»Im Namen meines Dorfes, das in diesen Tagen die Ehre hat, euer Gastgeber zu sein, begrüße ich euch alle herzlich. Auch ich bin immer noch über das, was unser Freund berichtet hat, aufgewühlt, wenngleich ich etwas länger Zeit hatte, mich mit seiner Botschaft zu beschäftigen.
In der Geschichte der Menschheit hat es immer ruhige und auch sehr bewegte Zeiten gegeben. Die Ankunft unseres Freundes aus dem Süden scheint nun wieder eine bewegte Zeit anzukündigen und ich möchte mich hier vor euch allen auch in eurem Namen bei Schtoll bedanken. Er hat weder Mühen noch Gefahren gescheut, den langen Weg zu uns in den Norden zu kommen, dazu noch in einer schwierigen Jahreszeit.
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger aus Seringat, liebe Nachbarn, lasst euch nicht von der Angst beherrschen, sondern behaltet einen kühlen Kopf und ein warmes Herz. Die Problematik ist so schwerwiegend, dass der Ältestenrat sich auf eine mehrtägige Beratung einrichten wird. Aber jeder hat ja gehört, was Schtoll uns berichtet hat. Wir von Seringat, und das darf ich im Namen aller meiner Mitbewohner sagen, sind bemüht, euch, unseren Gästen, den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen. Für Essen und Trinken ist gesorgt und jeder wird ein Dach über dem Kopf haben. Die meisten von euch kennen sich ja von anderen, erfreulicheren Gelegenheiten und viele haben sogar ihre Familienbande in unserem Dorf geknüpft.«
Mindevol war dem Anlass entsprechend festlich gekleidet. Er trug eine helle Leinenhose, dazu ein dunkelbraunes Lederhemd in der Farbe seiner Augen, das ihm fast bis an die Knie reichte.
Seine weißen Haare und der fast leuchtende Bart ergaben einen starken Kontrast zum Braun des Hemdes.
»Lasst uns der Realität ins Auge schauen, Freunde. Mit unserem Frieden hier, und nicht nur hier, könnte es bald vorbei sein«, fuhr er fort, »da schließe ich mich der Meinung unseres Freundes aus dem Süden an. Nie war unsere Heimat so gefährdet.
Es mag hart klingen, aber es macht keinen Sinn, etwas zu beschönigen. Wie wir gehört haben, schicken sie eine Person oder vielleicht zwei, die etwas aus unserem Teil der Welt entwenden sollen. Wir wissen weder was es ist, noch wo sie suchen werden. Wir wissen auch nicht, wie viele Personen kommen werden. Aber wir werden es herausbekommen. Glaubt mir, wir werden es bald wissen.
Es dürfte klar sein, dass sie nur jemanden einschleusen werden, der mit außergewöhnlichen Fähigkeiten ausgestattet ist. Ich bin mir aber auch sicher, ja ich weiß, dass Menschen unter uns leben, die dieser Person ebenbürtig sind. Darum lasst uns die Herausforderung mutig annehmen. Wir werden nicht tatenlos zusehen. Das würden uns nachfolgende Generationen niemals verzeihen.«
Ein zustimmendes Murmeln ging durch die Reihen.
»Aber jetzt möchte ich unserem Freund aus Verinot das Wort erteilen. Danke, Marenko, dass du gekommen bist.«
Der Bürgermeister von Verinot, der sich heftig zu Wort gemeldet hatte, war inzwischen nach vorne gekommen. Er atmete schwer, denn er musste seinen fülligen Leib durch die Menge drängen. Während er die kleine Bühne erklomm, wischte er sich mit einem Tuch einige Schweißperlen von der Stirn. Es war inzwischen sehr warm im Versammlungshaus. Das Feuer im Kamin und die Menschen verbreiteten ja auch noch ihre eigene Wärme. Mindevol übergab Marenko den Redestab.
»Freunde, Freunde!«, rief dieser. »Ich danke euch für die Einladung. Wenn ich genauer gewusst hätte, worum es geht, hätte ich mehr Leute aus meinem Dorf mitgebracht. Wie tragisch, das alles hören zu müssen. Ich hoffe nur, es ist nicht ganz so schlimm und wir können heute Abend meine beiden Gastgeschenke, die dort draußen noch im Koben quieken, in Ruhe verspeisen. Was immer der Ältestenrat beschließen wird, meine Gemeinde trägt es mit, das darf ich euch als Bürgermeister von Verinot versichern. So haben wir es immer gehalten und so wird es auch bleiben. Möge ein guter Geist mit dieser Versammlung sein und dem Rat helfen, zu einem weisen Entschluss zu kommen.« Damit stieg Marenko wieder von der Bühne herunter und drängte zu seinem Platz zurück.
»Typisch Marenko«, flüsterte Jobol seinem Bruder Effel ins Ohr, »er denkt wieder nur ans Essen.« Alle, die das gehört hatten, mussten lachen.
Bis vor kurzem war auch ein Bewohner aus Verinot Mitglied im Rat gewesen. Leider war er im letzten Herbst bei einer Treibjagd von einem wilden Eber so schwer verletzt worden, dass keine Hilfe mehr möglich war. Bald darauf hatte Marenko angekündigt, sich im nächsten Frühjahr zur Wahl zu stellen. Er würde zwar dann das Amt als Bürgermeister abgeben müssen, aber das Ansehen eines Mitgliedes des Ältestenrates war ungleich höher.
»Marenko, Bürgermeister von Verinot«, ergriff Mindevol wieder das Wort, »ich danke dir für deine Unterstützung und dein Gastgeschenk, das bestimmt seinen Weg in unsere Mägen finden wird. Sei versichert, dass wir hier gründlich beraten, so wie wir es immer tun. Jetzt ist es wichtiger denn je, gemeinsam an einem Strang zu ziehen. Es wird auch alles aufgeschrieben werden, sodass du es später deinen Leuten übermitteln kannst.
Wenn diese Versammlung beendet ist, Marenko, wird noch genügend Zeit für ein ausgiebiges Nachtmahl sein. Auch frisch gebrautes Bier ist genügend vorrätig und der junge Wein wird euch allen munden.«
Viele hatten sich noch zu Wort gemeldet und ihre Meinung geäußert, bevor Jelena die Versammlung dann für beendet erklärte.
»Ich danke euch für eure zahlreichen Beiträge. Wir werden sie bei unserer Beratung berücksichtigen, so wie wir es immer getan haben. Bitte lasst euch trotz der Nachrichten nicht von einem schönen Abend abhalten. Und hebt uns etwas vom Essen auf «, endete sie lachend.
Der Ältestenrat hatte sich direkt im Anschluss an diese Versammlung zu einer ersten Sitzung in Mindevols Haus zusammengefunden.
»Jelena, bitte nimm du in meinem Sessel Platz, da hast du es am bequemsten«, bot Mindevol ihr an, als sie in seinem Haus angekommen waren. »Minka kann sich auch woanders hinsetzen und wir anderen haben am Tisch genügend Platz. Kommt Freunde, setzt euch.« Minka stand von ihrem Lieblingsplatz auf, machte einen Katzenbuckel, schaute sich um, erkannte, dass sie keine Chance haben würde zu bleiben und verließ würdevoll ihren Stammplatz. Sie verschwand in der Küche, wo Mira schon dabei war, etwas für die hohen Gäste herzurichten.
Jelena nahm den Sessel gerne an und als alle anderen auch Platz genommen hatten, sagte sie lächelnd: »Ich hoffe, Minka verzeiht mir das, Mindevol«, und dann: »Wir müssen einen weisen Entschluss fassen. Hast du schon mit deinen Freunden, den Krulls, gesprochen?«
Jeder der hier Anwesenden wusste, dass Mindevol sehr gute Verbindungen zu den Krulls hatte.
»Ja, Jelena, sie haben mich ja über der Ankunft Schtolls informiert, auch über den Grund seiner Reise. Außerdem habe ich einen von ihnen heute Abend auf unserer Versammlung gesehen. Wenn auch nicht unten in der Halle. Er saß oben bei den Jungs auf den Dachbalken.«
»Das dachte ich mir schon, dass sie jemanden schicken«, Jelena musste schmunzeln, »und was meinen sie zu der ganzen Geschichte?«
»Sie nehmen die Sache ebenfalls sehr ernst«, antwortete Mindevol und ließ dabei seinen Blick in die Runde schweifen.
»Sie haben ihrerseits bereits Maßnahmen eingeleitet. Euch kann ich es ja sagen: Sie haben Emurks nach drüben geschickt.«
Ein Raunen ging durch die Runde am Tisch.
»Emurks? Mein Gott, wenn das herauskommt. Die Anderen werden dann nicht lange fackeln. Damit brechen die Krulls den Ewigen Vertrag!« Herzel, mit 40 Jahren das jüngste Ratsmitglied, war vor Erregung aufgesprungen und hatte dabei mit der Faust auf den Tisch geschlagen.
»Beruhige dich, Herzel«, schaltete Jelena sich wieder ein, »die Verträge wurden zwischen Menschen geschlossen, die Krulls sind nicht daran gebunden und werden sich bestimmt auch nicht von irgendwelchen Richtlinien, die von Menschen aufgestellt werden, beeinflussen lassen.«
»Ja, aber die Anderen werden es trotzdem uns in die Schuhe schieben, sie warten doch nur auf einen Anlass! Wenn das stimmt, was Schtoll uns berichtet hat. Die Krulls müssen ihre Leute sofort zurückpfeifen! Mein Gott, wenn das herauskommt, sind wir alle verloren! Dann