Außerdem bekamen Umweltschutz und Klimaerwärmung einen neuen Stellenwert. Die Welt war für einige Wochen vereint.
Was wäre wohl geschehen, Effel, wenn das gleiche Unglück in den reichen Ländern geschehen wäre? Der damalige Mittelmeerraum galt seit langem als besonders gefährdetes Gebiet, gerade für Erd- und Seebeben mit ihren furchtbaren Tsunamis.
Es hätte sich kaum jemand wundern können, wenn dort eine Flut gekommen wäre. Und Europa gehörte damals zu den reichen Gebieten der Welt. Ich sage dir, warum. Es wäre schon damals das Ende gewesen.
Denn die armen Länder hätten nicht in diesem Umfang helfen können, wenn überhaupt. Außerdem darfst du den religiösen Aspekt nicht vergessen. Die meisten Menschen in der Unglücksregion glaubten an ein Karma, also an eine Art Schicksal.
Dieser Glaube ermöglicht es einem viel eher, solche Dinge hinzunehmen, zu akzeptieren, als wenn man auf einen ungerechten Gott schimpft oder glaubt, für seine Sünden bestraft zu werden. Gott hat nie gestraft, das können die Menschen ganz gut selbst. Aber Religion ist ein Thema für sich, Effel, lass uns darüber ein anderes Mal sprechen, wenn du magst.«
»Ja gerne«, erwiderte Effel auf den Vorschlag, »lass uns darüber reden, auch über Schicksal, denn daran glaube ich auch.«
»Die Menschen haben dort gemeinsam alles wieder aufgebaut, schöner und sogar in relativ kurzer Zeit.«
»Ja, ich habe alles darüber gelesen, Perchafta. In unseren Geschichtsbüchern wird dies ja als größte Katastrophe der Menschheit ausführlich beschrieben. Es sollen weit mehr als 300000 Menschen den Tod gefunden haben.«
»Es waren mehr, aber viele wurden nie gefunden, weil das Meer sie mitgenommen hatte. Deswegen tauchten sie in keiner der offiziellen Listen auf, so steht es jedenfalls bei uns geschrieben. Der Schöpfer hat also auch damals ein Zeichen gesetzt und viele Menschen haben das auch verstanden. Sie haben gesehen und erkannt, dass die Welt eins ist, dass man sie gar nicht teilen kann. Sie hätten es auch ohne dieses Unglück wissen können, denn wenn sie aus ihren Satelliten auf die Erde geschaut haben, konnten sie keine Grenzen sehen.
Leider hat es nicht sehr lange angehalten, dann setzten sich wieder die individuellen Machtinteressen der einzelnen Länder durch. Schon zwei Wochen später diskutierten die Politiker über die großzügigen Spenden und missbrauchten dies sogar für ihre Wahlkämpfe. Aber auch schon während des Unglücks zeigten einige Menschen ihr wahres Gesicht. Ohne Rücksicht und Respekt wurden die Toten beraubt, Häuser, soweit sie noch standen, wurden geplündert. Kannst du dir vorstellen, dass es Leute gab, die einige Tage nach dem Unglück wieder dort Urlaub machten und aus ihren Liegestühlen die Aufräumarbeiten beobachteten? Also es kann niemand sagen, die Menschen hätten ihre Chancen nicht gehabt. Du siehst, Effel es musste einfach so kommen, wie es dann gekommen ist.«
»Interessant, dass du das alles auch als Chance betrachtest. Ich kenne jemanden, der sieht es ähnlich. Aber von welchem Plan sprichst du da, Perchafta?«
»Wenn die Menschen so weit sind, wird sich dieser Plan ihnen offenbaren. Komm, lass uns weitergehen.«
Am Nachmittag kamen sie an Kirschbäumen vorbei. Die Äste bogen sich schwer von den reifen Früchten. Stare, die sich an den Kirschen gütlich getan hatten, flogen verärgert auf. Sie würden später wiederkommen.
Perchafta brauchte nur eine Handvoll davon zu essen, um satt und zufrieden dreinzuschauen. Aber auch für Effel war genug da. Nach diesem süßen Genuss setzten sie sich unter den größten Baum und Effel hatte wieder nur einen Blick für die zauberhafte Landschaft.
»Komm, lass uns weitergehen«, meinte Perchafta nach einer Weile, »und erzähle mir von diesem Schtoll, Effel. Du hast doch eine Zeit lang mit ihm verbracht?«
Effel wunderte sich nicht mehr über das, was dieser Krull alles zu wissen schien, und erzählte.
»Schtoll wohnte damals im Haus des Korbmachers Sendo und dessen Frau Balda. Die beiden hatten genügend Platz, denn sie haben keine Kinder bekommen. Das Besondere am Hause Sendos aber ist eigentlich der Garten, den müsstest du mal sehen, Perchafta. Bei schönem Wetter sitzt Sendo bei der Arbeit zwischen all den bunten Blumen und unterhält sich mit den Bienen und den Schmetterlingen, so wie du vorhin.
Manche Leute halten ihn ja für schrullig, ich aber glaube, dass er einfach besonders ist. Man kann sich mit ihm gut unterhalten.
Nach dem Vollmondfest, bei dem sie sich gleich angefreundet hatten, hatte Sendo Schtoll eingeladen bei ihnen zu wohnen, solange er wolle. Da ja Winter war, hat Schtoll zunächst nicht viel von dem Prachtstück um das Haus seiner Gastgeber gesehen, sondern erst später, denn er blieb bis zum Mai.
Ich war mit Schtoll viel unterwegs, um ihm die Heimat zu zeigen. Bei unseren Wanderungen oder bei der Jagd hatte ich Gelegenheit, ihn näher kennen zu lernen. Er wies mich auch in den Umgang mit seiner Armbrust ein und ich bin ein ganz guter Schütze geworden. Schtoll beneidete uns um den Wildreichtum der Wälder, er war ein guter Jäger, wenn er auch noch nie im Schnee gejagt hat. Er war ganz fasziniert, wie einfach es zum Beispiel im Schnee ist, die Spuren zu verfolgen. Er hatte auch noch nie Schneeschuhe gesehen und wünschte sich, sie schon bei seiner Hinreise gehabt zu haben. Es war sicher eine enorme Leistung, ohne diese hilfreichen Geräte zu uns zu gelangen.
Sein Heimatland weit unten im Süden muss, seinen Berichten nach, karger, schroffer und sehr unwirtlich sein. Raue Winde und die Glut der Sonne hätten das Gesicht seines Landes geformt, meinte er einmal. Vor vielen hundert Jahren sei sein Land von riesigen Regenwäldern bedeckt gewesen, wie er wusste. Man konnte merken, dass er seine Heimat liebte wie ich meine. Er erzählte mir von einer langen Trockenheit, die einem großen Teil seines Volkes das Leben gekostet hatte. Das muss schrecklich sein und ich hoffe, sie haben inzwischen auch wieder Regen gehabt. Irgendwann werde ich ihn dort besuchen.
Als Sohn eines alten Fürstengeschlechts fühlte er sich für sein Volk verantwortlich und machte sich eines Tages auf den Weg, die Ursache für diese lang anhaltende Dürre zu finden. So kam er durch viele Länder und lernte deren Völker kennen. Das, was er von seiner Reise berichtete, war für mich unendlich interessant und es erinnerte mich manchmal an die Erzählungen meines Großvaters. Ich selbst war ja bisher nie weiter aus meiner Heimat herausgekommen. Aber das soll ja vielleicht jetzt anders werden.«
Kapitel 8
Aufgrund der Nachrichten Schtolls hielten Mindevol und andere es für erforderlich, die Ältesten aus den anderen Dörfern zusammenzurufen, um gemeinsam zu beratschlagen, was zu tun sei. Die Kuffer lebten in vielen, teilweise weit verstreuten kleinen und großen Dorfgemeinschaften. Früher hatten auch sie in monströsen, anonymen Städten gewohnt, die die ganze Erde überzogen hatten. Der Ältestenrat war die oberste Instanz, wenn es um die Regelung übergeordneter Angelegenheiten ging. Dorfinterne Dinge waren jeweils Sache des Dorfältesten oder eines gewählten Bürgermeisters. Die Versammlungen fanden an wechselnden Orten statt und diesmal war Seringat an der Reihe.
Die Zusammenkunft wurde für den April einberufen, in der Hoffnung, dass dann der Winter langsam zu Ende gehen würde.
Die Bewohner von Seringat freuten sich, bei diesem Ereignis die Gastgeber zu sein, obwohl schnell durchgedrungen war, dass es sich um eine sehr ernste Angelegenheit handelte. Die Einberufung des Ältestenrates war immer ein großes Ereignis, diesmal ganz besonders. Obwohl der Rat »Ältestenrat« hieß, waren seine Mitglieder nicht alle alt. Es waren verdiente Mitbürger, die jeweils in ihren Dörfern von den Mitbewohnern für die Dauer von zwei Jahren gewählt wurden, aber auch wieder gewählt werden konnten. Seitdem Effel denken konnte, war Mindevol Mitglied dieses Rates. Der Ältestenrat bestand aus vier Männern und vier Frauen. Das älteste Mitglied war Jelena aus Gorken, eine Frau von 92 Jahren und schon 20 Jahre lang die Vorsitzende der Ratsversammlungen. Bei Abstimmungen zählte ihre Stimme nur bei Stimmengleichheit doppelt.
Gorken lag an der südlichen Grenze des Landes, das die Kuffer bewohnten und es war für die alte Frau sicher eine anstrengende Fahrt gewesen, weil ja immer noch Schnee lag.
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