Gemeinsam auf dem Weg
Unser gesamter Weg zum Erwachen, einschließlich des tief greifenden Beitrages, den Meditation dazu leistet, kann vollkommen in das Zusammenleben mit anderen integriert werden. Ein großer Teil unseres Leidens am Leben liegt in den Beziehungen zu anderen. Wir können nicht ernsthaft erwarten, dass individualistische Philosophien und Übungen in der Abgeschiedenheit den Schmerz und die Verwirrung direkt angehen, die zwischen zwei Menschen oder in der Gesellschaft insgesamt entstehen. Und wir können auch nicht erwarten, dass irgendwelche Solo-Unternehmungen uns einen direkten Weg liefern, der uns mit Gelöstheit1 und Verständnis in unseren Beziehungen belohnt. Wir müssen den spirituellen Weg grundsätzlich zwischenmenschlich verstehen lernen und brauchen eine für die Arbeit in zwischenmenschlichen Beziehungen gezielt weiterentwickelte Meditationspraxis.2 Das vorliegende Buch handelt von solch einer Sichtweise und solch einem Weg.
Wir meditieren allein, aber wir leben unser Leben mit anderen Menschen; eine Kluft ist unvermeidlich. Wenn unser Weg zu weniger Leiden führen soll, und viel von unserem Leiden hat mit anderen Menschen zu tun, dann müssen wir vielleicht unser ausschließliches Engagement für diese individualistischen Praktiken einmal hinterfragen. Allein zu meditieren verstärkt eine unreflektierte Annahme: dass die tief greifende Arbeit des Erwachens eine Privatangelegenheit sei. Von dieser Annahme ausgehend, legen wir uns ein Bild des Weges zurecht – von seiner prinzipiellen Richtung und seinen Details –, das Vereinzelung und Innerlichkeit favorisiert. Weil wir als Individuen meditieren, fehlt uns eine Praxis, die ausdrücklich den zwischenmenschlichen Bereich anspricht. Vielleicht haben wir das vage Gefühl, dass etwas nicht stimmt, aber was fehlt, sehen wir nicht. Wir sind uns nicht im Klaren, dass der persönliche und der zwischenmenschliche Weg grundlegend zusammenhängen, und wir wissen auch nicht, wie leicht und sogar elegant die beiden sich verknüpfen lassen. Eine breitere Perspektive steht uns offen. Es ist so einfach.
Jede Art von Meditation hilft uns, ruhiger zu werden, bewusster zu sehen, was in uns vorgeht, und Schwierigkeiten ehrlich und ohne Widerstand zu begegnen. Meditation beinhaltet sowohl das gezielte Üben von stiller Besinnung3 wie auch einen Lebensstil der Achtsamkeit und Sorgfalt.
Wenn wir alleine meditieren, sind wir vielleicht ein paar Minuten oder ein paar Tage still, wobei wir zum Beispiel beim Atem oder einer Qualität des Herzens verweilen. Wir kommen zur Ruhe; der Geist wird klar und still. In der Ruhe der individuellen Meditation nehmen wir wahr, wie leidvoll unser Verhältnis zu uns selbst ist. Wir bemerken, wie leicht wir uns in automatischen Gedanken und Emotionen verlieren. Wir bemerken körperliches Leiden, unser ganz persönliches Gieren nach etwas, unsere Angst und Verwirrung. Vor dem Hintergrund einfacher Bewusstheit4 werden unsere Sehnsüchte und Ängste – unsere Kämpfe, Lustgewinn zu erreichen und Schmerz zu vermeiden – drastisch sichtbar. Wenn wir den Stress sehen, der mit der Befriedigung unserer Wünsche verbunden ist, ahnen wir, wie wir viele unserer Probleme aus reiner Gewohnheit selbst fabrizieren, und beginnen, diese Gewohnheiten abzubauen. Wenn die individuelle Praxis sich vertieft, kann sie uns echte Ruhe bringen. Wir bekommen einen Vorgeschmack der Freiheit. Aber ob wir Meditation nun in der Abgeschiedenheit oder individuell für uns, aber zusammen mit anderen Meditierenden in einer Meditationsgruppe oder im Retreat praktizieren: Individuelle Meditation spricht die Verwirrung und den Schmerz in unseren Beziehungen nur indirekt an.
Wenn wir gemeinsam meditieren, wie es beim „Einsichts-Dialog“ der Fall ist, entfaltet sich derselbe Prozess – mit zwei erheblichen Unterschieden. Zwischenmenschliche Meditation enthüllt das Leiden, das in unseren Beziehungen und in der Gesellschaft insgesamt steckt, viel direkter. Sie ist außergewöhnlich wirksam bei der Enthüllung von Wünschen und Ängsten in Bezug auf das Gesehen-Werden, die Dynamik von Einsamkeitsgefühlen und die mächtigen, aber verborgenen Prozesse, mit denen wir ein Selbstbild konstruieren. Zwischenmenschliche Meditation liefert uns auch einen direkteren Weg, die Knoten hinter Leiden und Verwirrung in Beziehungen zu lösen. Ihre Dynamik ist ähnlich wie die der traditionellen individuellen Meditation: Schritt für Schritt kultivieren wir Achtsamkeit und stille Besinnung; diese Qualitäten ermöglichen uns, die in jedem Moment sich verändernde Natur des Erlebens wahrzunehmen; was wir dann erkennen, macht uns frei. Weil aber zwischenmenschliche Meditation mit dem Erlebnis der Interaktion mit anderen arbeitet, das sich in jedem Moment ändert, trägt es die befreiende Dynamik der Meditation in unser zwischenmenschliches Leben. Von da aus sickert es in die gesamte Gesellschaft.
Im Einsichts-Dialog – ob in einem Retreat oder in einer wöchentlichen Gruppe – entfaltet sich eine simple Praxis: Nach einer gewissen Zeit der stillen Meditation im Sitzen werden die Teilnehmer gebeten, in Paaren oder größeren Gruppen über ein Thema wie zum Beispiel Veränderung, Tod oder Zweifel nachzudenken. Es gibt ein paar grundlegende Anweisungen dazu, wie man innehält, um achtsam zu sein, und sich angesichts impulsiver Reaktionen entspannt. Beim Einsichts-Dialog stoßen die Meditierenden auf mehr Anreize, zu reagieren oder etwas festhalten zu wollen, als in stiller Praxis. Parallel zu dieser Herausforderung entdecken sie ein einmaliges Geschenk: dass man sich gegenseitig dabei unterstützen kann, die Dinge zu sehen, wie sie wirklich sind. Weil die Leitlinien, die Praxis und die Einsichten alle die Dynamik der Beziehungen zu anderen Menschen ansprechen, folgen sie uns ganz leicht und natürlich in unseren Alltag. In der Interaktion mit einem Arbeitskollegen erinnern wir uns spontan daran, zu entspannen, oder wir bemerken, wie wir uns in einer Unterhaltung positionieren, oder sehen mit Klarheit und Mitgefühl unser eigenes krampfhaftes Festhalten an irgendetwas. Wir lernen auch, hinter dem Gezeter menschlicher Begegnungen den Funken klarer Bewusstheit zu erkennen. Jeder Moment menschlicher Interaktion wird zu einem Element des Weges zum Erwachen.
Die Gruppenpraxis des Einsichts-Dialogs ist ortsunabhängig realisierbar: Eine Praxisgruppe kann man überall gründen. Einsichts-Dialog-Gruppen können sich einmal pro Woche treffen; ein typischer Anfang besteht darin, die Ziele und Methoden der Praxis gemeinsam durchzugehen. In Stille und jeder für sich meditieren wir eine gewisse Zeit und lassen den Rummel unseres Alltags los. Dann werden wir eingeladen, einen Partner zu suchen, und bekommen neue Anweisungen. Wir bekommen ein Thema zum Nachdenken, normalerweise ein Problem aus dem alltäglichen Leben, das wir im Lichte der Weisheit betrachten, die aus einer fundierten spirituellen Tradition stammt. Während dieses Nachdenkens sind wir eingeladen, in gewissen Abständen immer wieder innezuhalten, gewohnte Geschichten und Routine-Reaktionen loszulassen und in den gegenwärtigen Moment des zwischenmenschlichen Kontakts Achtsamkeit einzubringen. Eine Glocke ertönt, und wir begeben uns so achtsam wie möglich in die zwischenmenschliche Praxis.
Sofort sprudeln Geschichten los. Wir finden unsere eigenen Geschichten und die unserer Meditationskollegen fesselnd, manchmal bewegend. Wir bilden uns ein Urteil über die Geschichten, die handelnden Personen, darüber, wie sie erzählt sind. Unsere Sprechgewohnheiten reißen uns mit; wir sehen, wie wir nach den Emotionen greifen, die diese Begegnung in uns weckt. Eine Glocke ertönt, und jeder wird still. Unterbrochen im gewohnten Weiterspinnen des Fadens, finden wir in der Achtsamkeit wieder unser Zuhause. Wir merken, wie unsere Gedanken und Emotionen gewuchert sind. Die Achtsamkeit stabilisiert sich ein wenig, wir beruhigen uns und lassen den Geist in schlichtem körperlichem Gewahrsein oder beim Atem zur Ruhe kommen. Wenn die Glocke wieder ertönt, begegnen wir wieder unserem Partner im Dialog. Aufregung und Identifikation entstehen immer noch schnell, aber bald fangen wir an, von alleine innezuhalten, ohne die Erinnerung durch die Glocke. Wir haben auch die Unterstützung unserer gegenseitigen Praxis: Auch unsere Partner fangen an, von alleine innezuhalten, und bringen uns, wenn unser Denken wandert, in den Moment zurück.
Am Ende eines einzigen Praxisabends haben wir Dutzende Male innegehalten. In unseren Alltag nehmen wir eine Bewusstheit mit, dass es möglich ist, innezuhalten und sich nicht zu identifizieren mit den Wucherungen unseres Herzens. Während wir uns in unsere alltäglichen Beziehungen begeben, entdecken wir manchmal, wie wir spontan innehalten, unser Erleben ohne Widerstand akzeptieren und andere in unser Feld der Achtsamkeit mit einbeziehen. Bei der Arbeit und zu Hause, wie auch in unserer wöchentlichen Praxisgruppe, finden wir Möglichkeiten, geistige Flexibilität zu kultivieren; wir beginnen uns mühelos von der innerlichen Achtsamkeit zur Achtsamkeit auf andere hinzubewegen.
Im Retreat ist der Einsichts-Dialog eine konzentriertere Form zwischenmenschlicher