Die Verwundung Ihres Kindes war heftig, und das wird es Ihnen zeigen!
Ihr Kind schleppt vermutlich schon einen ganzen Ballast an unverarbeitetem seelischem Verdruss mit sich herum. Wenn Sie ihm dann Ihre liebevolle Unterstützung schenken, sieht es vielleicht zuerst so aus, als ginge der Schuss nach hinten los. Denn Ihr Kind schlägt womöglich um sich, krümmt sich und schreit im Griff der Gefühle, die es aus dem Gleichgewicht gebracht haben. Ihr Zuhören bringt jedoch Heilung. Bleiben Sie einfach unterstützend und beschützend bei ihm. Nachdem Sie Ihr Kind durch seinen Gefühlsausbruch begleitet haben, entspannt es sich vielleicht für ein letztes Aufschluchzen in Ihren Armen oder nimmt ein paar zittrige Atemzüge und wird einfach still. Es wird sich erleichtert fühlen. Falls es nicht einschläft, wird Ihr Kind vielleicht eine Weile über Sie und seine Umgebung nachsinnen. Wenn es gähnt, zu kichern anfängt oder um ein Glas Saft bittet, als hätten Sie die letzte halbe Stunde locker miteinander geplaudert, dann haben Sie beide Ihre Aufgaben erfüllt. Der Tag kann nur besser werden.
Zuhören ist einfach, aber nicht leicht
Inzwischen denken Sie vielleicht: „Vergiss es! Ich will bei einem solchen Anfall meines Kindes keinesfalls in der Nähe sein!“ Natürlich erfordert es eine große Portion Mut, Ihrem aufgebrachten Kind zum ersten Mal auf diese Weise zuzuhören. Ich würde hart arbeitenden Eltern nie etwas so Herausforderndes vorschlagen, wäre ich nicht von seiner Wirkung überzeugt. Wir haben gesehen, wie es bei zahlreichen Kindern aus allen Familientypen und unterschiedlichen Kulturkreisen funktioniert. Was den „Hand in Hand“-Ansatz so besonders macht, ist eine Strategie des Zuhörens für Sie ganz persönlich. Sie können sich mit anderen Eltern als Partner über Gegenseitiges einfühlsames Zuhören Unterstützung verschaffen. Auf diese Weise schaffen Sie einen Ort, an dem Ihre eigenen Gefühle gehört und respektiert werden. Dann werden Sie für das Gefühlsleben Ihres Kindes echtes Gespür entwickeln. Und es wird Ihnen helfen, Ihr Kind schließlich sogar gerne durch seine besonderen Gefühlsmomente hindurch zu geleiten.
Sobald Sie den Gefühlen Ihres Kindes wirklich zuhören, dürfen Sie die folgenden problematischen Methoden vergessen: Schimpfen, Strafpredigt, Forderungen, Bestrafung, Bestechung, die Stimme erheben, Drohungen, Konsequenzen, Sternchenlisten oder andere Belohnungen für erwünschtes Verhalten. Sie müssen Ihr Kind nicht einschüchtern. Sie werden nicht das Bedürfnis haben, all sein Treiben zu kontrollieren. Sie werden Grenzen setzen, ohne sich dabei wie ein Spielverderber zu erleben. Sie werden merken, wie segensreich sich sinnvolle Grenzen auf Ihr Kind auswirken, wenn es aus der Fassung geraten ist.
Wenn Sie sich mit Ihrem Kind über die Zuhörstrategien verbinden, dann wird in Ihre Familie Folgendes vermehrt einziehen: Lachen, Spaß, Kooperation, Vertrauen, Liebe, Kreativität und Herzlichkeit. Sie werden erleben, wie Ihr Kind seinem guten inneren Kern stärker vertrauen wird und auch Sie selbst mehr Vertrauen in Ihren eigenen gewinnen. Wir sind dafür geschaffen, miteinander verbunden in behaglicher Nähe zu leben.
Wie Sie die Hilferufe Ihres Kindes verstehen
Eltern, die gerade viel zu tun haben, erleben den Versuch ihres Kindes, Verbindung aufzunehmen, womöglich als bewusste Provokation. Aber solange es dem Kind nicht gelingt, mit einem fürsorglichen Erwachsenen Verbindung aufzunehmen, wird es sich weiterhin bemerkbar machen. Ein sich isoliert fühlendes Kind kann sich aufführen wie das dickköpfigste, pingeligste, weinerlichste, undankbarste, aggressivste und zappeligste Kind der Welt. Leider sieht ein einzelner Elternteil nicht, dass Kinder überall auf der Erde ihren erschöpften Eltern genau die gleichen Signale senden. Ihre Botschaft lautet: „Seelischer Notstand! Ich fühle mich von dir abgetrennt!“ Diese Ansage kleidet sich eben in Verhalten statt Worte. Bevorzugen Sie jedoch eine schriftliche Nachricht, dann würde die Botschaft Ihres angriffslustigen und widerspenstigen Kindes in feinsäuberlichen Druckbuchstaben wahrscheinlich folgendermaßen lauten:
Liebe Mama oder lieber Papa!
Danke, dass du meine Nachricht liest. Ich strenge mich so an, deine Liebe zu spüren, aber es klappt nicht. Mich so weit weg von dir zu fühlen, ängstigt mich. Würdest du dich bitte baldmöglichst zu mir setzen und mich zu dir einladen? Können wir zusammen ein wenig Spaß machen, oder könntest du wenigstens den Arm um mich legen, damit ich deine Liebe spüren kann? Bitte halte mich freundlich auf, damit ich keinen Blödsinn mache. Ich will wirklich keine Schwierigkeiten machen. Mit deiner Hilfe wird bestimmt alles viel besser.
Ich liebe dich unendlich.
Dein (momentan) weit entferntes Kind.
Die echte Nachricht einer Erstklässlerin an ihre Eltern lautete so:
„Ich liebe euch, wenn ich verrückt, traurig, ärgerlich, enttäuscht, glücklich, stolz und all die anderen Gefühle bin. Ich liebe euch sogar noch mehr, als ich will. Ich liebe euch, wenn ich sage, ich hasse euch. Und das meine ich ernst. Ich liebe euch.“
Zwar steht nicht gerade ein Übersetzer bereit, sobald Sie das Verhalten Ihres Kindes auf die Palme bringt, aber vielleicht finden Sie die folgende Liste praktisch. Mit diesen Notsignalen rufen nämlich alle Kinder um Hilfe:
Der „zerbrochene Keks“1
Manchmal genügt eine Kleinigkeit wie die abgebrochene Ecke eines Kekses und der Legostein im Heizungsgitter, um bei Ihrem Kind Tränen oder einen Wutanfall auszulösen. Wahrscheinlich ist das sogar der häufigste Ruf nach Hilfe und Aufmerksamkeit. Dieses Signal bedeutet: „In mir haben sich so viele Gefühle angestaut, dass ich nicht mehr kann. Jede Kleinigkeit macht mich unglücklich. Ich brauche dich in meiner Nähe, bis ich diesen Aufruhr in mir losgeworden bin. Er verdirbt mir alles.“ Ein riesiger Gefühlsausbruch als Folge eines winzigen Auslösers wurzelt vermutlich größtenteils in einer problematischen Erfahrung aus der Vergangenheit. Der zerbrochene Keks oder verlorene Legostein erinnert Ihr Kind bloß an diese frühere, schwierigere Zeit. Der scheinbare Lärm um nichts ist für Ihr Kind aber eine wertvolle Gelegenheit zur Hilfe für seine Heilung. Sie können sein Gefühl für Verbundenheit mit Ihnen wiederherstellen und in ihm die Tendenz zu künftigem ausufernden Verhalten abbauen, indem Sie Verbindung und Zuhören anbieten. Seien Sie in diesem Gefühlssturm die Zuflucht Ihres Kindes und es wird seine Gelassenheit wiederfinden.
Der „verdorbene Ausflug“
Dieses Signal zeigt sich, wenn Sie Ihrem Kind extra Zeit und Aufmerksamkeit widmen, oder sich mit Freunden oder Verwandten treffen. Irgendwann während dieses besonderen Ereignisses wird sich Ihr Kind über eine Kleinigkeit aufregen. Das bedeutet: „Bei diesem gemeinsamen Spaß krieg ich ganz viel Hoffnung. Wir sind uns jetzt so nah, da mag ich dir von dem scheußlichen Gefühl erzählen, das ich manchmal spüre. Bitte hilf mir damit!“ Fast wirkt es so, als würden durch die Geborgenheit und Freude des Augenblicks abgestandene Gefühle mit der Wucht eines Löschwasserstrahls nach draußen gespült. Natürlich geschieht das gerade dann, wenn Sie darauf hoffen, dass Ihr Kind kooperiert.
Der „verdorbene Ausflug“ ist ein so häufiges Phänomen, dass Sie direkt darauf warten können. Geburtstagsfeiern, Familientreffen, Festtage und Ausflüge zu Sehenswürdigkeiten lösen in fast jedem Kind solche Ausbrüche aus. Deswegen ist es jedoch nicht undankbar. Ihr Kind spürt einfach das Wohlwollen um sich herum, und sein Instinkt meldet, dass damit ein guter Zeitpunkt für seinen inneren Hausputz gekommen ist!
„Hilf mir aufzuhören!“
Noch so ein Klassiker. Angenommen, Sie sind mit tausend Dingen beschäftigt, besorgt, in Eile oder haben Besuch und verlieren Ihr Kind immer weiter aus den Augen. Vielleicht hat es Sie schon ein paar Mal um Aufmerksamkeit gebeten und Sie haben es abgewimmelt in der Hoffnung, sein Problem löse sich von selbst. Vermutlich hatten Sie aber einfach alle Hände voll zu tun und konnten nicht auf Ihr Kind eingehen.