, tun, tun, tun, können, können, können) und bitte Sie aber zu diesem Zwecke noch für ein paar Minuten um Ihr Vertrauen oder Ähnliches.

      Woran der realexistierende Sozialismus gescheitert ist und warum im Gegenteil der Westen und dessen freie Marktwirtschaft samt offener Gesellschaft obsiegt hat, ist, heißt’s, hinlänglich bekannt. Und das geht eben bekanntlich von der sozialistischen Miss- und Planwirtschaft samt den explodierenden Militär- und Diktaturkosten bis zum Good Guy Ronald Reagan und zum seligen Johannes Paul II. Worüber merkwürdigerweise in diesen Zusammenhängen öffentlich eigentlich nie geredet wird, im Westen, ist Tschernobyl, die dazumal schlimmste Industriekatastrophe der Geschichte. Ende April 1986. Also bereits unter Gorbatschow. Über eine Million Arbeitskräfte, sogenannte Liquidatoren, wurden als chancenlose Himmelfahrtskommandos in die verstrahlteste Zone geschickt. Die materiellen und finanziellen Folgekosten der Tschernobyl-Katastrophe und die völlige Schutzlosigkeit der Bevölkerung damals und das ständige Leib und Leben bedrohende Belogenwerden haben damals das Vertrauen in die Regierung und in das politische System massiv zerstört. Die Menschen haben damals bereits in Massen protestiert, die Teilrepubliken wollten ihre Unabhängigkeiten und Geld war selbstverständlich auch keines da. (Den Rest sozusagen hat dann der Westen erledigt. Unser aller offene Gesellschaft. <Geschlossen die Klammer.>) So kann man die Sache also auch sehen. Belegt und nahegelegt ist besagte Sichtweise im Handbuch des Kommunismus. Selbiges ist keine rote Propagandaschrift, sondern ganz im Gegenteil just so beschaffen wie das Schwarzbuch des Kommunismus. Apropos Kommunismus: