Noch ist nicht ganz geklärt, wie Weinen, Wutanfälle, Zittern, Schwitzen und Lachen die emotionale Spannung in der Psyche eines Kindes abbauen. Die Erkenntnis, dass diese Aktivitäten normal sind und zu einem angeborenen Heilungsprozess gehören, ist recht neu. Zwar wissen wir nicht, wie er funktioniert, aber dass er funktioniert. Was auch währenddessen im Gehirn in den Neuronen geschieht, ein weinendes Kind wird jedenfalls seine Denkfähigkeit wiedergewinnen, wenn ihm dabei jemand liebevoll zuhört. Und allmählich bewältigt es seine schwierigen Situationen immer besser. Indem Sie Ihrem Kind zuhören, werden Sie an ihm Veränderung und Wachstum erleben. Sein Verhalten wird seltener entgleisen. Auch wird es ihm immer besser gelingen, Ihnen seine Bedürfnisse rechtzeitig mitzuteilen.
Ganz allein kann sich Ihr Kind allerdings nicht von seinen Verletzungen erholen. Schließlich ist es vor allem ein soziales Wesen und Sie sind sein Fels, sein Anker, sein sicherer Hafen. Es braucht Ihre Hilfe, um die Folgen der Verletzung loszuwerden. Also lassen Sie die Bereitschaft zur Verbindung in Ihr Kind hereinströmen, während es die Gefühle herausströmen lässt, die seine Problemlösefähigkeit und Lebensfreude beeinträchtigen.
Die folgende Geschichte zeigt, was geschehen kann, wenn Sie Ihrem Kind während seines Gefühlsausbruchs liebevoll zuhören, anstatt es einfach zu beruhigen.
Mein vierjähriger Enkel Reggie bekam Besuch von einem Kind aus seinem Kindergarten. Der Junge wollte das gar nicht und Reggie selbst passte der Besuch ebenso wenig, aber der Vater des Kindes brauchte eine Kinderbetreuung und die Eltern hatten es so vereinbart. Ich hielt mich unauffällig bei den Jungs auf. Sie hatten überhaupt keine Lust, miteinander zu spielen. Vergeblich versuchte ich, sie hin und wieder aufeinander zu zubewegen. Jeder spielte allein vor sich hin; sie redeten noch nicht einmal miteinander und das ging über eine Stunde lang.
Dann stieß der Freund zufällig an eine von Reggie und seinem Vater aufwendig konstruierte Murmelbahn und sie krachte zusammen. Da brach Reggie in verzweifeltes Weinen aus. Ich nahm ihn auf den Schoß. Er heulte: „Nie, nie mehr kann ich das wieder aufbauen! Sie war so gut. Jetzt ist sie für immer hin!“ Ich sagte: „Ja, mein Schatz, da hast du wohl Recht“, worauf er erst recht losheulte. Ich wollte ihm jedoch Gelegenheit geben, sein Werk vollständig zu betrauern. Der Freund spielte leise in der Nähe, hörte aber genau zu, ohne etwas zu antworten. Ich sagte: „Ethan hat deine Bahn nicht absichtlich angestoßen. Das war ein Unfall. Er wollte sie nicht umwerfen.“
Reggie heulte etwa zwanzig Minuten lang. Als er sich ausgeweint hatte, bot ich den beiden einen Imbiss an. Da griffen Sie gerne zu. Dann hatte Reggie die Idee, Verstecken zu spielen. Kichernd und jauchzend rannten die zwei durchs Haus, weil es mir ja „so schwer fiel“, sie aufzuspüren. Nun waren die beiden doch noch vereint. Erst klemmten sie sich eng nebeneinander in einen kleinen Schrank, dann quetschten sie sich hinter eine Tür. Wir spielten das eine ganze Weile. Als schließlich Ethan abgeholt wurde, bat er seinen Vater: „Darf ich noch bleiben? Ich mag nicht nach Hause!“ Auch Reggie wollte ihn noch dabehalten.
Weinen und Wutanfälle sind keine nutzlosen Verhaltensweisen! Ihr Kind tut das Allerklügste, wenn es einen Trotzanfall zulässt. Im Bemühen, wieder klar zu denken, schüttelt es so seine emotionale Spannung ab. Und während Ihr Kind weint, haben Sie direkten Zugang zu seinem wehen Herzen. Jetzt sind Sie am Zug! Was Sie für ein aufgebrachtes Kind tun, zeigt Ihre Liebe zehnmal stärker als zärtliches Knuddeln und Streicheln an guten Tagen. Ihr Kind sehnt sich sogar trotz ablehnender Worte nach Ihrer Hilfe: „Geh weg! Ich mag dich nicht.“ Wenn Sie seinen Gefühlen zuhören können und liebevolle Zuwendung anbieten, wird es nach seinem Wutanfall ein anderer Mensch sein.
Auch alte Verletzungen können ihr Kind aus der Fassung bringen
Was aber, wenn Ihr Kind plötzlich grundlos verrücktspielt? Nach einem vergnüglichen Tag sperrt es sich beispielsweise bockig gegen das Baden. Oder es spielt vollkommen zufrieden vor sich hin, bis Sie mit Ihrer Frau ein Gespräch beginnen. Dann springt es auf und geht lauthals dazwischen. Verhält es sich nicht einfach unreif oder vielleicht sogar manipulativ?
Nein, sogar sehr junge Kinder können beim Baden kooperieren oder ihre Eltern ungestört reden lassen, wenn sie sich sicher und verbunden fühlen. In solchen Fällen wird Ihr Kind wahrscheinlich von einer früheren Verletzung gequält.
Als Säugling und Kleinkind kann ein Kind seine verletzten Gefühle nicht vollständig abladen. Ungelöstes speichert es als emotionale Erinnerung. Die dort gespeicherten Verletzungen versucht es zu ignorieren und die meiste Zeit bleiben sie weggepackt. Doch können diese Gefühle auch unerwartet an die Oberfläche steigen. Sobald das Kind eine Situation erlebt, die dem früheren verletzenden Moment in irgendeiner Weise ähnelt, tauchen sie auf! Bilder, Geräusche und das Gefühl von damals überfluten die Psyche des Kindes erneut. Dann regieren die Emotionen. Ihr Kind kann eine Weile nicht denken und nimmt Ihre Hilfe nicht bewusst wahr.
Zum Beispiel entschloss sich eine mir bekannte alleinerziehende Mutter dazu, ihrer sechsjährigen Tochter dabei zu helfen, die Angst vor dem Schlafen im eigenen Bett zu überwinden. Dieses stand nur wenige Meter vom Bett der Mutter entfernt. Schon immer hatte sich die Tochter davor gefürchtet, in getrennten Betten zu schlafen. Nach ihrer Ankündigung saß die Mama nah bei ihrem Kind und hörte lange zu, während die Tochter schluchzte und sich an sie klammerte. Nachdem sich das Kind eine Stunde später noch immer nicht beruhigt hatte, schliefen die beiden wie gehabt in einem Bett. In der zweiten Nacht wurde aus dem Weinen Zappeln und Zittern. Irgendwann schrie das Mädchen: „Es tut weh! Es tut weh!“ Als die Mutter nachfragte, antwortete sie: „Der Bienenstich!“ In jenem Sommer war sie von einer Biene ins Bein gestochen worden, also schaute sich die Mutter diese Stelle an, aber ihre Tochter schlug angstvoll um sich und sagte: „Nicht da! Hier!“, und deutete aufgeregt auf ihren rechten Handrücken. Genau an dieser Stelle wurde sie wenige Stunden nach der Geburt sieben Mal von einer unerfahrenen Klinikassistentin gestochen, bis endlich erfolgreich eine verordnete Infusion gelegt war. Der Vorschlag, im eigenen Bett zu schlafen, hatte riesige Angst ausgelöst, die vielleicht von diesem traumatischen ersten Tag ihres Lebens herrührte. Die Mutter hörte weiter zu, hielt ihre Tochter beruhigend fest, bis sich der Schrecken gelegt hatte. Nach diesem Ausweinen und dem zuversichtlichen Zuhören der Mutter schlief das Mädchen schnell im eigenen Bett ein. Später gab es mit diesem Thema keine Probleme mehr.
Wenn Ihr Kind gerade nicht denken kann, müssen Sie zum Glück nicht genau wissen, wodurch ihr Kind getriggert wurde und aus welchem Grund. Sie müssen es nur wahrnehmen, ihrem Kind nah sein, falls nötig Grenzen setzen und zuhören. Wie das geht, werden Sie auf den folgenden Seiten lernen.
Verbinden Sie sich mit ihrem Kind
Sie können Ihrem Kind besonders wirkungsvoll Ihre Liebe zeigen, wenn es seine Gefühle ausdrückt. Tatsächlich sind emotionale Ausbrüche eine gute Gelegenheit, sich mit Ihrem Kind zu verbinden. Dabei gibt es für jeden eine Aufgabe.
• Ihre Aufgabe beginnt, sobald Sie bemerken, dass das Verhalten ihres Kindes entgleist. Gehen Sie zu ihm, um schädigendes Verhalten zu unterbinden, und hören Sie zu. Wenn Ihnen die Schwierigkeiten Ihres Kindes früh genug auffallen und Sie sich sofort einschalten, teilt ihm das mit: „Ich sehe dich“, und hält es von noch drastischeren Verhaltensweisen ab.
• Ihr Kind hat die Aufgabe, seine emotionale Erregung abzuladen, und es wird dies tun, sobald es Ihren fürsorglichen Blick bemerkt.
• Sie haben die Aufgabe, Ihr Kind zu beschützen und sich mit ihm zu verbinden, während die Gefühle heftiger werden. Vielleicht müssen Sie es davon abhalten, sich selbst oder Ihnen wehzutun, falls es um sich schlagen oder treten muss, um sich von aufgestauter Spannung zu befreien.
• Ihr Kind hat die Aufgabe, Ihnen all seinen Schmerz zu zeigen. Indessen nimmt es Ihr Angebot der heilenden Verbindung in sich auf.
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