Es war eines der wenigen Male, soweit Effel sich erinnern konnte, dass das Gemeinschaftshaus auf dem Dorfplatz von Seringat aus den Nähten zu platzen drohte.
An diesem Tag wollte jeder einen guten Platz ergattern. Es waren nicht nur Seringater da, sondern auch viele Leute aus den anderen Dörfern der Nachbarschaft. Die Meldungen hatten sich wie ein Lauffeuer herumgesprochen, auch weil fast jeder Dorfbewohner Verwandtschaft in den Nachbargemeinden hatte. Das Feuer im großen Kamin hätte gar nicht zu brennen brauchen, die Halle wurde schon durch die Körper der Menschen schnell erwärmt. Einige Jungen waren sogar nach oben auf die Deckenbalken geklettert, was normalerweise verboten war. Niemand dachte heute daran, sie zurechtzuweisen. Die Jungen waren so mit Festhalten und gespanntem Zuhören beschäftigt, dass sie nicht bemerkten, wer sonst noch dort oben saß.
Der Ältestenrat residierte etwas erhöht auf einer kleinen Bühne auf Stühlen mit hohen Lehnen, die mit prachtvollen Schnitzereien verziert waren, und alle sahen sehr würdevoll aus.
Auch Schtoll saß dort oben.
»Zunächst einmal möchte ich mich bei unseren Gastgebern bedanken, die es ermöglicht haben, dass wir heute hier zusammentreffen können«, eröffnete Jelena die Sitzung. Dabei schaute sie zuerst Mindevol an und dann ließ sie ihren Blick lange über die anwesenden Zuhörer schweifen. Alle waren da, die meisten sogar in Ihren Festtagsgewändern. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können und jeder hatte das Gefühl, Jelena schaue nur ihn an. »Ich freue mich, dass ich bei euch sein kann, und ich freue mich auch, dass ihr in solch großer Zahl erschienen seid«, fuhr sie fort.
»Mein Dank gilt auch dir, Jussup«, sie deutete mit ihrer linken Hand auf einen Mann in der vorderen Reihe und lächelte ihm zu, »du hast mich in deinem schnellen Pferdeschlitten hierher gebracht. Zu Fuß hätte ich den Weg durch den Schnee wohl nicht mehr geschafft.«
Und dann an die Versammelten gerichtet: »Sehr warme Decken hatte er auch in seinem Schlitten.« Jussup lächelte verlegen, denn er wusste, dass jetzt alle Augen auf ihn gerichtet waren.
Jelena trug ein schlichtes, bis zu den Knöcheln reichendes, graues Wollkleid. Ihre schneeweißen Haare fielen über die Schultern wie ein Umhang. Ihr braun gegerbtes Gesicht verriet die Schönheit früherer Jahre und erzählte dem Betrachter von Freud und Leid eines erfüllten Lebens.
Der erste Redner war der Gast aus dem Süden. Schtoll berichtete den Versammelten, dass die Anderen sich ungeheurer Technologien bedienten, zu denen nach seinen Erkenntnissen auch die Beeinflussung des Klimas gehörte. So vermutete er, dass man seinem Volk den Regen regelrecht gestohlen und damit eine lange Dürre ausgelöst hatte. Das war zunächst einmal der Anlass gewesen, sich auf den Weg zu machen, um auch die Bewohner anderer Länder zu informieren.
Hier hörte er dann Ähnliches. Es war ihm schließlich gelungen, die Völker des Südens zu einem Rat zusammenzuschließen und dieser hatte ihn und andere mutige Männer auf die Reise geschickt, um andere zu warnen, aber auch um Mithilfe zu bitten.
»Wie ihr ja alle wisst«, legte Schtoll damals auf der Versammlung dar, »haben sich die Völker der Erde nach der Großen Katastrophe für zwei unterschiedliche Wege entschieden und dies in dem Ewigen Vertrag besiegelt. Der andere Teil der Menschheit geht weiterhin die Wege der Technik. 700 Jahre Entwicklung der Technik, man mag sich gar nicht vorstellen, was alles möglich geworden ist. Die Anderen sind davon überzeugt, dass ihr Weg zum Wohle aller ist. Das ist auch ihr Recht, so wie es unser Recht ist, auf unsere Art zu leben. Nun aber greifen sie nach mehr.« Unruhiges Raunen der Zuhörer erfüllte die große Halle.
Schtoll nannte den Weg der Anderen im Verlauf seiner Rede den »Machtweg«. Die Menschen in Effels Teil der Welt lebten mit der Natur in Einklang, so wie dies zu allen Zeiten von den Weisen empfohlen worden war. Schtoll, wie auch der Rat des Südens, befürchteten, dass alle Völker, die natürlich lebten, wieder unterdrückt und sogar vernichtet werden könnten.
Das alles hatte es schließlich schon einmal gegeben. Aber dann fuhr er fort: »Scheinbar überstürzen sich die Ereignisse, Freunde. Es geht nicht mehr nur um die Beeinflussung des Klimas, was ja an sich schon schlimm genug ist. Alles deutet darauf hin, dass die andere Seite dabei ist, den Ewigen Vertrag zu brechen. Wir müssen unsere Kräfte bündeln und uns auf unsere Stärken besinnen. Wir müssen zusammenhalten, denn unser aller Leben hängt vielleicht davon ab! Ich bin einer der Gesandten, die geschickt wurden, die Kunde zu allen Menschen unserer Welt zu tragen.
Ich sage euch, das Damoklesschwert hängt über uns! Es hat eine Zeit lang gedauert, aber wir haben Informationen, denen zufolge etwas Großes in unserem Teil der Welt verborgen ist. Das werden sie suchen.
Madmut, der große, alte Seher des Südens, hat schreckliche Visionen davon gehabt, was passieren würde, wenn die Anderen es stehlen könnten. Unser aller Existenz ist in großer Gefahr. Wir sind uns sicher, Freunde, die Anderen werden den Ewigen Vertrag brechen. Sie werden nicht mit einer Armee kommen. Dazu wären sie zwar in der Lage, aber auf eine kriegerische Auseinandersetzung werden sie es zunächst einmal nicht ankommen lassen. Sie wissen, dass auch wir nicht wehrlos sind. Wir glauben, dass sie ein oder zwei Leute schicken, die hier zunächst einmal suchen und, wenn möglich, das Gesuchte auch gleich außer Landes schaffen sollen.«
Es sei höchste Zeit, so sein Schlussappell bei der Versammlung, dieser unheilvollen Entwicklung Einhalt zu gebieten.
Hier und da war ein »Richtig« aus dem Zuhörerraum zu vernehmen »Dann spüren wir sie auf und werfen sie aus unserem Land!«, rief Soko, der Schmied. Dabei wirbelte er seine riesige Faust wild in der Luft herum, so als würde er jeden Moment zuschlagen wollen. Einige der Umstehenden lachten.
»Das wird nicht einfach sein«, erwiderte Schtoll ganz ruhig.
»Diejenigen, die kommen, werden kein Schild um den Hals tragen und ich bin mir sicher, dass die Verantwortlichen keine Schlafmützen schicken.«
Damit beendete er seine Rede.
Die meisten Leute von Seringat waren erschüttert, einige schüttelten ungläubig den Kopf und ein paar Leute weinten sogar. Dann trat Schweigen ein. Man lebte hier so weit weg von allem in seiner eigenen kleinen, heilen Welt, dass das Wissen um eine mögliche Bedrohung leicht verdrängt wurde.
Jeder ermaß für sich selbst die Tragweite des eben Gehörten. Es war für viele unglaublich. Sollte es wirklich Menschen geben, die aus dem, was passiert war, scheinbar nichts gelernt hatten und sogar bereit waren, den Ewigen Vertrag zu brechen?
Die Große Katastrophe und die darauf folgende Umsiedelung waren zwar schon lange her, aber Schtolls aufrüttelnde Rede verfehlte ihre Wirkung nicht. Jedenfalls galt das für die Mehrzahl der Anwesenden. Die Geschichten, die schon die Kinder in der Schule lasen und hörten, handelten von ihr, und wie es dazu gekommen war. Nie mehr dürfe es geschehen und es müsse alles getan werden, das zu verhindern, endeten diese Erzählungen immer. Und jetzt sollte es wieder soweit sein?
Das Leben hier war zwar nicht immer leicht, aber es war lebenswert und niemand wollte sich das wieder nehmen lassen.
Deshalb bewerteten die meisten Leute die letzte Katastrophe auch nicht negativ, obwohl sie damals so vielen Menschen das Leben gekostet hatte und es weltweit zu solch großen Veränderungen gekommen war. Mindevol sagte immer, die Menschen hätten zu allen Zeiten nur durch Leid gelernt und deshalb hatte alles so passieren müssen.
»In der Tat ist der Anlass so wichtig«, ergriff Jelena erneut das Wort, »dass wir zu einem Entschluss darüber kommen sollten, was wir tun können. Ich möchte aber gleichzeitig auch zu bedenken geben, dass wir uns von der Heftigkeit der Nachrichten nicht zu übereilten Entscheidungen hinreißen lassen dürfen. Weiß man denn schon etwas über den Zeitpunkt? Wann werden sie kommen, Schtoll?«
Jelena brauchte nicht laut zu sprechen, denn wenn sie redete, war es immer mucksmäuschenstill im Raum. Kein Wort wollte man sich entgehen lassen.
»Nein, Jelena«, antwortete Schtoll, »über den Zeitpunkt wissen wir nichts Genaues. Sie werden