An einem heißen Sommernachmittag war ich mit meinen sechsjährigen Zwillingstöchtern zu Hause und wir suchten eine Beschäftigung. Ich dachte an Papierbasteleien und forschte nach einer Anleitung für Ketten aus Papierfiguren und Schneeflocken. Warum gerade Schneeflocken? Alles, was bei über 42°C Außentemperatur an Kühle erinnert, tut gut.
Ich skizzierte auf dem Papier die Umrisse von Buben oder Mädchen und meine Töchter schnitten sie aus. Das war zunächst ein ganz netter Zeitvertreib, aber sehr bald reagierte eine meiner Töchter sehr frustriert. Das geschieht jedes Mal, wenn sie etwas nicht so fix lernt, wie sie es gern möchte. Sie gibt dann oft gleich ganz auf und bezeichnet sich als Dummkopf. Mir tut es weh zuzuschauen, wenn dieses aufgeweckte Kind das Handtuch wirft. Ich hatte schon im Gespräch mit einem einfühlsamen Zuhörer meine eigenen Gefühle zu diesem Thema bearbeitet und allmählich zahlte sich das aus.
Das Ausschneiden der Papierfiguren war schwierig, weil wir durch acht Papierlagen schneiden mussten. Meine Tochter bestand darauf, dies alleine zu tun, was ihr mit der Kinderschere und den kleinen Händen nicht gelang. Ihr Frust war so groß, dass sie die Bastelei mit den Worten, „Ich hör auf!“, auf den Tisch warf.
Ich erkannte ihr übliches Verhaltensmuster, und statt sie zu trösten, damit es ihr besser ging, oder die Aufgabe für sie zu erledigen, wartete ich ruhig ab. Sie ließ sich auf den Boden fallen und bekam dort einen Trotzanfall. Schreiend und weinend zeigte sie mir ihre Hilflosigkeit. Zehn bis fünfzehn Minuten blieb ich ganz Ohr für sie.
So rasch das Ganze angefangen hatte, war es wieder vorüber. Ich beobachtete, wie sie sich beruhigte, und obwohl ich davon überzeugt war, dass es ihr nun besser ging, glaubte ich nicht, dass sie die Bastelei fortsetzen würde.
Aber ich irrte mich. Sie setzte sich wieder an den Tisch, bat um die Schere und setzte ihr Werk fort. Sie stellte nicht nur diesen Satz Papierfiguren fertig, sondern schnitt noch eine weitere Stunde lang Figuren aus. Am Schluss hatte sie ein Mädchen, einen Buben, Mama, Papa und noch zwei weitere Figurenketten ausgeschnitten. Ich war überrascht und erleichtert zugleich!
Sie war nun richtig stolz auf sich und ihre Fingerfertigkeit. Und ich lernte etwas Wichtiges. Die Strategien funktionierten tatsächlich wie versprochen. Ich fühlte mich befähigt, ihr zu helfen. Endlich wusste ich, wie ich sie erreichen konnte, wenn sie dicht machte: einfach zuhören.
Ihrem Kind zu erlauben, ein heftiges Gefühl von Schmerz herauszuschmettern wie diese Mutter, ist eine Möglichkeit, wie Sie durch Bleib-Ganz-Ohr Ihre Geduld schonen können. Dann versuchen Sie sich nicht länger an der nahezu unlösbaren Aufgabe, ein frustriertes oder unglückliches Kind zufrieden zu stellen. Stattdessen sind Sie aufmerksam und unterstützen Ihr Kind beim Abladen seines Ärgers und der Klärung seines Denkens. So gehen Sie sorgsam und wirkungsvoll mit Ihrer Energie um und wecken die Selbstheilungskräfte Ihres Kindes.
Hoffentlich erleichtert es Sie, zu erfahren, dass ein Trotzanfall eigentlich eine kluge Idee Ihres Kindes ist. Es will lernen und weiß genau, wie es sich selbst helfen kann, wenn Hoffnung und Geduld ihren Tiefpunkt erreicht haben.
Bleib-Ganz-Ohr zur Heilung der Angst Ihres Kindes
Wenn Ihr Kind schreit, zittert und schwitzt, Gegenstände zerschmettert oder in sich den unwiderstehlichen Drang verspürt, zu schlagen, zu kratzen und andere zu verletzen, dann ist es dazu bereit, innere Ängste zu heilen. Angst ist eine unnachgiebige, Ihr Kind bis ins Mark erschütternde Emotion. Sobald Angst ausgelöst wird, fühlt es sich in seiner ganzen Existenz bedroht und entweder flieht es oder greift jeden an, der sich ihm zu nähern wagt. Obwohl der Umgang damit heikel ist, gehört auch das Ablassen von Angst zum emotionalen Heilungsprozess. Angst wird über Schwitzen und Körperwärme freigesetzt (oder im Falle blanken Entsetzens über feuchtkalte Haut), über Zittern, lautes Schreien, sich winden, um sich schlagen, Panik oder Gezappel.
Arbeitet sich ein Kind durch Angst hindurch, wird es meistens die Augen zusammenkneifen und laut schreien, aber ohne viele Tränen. Wenn Kinder um ihr Leben fürchten, ist die Angst viel zu groß, um Kummer zuzulassen. Die Aufmerksamkeit richtet sich aufs Überleben. Aber wenn Sie Ihrem Kind bei diesem tief gehenden emotionalen Prozess beigestanden haben, wird schließlich das Angstgefühl vergehen, Ihr Kind lehnt sich am Ende vielleicht sogar ganz entspannt an Sie, wird schließlich gewahr, dass Sie es die ganze Zeit über beschützt haben. Es wird erleichtert schluchzen, wenn es endlich Ihre Fürsorge in sich aufnimmt. Dann wird es vielleicht einschlafen oder wieder lebhafter werden, sich umschauen, einen Grund zum Lachen finden und munter und hoffnungsfroh in seinen Tag gehen.
Sie dagegen werden sich wie durch die Mangel gedreht fühlen. Wenn sich ein Kind zutiefst bedroht erlebt, löst das in den Eltern die höchste Alarmstufe aus. Man braucht Mut, um daran festzuhalten, dass die Gefühle Ihres Kindes Überbleibsel längst vergangener Schwierigkeiten sind. Sie brauchen selbst regelmäßig Termine mit einem einfühlsamen Zuhörer, wenn Sie ein Kind haben, dass Ihnen Hilferufe sendet, weil es unbedingt Unterstützung beim Loswerden seiner Angst benötigt. Bitte lesen Sie die Abschnitte Was Sie wissen müssen in Kapitel 11, Ängste auflösen, und Kapitel 12, Aggressionen überwinden, für eine Zusammenfassung von Elternerfahrungen mit den Ängsten ihrer Kinder und wie sie ihnen dabei helfen, sich wieder davon zu erholen.
Geduldig und liebevoll angewandt, wird Bleib-Ganz-Ohr helfen, die Basis für ein angenehmes Familienklima zu legen. Sie werden die starke Heilwirkung Ihrer zuhörenden Fürsorge erleben. Dabei ist es wichtig, den Einsatz von Bleib-Ganz-Ohr mit den anderen Zuhörstrategien auszugleichen, damit Grenzen, Lachen und die Zeit im Einzelkontakt ebenfalls ihren Platz im Familienalltag einnehmen. Sie werden merken, dass Ihr vorgelebtes Beispiel des Ganz-Ohr-Bleibens allmählich dazu führt, dass auch Ihr Kind anderen respektvoll und herzlich begegnet. Die heilende Wirkung dieser Zuhörstrategie wird Sie zum Staunen bringen.
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